Kommentar: Ok, dieses Mal ein paar einleitende Worte noch vorweg: Die Story ist länger geworden, als geplant. Ganz ursprünglich sollte sie nur "eine kleine Story zwischendurch" werden, und irgendwann mittendrin hatte ich eine Länge von fünf Kapiteln plus Pro- und Epilog im Sinn. So, wie es aussieht, wird es jetzt (voraussichtlich) noch ein Kapitel mehr.

Spoiler für die Folge "Der Mann mit dem Messer", aber eigentlich nur unbedeutend. Es ist nicht unbedingt nötig, die Episode zuvor gesehen zu haben.

Dieses Mal ein ganz besonders großes Dankeschön an meine Beta Readerin Lelaina! Ich fühlte mich bezüglich diesen Teiles sehr verunsichert und sie hatte zum einen aufmunternde Worte und zum anderen war sie mit anderen Sachen, die ihr nicht gefielen, sehr ehrlich! Dafür bin ich dir sehr dankbar, Lel! Dass sie auch noch nebenbei jede Menge Fehler korrigiert hat, brauche ich glaube ich schon gar nicht mehr zu erwähnen, nichts Neues ;-)

Restliche Kommentare, Disclaimer usw. entnehmt ihr bitte dem ersten Teil. Viel Spaß


Kapitel 5


Vor etwa einer Woche

Trotz des trüben Wetters und der anhaltenden Regenfälle trug Jim eine Sonnenbrille. Es hatte mittlerweile langsam angefangen zu dämmern und er musste sich beeilen. Jedes Mal, wenn ihm ein Wagen entgegen kam, blendete dessen Licht seinen empfindlichen Augen und er zwang sich dazu, sie kurz zu schließen. Dies und die Tatsache, dass er selber kein Licht am Auto angeschaltet hatte, war sicher nicht die sicherste Art und Weise, auf einer Bergstraße entlang zu fahren, aber er hatte keine andere Wahl. Seine Augen brannten vor Schmerzen und er spürte, wie seine Konzentration nachließ.

Die Ohrenstöpsel mit Geräuschdämpfer trug er noch neben Watte in beiden Ohren und dennoch zuckte er bei jedem Auto zusammen, das an ihm laut vorbeirauschte. Zumindest kam es ihm laut vor. Schmerzlich laut.

Trotz Schwüle trug er seine Lederhandschuhe. Sie trugen auf seiner empfindlichen Haut unangenehm auf, aber fühlten sich dennoch besser an als das raue Lenkrad.

Leise, für jeden anderen wäre es nicht wahrnehmbar, hörte er aus dem Kassettendeck seines Wagens ein Band ab, auf dessen Ton er sich verbissen konzentrierte. Es war eine überspielte Aufnahme des Anrufbeantworters. Jim hörte die Stimme seines Guides, wie er immer und immer wieder in einer Endlosschleife vom Flughafen aus anrief und sich bei seinem Sentinel und Freund verabschiedete. Es zerriss Jim fast jedes Mal das Herz, wenn er Blair schluchzen hörte, aber es gab keine andere Möglichkeit für ihn, seine Sinne so weit unter Kontrolle zu behalten, dass er halbwegs zum Fahren in der Lage war. Blair hatte ihm nichts anderes zurück gelassen und schließlich war es immer die Stimme seines Guides gewesen, die ihn festigte und dafür gesorgt hatte, dass er nicht durchdrehte mit seinen schwer kontrollierbaren Sinnen.

Aber eigentlich war es nicht Blairs Stimme, sondern dessen Anwesenheit, die dafür gesorgt hatte, dass Jim "bei Sinnen" gewesen war.

Und wieder spürte Jim diesen Schmerz des Verlustes, den er schon seit Monaten mit sich herum trug. Er vermisste Blair nicht nur seiner fehlenden Kontrolle bezüglich seiner Sinne wegen, sondern auch als Freund, als Kumpel und als Seelenverwandten.

