Simon Banks drehte sich zu dem schnell näherkommenden Wagen um, der schließlich nur wenige Meter vor ihm mit einer Vollbremsung zum Stehen kam. Es war ein gelbes Taxi aus Seattle und neben dem schroffen Fahrer saß ein blasser Blair Sandburg, der sich mit aller Macht an allen erdenklichen Stellen festklammerte, um nicht trotz Gurt aus dem Sitz geschleudert zu werden.
Der Captain schüttelte den Kopf und nahm sogar seine Zigarre aus den Mund. "Hey Sandburg. Ich hatte ja schon befürchtet, dass Sie nach meinen Anrufen so schnell wie möglich kommen würden, aber so schnell hatte ich Sie nicht erwartet. Ich hoffe, Ihr Fahrer hat keine Geschwindigkeitsbegrenzungen überschritten?" Simon lächelte verschmitzt und konnte durch die Windschutzscheibe des Taxis erkennen, dass der Fahrer ein ähnliches, selbstgefälliges Grinsen im Gesicht stehen hatte.
Blair bezahlte eilig den nicht gerade geringen Rechnungsbetrag inklusive kleinem Trinkgeld für die eilige "Zustellung" und stieg in den Regen hinaus, nachdem er sich noch von Coco dessen Telefonnummer hatte aufschwatzen lassen, falls er wieder mal nach Seattle kommen und es eilig haben sollte. Blair schnappte sich aus dem Kofferraum seine Taschen und stellte sie irgendwo in den Regen, währenddessen Coco wieder abbrauste.
"Schon 'was Neues von Jim?", waren Blairs erste Worte an seinen ehemaligen Vorgesetzten und Freund, den er schon ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte.
Simon schüttelte erneut den Kopf. "Ebenfalls schön, Sie wieder zu sehen, Sandburg."
Blair verdrehte die Augen. "Hi Simon." Dann suchte er die nähere Umgebung nach Simons Wagen ab. "Ähm, etwas dagegen, wenn ich meine Sachen in Ihren Wagen bringe?"
"Der Jeep dort hinten", erwiderte Simon nur und deutete mit der Zigarre in der Hand in die Richtung, wo der Mietwagen stand, mit dem er und Joel hier her gekommen waren. Schließlich gab er sich einen Ruck und half Sandburg mit dem Gepäck.
Vor knapp einem Jahr hätte er Sandburg am liebsten noch in der Luft zerrissen, für das, was er Jim angetan hatte. Aber jetzt, wo er ihn nach so langer Zeit wieder sah, konnte er nicht anders, als sich selbst eingestehen, dass er den quirligen und zugegeben auch manchmal hilfreichen Beobachter seiner Abteilung vermisst hatte. Vielleicht würde er sich bei der Suche nach Jim als nützlich erweisen. Kaum einer kannte Jim so gut wie Blair Sandburg.
"Na und, haben Sie etwas Neues von Jim?", hakte Blair ein weiteres Mal ungeduldig nach, während die beiden ungleichen Männer zusammen versuchten, Sandburgs Gepäck in den kleinen Kofferraum des Jeeps zu quetschen.
"Nein, leider nicht", erwiderte Simon traurig. "Er den Wagen dort stehen lassen", er deutete in die Richtung, wo der blau-weiße Pick-up stand, "und ist dann vermutlich zu Fuß zur Hütte gelaufen. Mittlerweile haben Brown und Rafe über die Besitzer der Hütte herausgefunden, dass Jims Vater diese schon oft in der Vergangenheit gemietet hatte. Sie wurde auch für diese Woche in seinem Namen gemietet. Aber die Besitzer haben nie mit Jim selber gesprochen. Zurzeit lasse ich Rafe und Brown zu Jims Vater fahren, um ihn zu fragen, ob er mehr dazu weiß. Zuvor war er uns leider keine große Hilfe."
Nachdem die Taschen so halbwegs im Jeep untergebracht worden waren, kehrte sich Blair zum Waldeingang um und blickte ängstlich auf den im Schlamm eingesackten 69er Ford. "Irgendwelche Anzeichen dafür, dass Jim die Hütte erreicht hatte?", hakte er schließlich ungeduldig nach.
Simon schüttelte den Kopf. "Nein, nichts. Wir nehmen an, dass ihn irgend etwas im Wald aufgehalten hat. Bei Jim kommt es wohl kaum in Frage, dass er sich verlaufen hat, vor allem, wenn der Pfad sehr gut sichtbar und ausgetreten ist."