Was er sich von diesem kleinen Ausflug erhoffte, wusste er auch noch nicht so genau. Die letzten Monate hatte er mit dem Versuch verschwendet, seine Sinne los zu werden. Wie hatte Incacha es ihn einmal gelehrt? Ein Sentinel wird immer ein Sentinel sein - solange er sich dazu entschließt. Damals hatte er sich daraufhin gewünscht, seine Sinne sollten verschwinden und den Morgen darauf waren sie weg gewesen. Wieso klappte es dieses Mal nicht? Wieso musste er sich weiter damit herumplagen? Denn mehr war es doch nicht mehr. Vorher hatte er sie schon immer als eine Last, als eine Bürde empfunden. Manchmal waren sie nützlich gewesen. Aber jetzt? Jetzt wurden sie zur Tortur. Sie waren ein lebendig gewordener Alptraum.

Es war Jim kaum noch möglich, die Wohnung zu verlassen. Das Licht war draußen zu grell und die Geräusche unerträglich laut. Ständig waren sämtliche Fenster verhangen und die Jalousien zugezogen. Einmal hatte jemand bei ihm versucht, in die Wohnung einzubrechen, weil man geglaubt hatte, die Wohnung wäre leer und verlassen gewesen. Er war den Menschen in seinem Umfeld aus den Weg gegangen.

Das Essen war ein weiteres Problem. Seine empfindlichen Geschmacksknospen vertrugen die meisten Bestandteile nicht. Er musste sich mittlerweile fast nur noch auf flüssige Nahrungsaufnahme beschränken. Weiter ging es mit der Kleidung, es kam ihm vor, als würde sie ihm seine Haut zerkratzen. Und dann war da noch der beißende Geruch des Putzmittels oder Abgase der Autos, die durch das Fenster hinein kamen.

Und das alles war in Jims Augen kein Leben mehr.

Also wusste er nicht, was er sich wirklich von diesem Besuch in der Hütte erhoffte.

Zumindest wollte er es sich nicht eingestehen. Er wusste instinktiv, was er sich vorgenommen hatte. Er wollte ein für alle Mal diese Sinne los werden, koste es, was es wolle.

Diese Hütte - er kannte sie noch aus seiner nicht gerade liebevollen und erinnerungswürdigen Kindheit. Er war damals fünf gewesen, als er mit seinen beiden Elternteile hier das erste Mal einen Urlaub verbracht hatte, an den er sich auch erinnern konnte. Sein Bruder Steven war damals gerade mal zwei gewesen. Eines Nachmittags hatte er sich im Wald verirrt, nachdem er sich mit seinem Vater gestritten hatte. Er wusste schon gar nicht mehr, worüber es gegangen war, er konnte sich aber noch gut an die Stunden allein inmitten des Heers der riesigen und im Dunkeln bedrohlich aussehenden Bäume erinnern. Jeder hatte gleich ausgesehen und den Waldweg hatte er schnell aus den Augen verloren.

Ängstlich war er durch das Dickicht des Waldes geirrt. Und in dieser Nacht, in der er völlig auf sich allein gestellt war, musste es geschehen sein. Jim konnte sich nur sehr wage daran erinnern, wie an vieles aus seiner Kindheit, aber diese Nacht war die Geburtsstunde des Sentinels in ihm gewesen. Blair hatte Recht, als er ihm einmal gesagt hatte, dass eine temporäre Isolation in ihm den Wächter hervorgerufen hätte. Aber es war nicht Peru. Es war eine dunkle, kalte Nacht im heimischen Waldgebiet im Leben eines 5-jährigen...

Endlich erreichte Jim sein Ziel. Vielleicht konnte er nur hier - an dem Geburtsort seiner erhöhten Sinne - seinen Ballast loswerden. Vielleicht konnte er sich endlich hier von seiner Qual befreien.

Er stellte den Wagen am Rande des Waldeingangs ab und atmete einmal tief durch. Ein Hustenanfall ließ ihn dies aber sofort wieder bereuen. Zwar gab es bei diesem regnerischen Wetter kaum umherfliegende Blütenpollen, aber es reichte seinen empfindlichen Atemwegen.

Nachdem er sich wieder gefangen hatte, nahm er sich seinen Rucksack und begab sich auf eine Wanderschaft in seine Vergangenheit...




Gegenwart

Die Suche nach Jim blieb trotz mehrmaligem Auf- und Abfahren der Bergstraße erfolglos. Müde und demoralisiert fuhren Simon und Blair zurück nach Cascade. Erst dann fiel Blair auf, dass er nicht wusste, wo er schlafen sollte. Simon überredete ihn, in Jims Loft zu übernachten und fuhr ihn dort hin. Zusammen trugen sie Blairs Gepäck hinauf in die Wohnung. Da Simon für alle Fälle einen Zweitschlüssel der Wohnung besaß, kamen sie ohne Probleme hinein.

In der in Dunkelheit gehüllten Wohnung standen nur noch wenige Möbel, die fast alle mit weißen Laken verkleidet waren. Es hingen keine Bilder mehr an den Wänden, die Tische waren leergeräumt und die gesamte Wohnung wirkte steril. Sie wirkte kalt und unbewohnt.

Blair ließ seinen Blick über sein altes Zuhause schweifen und erkannte es nicht wieder.

"Puh, sieht nicht so aus, als hätte Jim vorgehabt, so schnell wieder zurückzukommen", sprach Simon aus, was auch Blair schon heimlich gedacht hatte.

Sandburg blickte mit besorgtem Gesichtsausdruck zum größeren Captain hinauf. "Glauben Sie, er ist vielleicht absichtlich spurlos verschwunden?", flüsterte er ängstlich.

Simon seufzte. Das hatte er sich schon oft zuvor selber gefragt, aber das konnte er nicht glauben. Oder wollte er es nicht? Es war einfach nicht Jims Art. Andererseits war Jim aber in den letzten Monaten nicht mehr er selbst gewesen... "Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Irgendein Gefühl sagt mir, dass er in Schwierigkeiten steckt."

Blair nickte. Dieses "Gefühl" begleitete ihn schon seit Mexiko, als Simon ihn über Jims Verschwinden informiert hatte.

Zu beider Überraschung war Blairs Zimmer unberührt geblieben. Alles lag und stand noch so, wie Blair es zurück gelassen hatte. Sein ehemaliges Bett, der Schreibtisch und die Regale waren die einzigen Möbelstücke im ganzen Loft, die nicht verhüllt waren.

Entkräftet legte sich Blair etwa eine Stunde später in sein altes Bett, in dem er schon über ein Jahr nicht mehr geschlafen hatte. Simon war kurz nach seiner Ankunft wieder gegangen und Blair hatte sich noch eine Kleinigkeit zu Essen bestellt, weil sein Magen bereits seit Stunden rebelliert hatte. Appetit hatte er zwar keinen gehabt, aber das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, war ein Kollaps, weil er zuvor nicht genug gegessen hatte. Ganz zu schweigen von dem Schlafentzug und dem Stress der letzten Tage.

Zu seinem Erstaunen schlief er aber schnell ein...

...und wachte inmitten eines dunklen und dichtbewachsenen Waldes wieder auf.

Er stand langsam auf und versuchte durch den Schleier der Dunkelheit seine Umgebung näher zu betrachten. Blair konnte kaum seine Hand vor den Augen erkennen, aber hatte das Gefühl, er müsste etwas in der Finsternis aufsuchen.

Ein kleines Käuzchen durchbrach die Stille der Nacht mit seinem Ruf und Blair bekam eine Gänsehaut. Vorsichtig tastete er sich voran und stolperte mehrmals über freiliegende Wurzeln.

Plötzlich erschien ein tiefschwarzer Schatten vor ihm und Blair glaubte, die Kontur einer großen Katze zu erkennen. Ein schwarzer Jaguar, Jims Spiritguide, fuhr es Blair durch den Kopf und er war sofort fasziniert von der Vorstellung, eine Vision zu haben und sie sogar bewusst zu erleben.

Der Panther wandte sich ab und lief Blair voraus, der ihm willig folgte. Schließlich öffnete sich die dichte Wolkendecke am Himmel und silbriges Licht schien durch die Baumwipfel. Plötzlich glaubte der Guide ein Geräusch zu hören, dass nicht in den Wald gehörte. Es war ein Mensch. Blair hörte deutlich das Wimmern eines Kindes. Und nur wenige Meter weiter hockte am Fuß eines großen Baumes ein kleiner Junge, der ängstlich weinte.

Der etwa 6-jährige wippte vor und zurück, um sich zu beruhigen. Seine Arme umschlossen seine Beine, die er fest an seine Brust gezogen hatte, und sein Gesicht vergrub er hinter seinen Knien.

Vorsichtig hockte sich Blair in respektvollem Abstand vor den Jungen, um ihn nicht zu verschrecken. "Hey", flüsterte er in einem beruhigenden Ton. Gleichzeitig versuchte er, einen Blick auf das Gesicht des Kindes zu erhaschen.

Schließlich blickte der Junge auf und direkt in seine Augen. Blair ging ein paar Zentimeter näher heran. Diese Augen. Sie kamen ihm bekannt vor...

"Hast du dich verlaufen?", fragte Blair behutsam weiter.

Der Junge antwortete nicht und blickte schließlich an Sandburg vorbei. Blair drehte sich um, um nachzusehen, was das Interesse des Kindes geweckt hatte.

"Jim?" Vor ihm befand sich die Gestalt seines vermissten Freundes. Der Sentinel blickte ihn mit eiskalten Augen an. Dann wandte er schließlich seinen Blick vom Guide ab und er begann, den Jungen anzustarren.

Mit diesem Moment wurde Blair plötzlich bewusst, von woher ihm die Augen des Kindes bekannt vorkamen: Dieser Junge war Jim! Blair drehte sich wieder zu dem Jungen um - Jimmy, wie der Sentinel damals von Familie und Freunden genannt wurde. Dessen Augen waren im Gegensatz zu der erwachsenen Gestalt des Sentinels sehr gefühlsbetont: Angst, Verwirrung, Hilflosigkeit und Verzweiflung spiegelten sich in ihnen wider.

Blair kehrte sich wieder seinem großen Freund zu, aber blickte nur ins Leere. Er war verschwunden. Dann blickte er erneut zu Jimmy hinab und in seine großen, hilfesuchenden Augen.

Er reichte der jüngeren Version seines besten Freundes seine Hand und der Junge zögerte, aber nahm sie und ließ sich von Blair hochziehen. "Alles wird gut, Jimmy", beschwichtigte Blair ihn flüsternd.

Plötzlich veränderte sich von einer Sekunde auf die andere die Umgebung und sie befanden sich in einem kleinen Schlafzimmer. In dem einzigen Bett des Raumes, das in Schatten gehüllt lag, befand sich eine Person. Vorsichtig trat Blair näher an das Bett. Klein Jimmy hielt sich ängstlich an ihm fest, indem er seine Arme mit festem Griff um Blairs Hüfte schlang.

Die Figur im Bett war zu Blairs Entsetzen ein sehr blasser und krank aussehender Jim Ellison. Kalter Schweiß bedeckte Jims Gesicht, das durch schmerzerfüllte Züge gezeichnet war, und Blair konnte am freiliegenden Oberarm des Sentinels mehrere Einstichlöcher erkennen.

Jimmy wandte sich ab und begann zu zittern. Blair handelte schnell und zog den Jungen von dem Bett weg. Er kniete sich vor ihn und wollte ihn gerade beruhigen, als Jimmy plötzlich zusammenzuckte und seine Augen zusammenpresste. Zugleich hielt er sich seine Ohren zu und fing an, laut los zu schreien. Blair nahm Jimmy in seine Arme und wiegte ihn leicht, während er ihm so leise wie möglich aufmunternde Worte zuflüsterte und versuchte, ihm zu helfen, wie immer, wenn Jims Sinne überfordert waren.

Aber Jimmy begann wild um sich zu schlagen und so laut zu schreien, dass es selbst Blair in den Ohren schmerzte.

Plötzlich sackte Jimmy in seinen Armen zusammen und wurde still. Blair benötigte keine Sentinel-Sinne, um zu erkennen, dass Jimmys kleines Herz nicht mehr schlug. Geschockt und fassungslos starrte er den regungslosen Körper in seinen Armen an...




"Sandburg, kommen Sie, oder was?"

Blair zuckte zusammen und blickte verdutzt in das Gesicht des Captains. "Komme", murmelte er und schnallte sich eilig ab.

"Was ist? Vorhin ging es Ihnen noch nicht schnell genug", maulte Simon herum und schloss seinen Wagen ab, nachdem Blair endlich ausgestiegen war. "Immerhin war es Ihre Idee, hier her zu kommen."

Blair erwiderte nichts und lief neben der großen Gestalt des Captains zum Haupteingang des prächtigen Gebäudes. Vor der Tür hielt Simon inne und schüttelte grinsend den Kopf.

Blair blickte ihn verwundert an. "Was? Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?"

"Nein", erwiderte Simon noch immer grinsend. "Eher das Gegenteil. Und das ist es, was mich so verwundert. Sie haben die Fahrt über bis einschließlich jetzt kaum einen Laut von sich gegeben." Banks musterte Blair kritisch. Sandburg sah noch immer übermüdet aus und war auch etwas blass um die Nase. Und er schwieg. "Bis auf Ihr Geschwafel von diesem komischen Traum. Muss ja besonders beeindruckend gewesen sein, wenn Sie so stark über ihn grübeln."

Achselzuckend schenkte Blair Simon nur einen flüchtigen, nervösen Blick. "Ich bin nur etwas in Gedanken versunken." Er wusste, Simon würde das nicht verstehen. Die Sentinel-Sache hatte Simon noch nie richtig tiefgründig interessiert. Es reichte ihm, das Grundlegende zu wissen. Den Rest überließ er Jim und Blair - soweit es natürlich nicht die Arbeit beeinträchtigte, denn dann wurde es auch zu Simons Angelegenheit.

Blair witterte, dass Simon näher darauf eingehen wollte, und klingelte schnell an der Tür, um weitere Diskussionen zu verhindern.

Ein etwa Ende sechzig Jahre alter, grauhaariger Mann in einem braunen Pullunder, weißem Hemd und dunkelbrauner Cord-Hose öffnete ihnen. "Guten Morgen", begrüßte er die beiden schlicht.

"Guten Morgen Mr. Ellison. Mein Name ist Captain Simon Banks. Mr. Sandburg kennen Sie ja bereits", stellte Simon sich selber und Blair flüchtig vor. "Wir möchten Sie nicht unnötig stören, aber..."

William Ellison nickte nur. "Ich weiß, Sie haben noch Fragen. Ich hatte schon mit Ihnen gerechnet. Ehrlich gesagt war ich etwas verwundert, als Sie mir ein paar von Ihren Männern geschickt hatten, anstatt selber vorbei zu kommen. Ich weiß, sie sind ein guter Freund von Jimmy." Dann sah William zu Blair hinab. Diesem war der vorwurfsvolle Blick des Vaters seines vermissten Freundes unangenehm und er fand plötzlich ein großes Interesse an seinen Schuhen.

Schließlich wandte William seinen Blick wieder ab. "Kommen Sie doch herein." Er ließ die zwei Männer an sich vorbei in die Wohnung und führte sie in das große Wohnzimmer. Dort nahmen Simon und Blair auf einer cremefarbenen Couch vor einem großen Kamin platz.

Blair ließ seinen Blick über die Kinderfotos schweifen, die liebevoll eingerahmt über dem Kamin hingen. Es stockte ihm der Atem, als er einen etwa 6-jährigen Jimmy sah, stolz wie Oscar über ein gespaltenes Stück Brennholz stehend und die Axt in Pose haltend. Blair stand auf und ging zum Kamin rüber, um sich das Bild genauer zu betrachten, dabei bemerkte er nicht den neugierigen Blick des Captains und die hochgezogene Braue von Ellison Senior.

Es war klar eine Holzhütte hinter Jimmy zu sehen und Blair holte seine Brille heraus, um sicher zu gehen, dass es die war, in der er erst gestern nach Jim gesucht hatte.

Mit einem Blick, der Bände sprach, wandte sich William schließlich Simon zu. Es war klar in seinen Augen zu erkennen, dass er Blair nicht viel Achtung schenkte. "Nun Captain, wollten Sie mich nicht etwas fragen?"

Simon sah kurz zu seinem Gegenüber zurück und deutete dann mit seinem Kinn in Richtung Blair, während er sprach. "Eigentlich wollte Mr. Sandburg Ihnen einige Fragen stellen. Es war seine Idee, hier her zu kommen."

Wieder zog William eine Augenbraue hoch und musterte Blair skeptisch. Dieser wurde bei der Erwähnung seines Namens wieder an sein eigentliches Anliegen erinnert und drehte sich zu den beiden anderen Personen um.

"Von wann ist dieses Foto?", hakte er neugierig nach und deutete auf das Bild, in dem Jim mit der Axt posierte.

Etwas überrascht antwortete William: "Das war unser erster, gemeinsamer Urlaub seit Stevies Geburt. Es ist außerdem bei der Hütte aufgenommen worden, zu der Jimmy eigentlich wollte, wenn es das ist, was Sie so daran interessiert."

Blair ermutigte William mit einem Nicken fortzufahren und ignorierte dessen herablassenden Ton.

"Jimmy war damals fünf, Stevie zwei", erklärte William weiter. Dann starrte er plötzlich auf seine vor sich gefalteten Hände und sprach leiser: "Das war der letzte Sommer, bevor... bevor Grace - meine Frau - uns verlassen hatte..."

Simon und Blair warfen sich betretene Blicke zu.

Dann sah William Blair wieder fest in die Augen. "Das Bild, es ist an dem ersten Tag unseres Urlaubs aufgenommen worden."

Blair war überrascht über den plötzlichen Wandel von der gefühlsbetonten Aussage über den Weggang von Mrs. Ellison und hin zu dem wieder gefestigten und bestimmten Blick und Ton des älteren Mannes. Nun wusste er wenigstens, woher Jim diese Taktik so gut beherrschte.

"Das ist schon lange her und Sie können sich noch so genau daran erinnern, dass diese Aufnahme von dem ersten Tag stammt?", hakte Blair interessiert nach. Er witterte noch eine kleine Überraschung. Noch hatte er nicht erfahren, wonach er suchte.

Als er das Aufblitzen in Williams Augen sah, wusste er, er war auf etwas gestoßen. Aber wie sein Sohn war William ein Meister darin, seine Gefühle nicht zu offenbaren und für sich zu behalten. Blair schielte zu Simon hinüber, der unbeteiligt dem Gespräch zugehört hatte und offenbar noch versuchte, seine eigene Meinung von alle dem zu bilden.

"Nun, am ersten Tag war Jimmy noch gut drauf. Später begann alles, wild zu werden...", erwiderte William wiederwillig. Man konnte nun klar an seinem Ton hören, dass mehr hinter seinen Worten steckte, als er vorgeben wollte.

"Wild?", fragte nun Simon nach und nahm Blair damit das Wort aus dem Munde.

"Ähm, ja. Jimmy und ich... wir hatten an dem gleichen Abend noch eine, ähm, Auseinandersetzung. Und er brauste wütend davon. Um sich abzureagieren, verstehen Sie?"

Simon und Blair nickten und ermunterten William damit, weiter zu erzählen.

"Nun, er erschien daraufhin nicht zum Abendessen und Grace begann, sich Sorgen zu machen. Kurze Zeit später begannen wir den ganzen Wald abzusuchen, aber er war unauffindbar und erst am nächsten Morgen..." William unterbrach sich selbst, als er Blair weitaufgerissene Augen sah.

"Jim hatte sich im Wald verlaufen?"

William nickte. "Ja. Wir fanden ihn erst am nächsten Morgen wieder."

Aufgeregt fragte Blair weiter: "An dem Morgen danach... Erschienen Jims Sinne an diesem Tag das erste Mal?"

William starrte Blair schockiert an. Woher wusste er davon? Wenn Jimmy ihm von dieser Nacht erzählt hätte, hätten die beiden nicht hier zu ihn fahren müssen. Also, wie kam Sandburg zu dieser Schlussfolgerung. "J-ja", stotterte er unbeholfen. Jahrelang hatte er Jimmys Sinne der Umwelt verschwiegen. Selbst Jimmy hatte er immer und immer wieder beteuert, dass er sich das alles nur einbilden würde.

Blair nickte wieder und William erkannte in seinem Gesichtsausdruck, dass er nicht darüber überrascht war, das zu hören. Es war gerade so, als hätte er es erwartet, als wäre er nur dieser einen Frage wegen zu ihm gekommen.

"Ist sonst noch etwas Auffälliges passiert?" Blair glaubte nicht, dass noch mehr Informationen aus Jims Vater heraus zu holen waren, aber er wollte keine Chance unversucht lassen. William schüttelte nur stumm den Kopf.

"Simon, ich denke, wir können wieder gehen. Außer, Sie haben noch ein paar Fragen?"

Captains Banks sah schockiert zu Blair hinüber. Auch er war von Sandburgs Ruhe und Gelassenheit fasziniert und wie zielstrebig er die Fragen gestellt hatte, ohne dass Simon verstand, worum es eigentlich ging und was dies alles Jim bringen sollte. Und es war, als hätte Blair dies alles geahnt...

Simon stand auf und er und Blair verabschiedeten sich von dem noch immer sprachlosen William. "Ich hoffe, ich war eine Hilfe", murmelte Jims Vater schließlich, als er die beiden zur Tür geleitete.

Blair drehte sich zu ihm um: "Das waren Sie, danke Mr. Ellison."

Plötzlich erkannte William, dass hinter Blair Sandburg vielleicht doch mehr steckte, als er geglaubt hatte. Als er die Sentinel-Sache in der Presse mitverfolgt hatte, hatte er angenommen, Sandburg hätte Jim nur für eine gute Publicity ausgenutzt. Die abschließende Pressemitteilung hatte ihn zwar verwundert, aber zugleich hatte er in sich hineingelacht. Sein Sohn hatte diesem Sandburg offensichtlich ordentlich die Leviten gelesen, wenn er daraufhin vor die Presse getreten war und behauptet hatte, er wäre ein Lügner.

Mittlerweile war sich William nicht mehr so sicher. Er sah Blairs aufmunterndes Lächeln und erkannte in seinen Augen zugleich Besorgnis - Besorgnis um seinen besten Freund. Und er schien tatsächlich Ahnung zu haben, von dem, was Jimmy plagte - im Gegensatz zu ihm.

"William", bot er Blair an und streckte ihm seine Hand hin.

Überrascht ergriff Blair die Hand und lächelte erleichtert. "Blair", erwiderte er etwas nervös. "Es war schön, Sie endlich kennen zu lernen."

William nickte nur. Bei ihrem letzten und zugleich ersten Treffen vor ein paar Jahren hatten sie nur sehr flüchtig Bekanntschaft geschlossen. Er war damals zu hilflos und erschöpft gewesen, um zu erkennen, wer ihm damals eine Schulter lieh und zu seinem Sohn Jimmy geführt hatte. Als es ihm später bewusst geworden war, wer ihm geholfen hatte, hatte er sich darüber keine weiteren Gedanken gemacht.

Und nun blickte er in das Gesicht dieses Mannes, dem besten Freund seines Sohnes und zugleich auch dessen letzte Hoffnung.

Mit einem leichten Schauer über den Rücken schloss William die Tür hinter Simon und Blair. Daraufhin lief er zurück zum Kamin. Er starrte das Foto von Jimmy mit der Axt an und es stachen ihm Tränen in die Augen...




Vor etwa einer Woche

Der sanfte Ruf des Käuzchens schallte von weitem durch den Wald. Für Jim war es ein fast unerträgliches Dröhnen in seinen Ohren. Während er sich wünschte, jemand möge doch bitte diesen Vogel erschießen, schlich er leise durch das Dickicht des Waldes.

Es gab eigentlich keinen Grund für ihn, sich so leise zu verhalten. Aber zum einen dankten es ihm seine Ohren und zum anderen fühlte er sich auf eine merkwürdige Art und Weise in die Zeit im Dschungel zurückversetzt. Der Gurt des Rucksacks, den er über seine eine Schulter trug, wurde für ihn zum Bogen, den er im Dschungel oft mit sich genommen hatte. Seine Kleidung verwandelte sich in seiner Vorstellung in die, die er auch in Peru getragen hatte. Er glaubte sogar die schwarze Farbe in seinem Gesicht spüren zu können, die er sich damals oft aufgemalt hatte.

In seinen Wanderschuhen - die für ihn nun seine alten Militärstiefel waren - schlich er auf dem feuchten Untergrund durch das dichte Heer der hohen Bäume. Dabei zerbrach nicht ein kleiner Ast und er wurde seinem Spiritguide, dem Panther, gerecht, wenn dieser mit einer unglaublichen Geräuschlosigkeit durch das Dickicht des Dschungels schlich, um auf Jagd zu gehen.

Jim pirschte in seinem Wahn durch den halben Wald und vergaß alles um sich herum. Seine Sinne waren auf das Höchste angespannt, aber er besaß Kontrolle über sie. Kontrolle, wie er sie schon seit Monaten nicht mehr erfahren hatte.

Zuerst entfernte er einen Stöpsel nach dem anderen aus seinen Ohren. Dann nahm er die Sonnenbrille ab und steckte sie sich an den Kragen seines Hemdes. Schließlich zog er sich auch die ledernen Handschuhe aus. Nichts existierte mehr für ihn, nur der Wald. Das Grün der Bäume, das Rauschen des Laubes in dem sanften aber kühlen Sommerwind, ein paar Vogelschreie, einschließlich dem des Käuzchens.

Abrupt endete der Wald und Jim sah sich plötzlich auf dem kalten Asphalt einer Straße stehen. Vorbei war es mit dem Dschungel, seinem Bogen, dem friedlichen Zwitschern der Vögel und der Kontrolle seiner Sinne. All seine Sinne begannen plötzlich auf einmal in sich zusammenzufallen. Seine Ohren schmerzten, die Augen brannten und seine schutzlosen Hände scheuerten an dem Griff des Rucksacks, der schwer wie Blei auf seinem Rücken weilte. Es war ihm, als würde die ganze Welt über ihn zusammenstürzen.

Jim verfluchte sich innerlich dafür, dass er die Ohrstöpsel achtlos im Wald zurückgelassen hatte. Er setzte sich mit zittrigen Händen seine Sonnenbrille auf und versuchte, gekrümmt vor Schmerzen, zurück in den Wald zu gelangen. In den Schutz der Bäume.

Zu spät bemerkte er den Wagen, der plötzlich in seinem Blickfeld erschien. Das grelle Licht der Scheinwerfer blendete ihn und er hörte noch das ohrenbetäubende Quietschen der Reifen, bevor er mit einer enormen Wucht zu Boden geschleudert wurde. Schließlich ergab er sich mit einem erleichterten Seufzen der stillen Dunkelheit, die sich wie ein schützender Wall um ihn formte...


Zum 6. Kapitel


Feedback an die Autorin

Zu Mishales Fanfiction-Seite

Home

Erstellt im Internet Explorer 6.0 und abgestimmt auf Netscape 6.0 (jeweils im Vollbildschirm, 1024 x 768 Pixel Auflösung)