Blair senkte den Blick und fragte leise nach. "Waren Sie schon dort?"
"Dort?", hakte Simon nach. "Wo 'dort'?"
"Na, in der Hütte. Oder sind Sie schon den Weg einmal persönlich entlang gelaufen? Irgend etwas?"
"Die örtliche Polizei hat die Hütte bereits untersucht und nichts gefunden. Außerdem lasse ich seit Stunden den Wald durchforsten", antwortete Simon. Es kam ihm gerade so vor, als würde Sandburg prüfen wollen, ob er an alles gedacht hatte und seine Arbeit richtig mache. Er wollte gerade etwas verärgert erwidern, als er feststellte, dass Blair nicht mehr neben ihm stand, sondern auf den Wald zu lief.
"Hey, wo wollen Sie hin?", schrie er dem kleineren Mann hinterher und hatte ihn mit ein paar großen, schnellen Schritten eingeholt.
Blair blieb kurz stehen und blickte zu Simon hinauf. "Na, wonach sieht das denn aus? Ich laufe zur Hütte. Irgend etwas muss ich ja tun. Vielleicht haben die etwas dort übersehen, was doch darauf hinweist, dass Jim dort war. Die Leute hier kennen Jim nicht - ich aber." Er lief an der großen Gestalt des Captains vorbei und verschwand mit seinem Rucksack über der einen Schulter hängend in den dichtbewachsenen Wald.
Simon wusste, dass Blair in erster Linie zur Hütte laufen wollte, um wenigstens irgend einen Beitrag bei der Suche nach Jim zu leisten. Er wollte sich auch selber davon vergewissern, was die Uniformierten bereits vor Stunden festgestellt hatten: Jim Ellison hatte nie diese verdammte Hütte erreicht. Aber vielleicht war es auch eine Sentinel / Guide Sache, die Blair dort hin trieb.
Mit einem lauten Seufzer gab sich Simon erneut einen Ruck. In wenigen Stunden würde die Dämmerung einbrechen. Neben dem Dauerregen kam es also noch zu einem Fall der Temperaturen bis zu einer empfindlichen Kälte. Er folgte Sandburg kurzerhand mit einer eigenen Ausrüstung, die für den Suchtrupp zur Verfügung stand.
Den Weg zur Hütte beschritten die beiden erst in Schweigen gehüllt. Man hörte lediglich die Schritte der beiden und etwas Vogelgezwitscher. Dann brach Blair mit traurig und leiser Stimme die Stille: "Ich hätte nicht weggehen dürfen..."
"Ja, das hätten Sie nicht", erwiderte Simon ungeniert.
Blair blickte kurz zu dem Captain hinauf, der wiederum auf ihn hinab blickte. Erst dann erkannte Simon in Blairs Augen, wie schuldig sich Blair für alles fühlte und es ihn innerlich vermutlich schon auffraß.
"Hören Sie, Sandburg...", setzte er an, um es wieder gut zu machen, was er gerade ohne nachzudenken gesagt hatte, aber er wurde mit einer raschen Handbewegung von Blair unterbrochen.
"Schon Ok, Sir. Ich weiß, dass ich nicht hätte gehen sollen. Ich weiß, dass ich Jim nicht so hätte hängen lassen dürfen. Ich weiß, dass ich auf diese Weise vermutlich meinen besten Freund verloren habe. Selbst wenn er noch leben sollte - was ich wirklich glaube - dann habe ich ihn dennoch verloren. Sie hätten ihn die letzten Monate am Telefon hören sollen. So habe ich ihn noch nie erlebt! Noch nicht einmal während der Sache mit Alex oder der Dissertation - und da sind wir schon wirklich hart aneinander gerasselt."
Simon nickte. Er konnte sich an die Sache mit Alex Barnes noch gut erinnern. Damals hatte Jim Blair seine Freundschaft gekündigt und Blair hatte daraufhin beinahe das Ganze mit seinem Leben bezahlen dürfen. Und als Blairs Arbeit über die Sentinels mit Jims Namen hinaus kam, war dies eine weitere harte Prüfung für die enge Freundschaft zwischen den beiden gewesen.
"Ich gebe zu, ich hatte Sie zuerst für alles verantwortlich gemacht. Aber sehen wir es doch mal realistisch: Sie sind beide Sturköpfe. Aber als Jim seinen Dienst quittierte..."
"Was?", unterbrach Blair Simon entsetzt. "Wann hat Jim seinen Dienst quittiert? Das höre ich ja zum ersten Mal!"
Verwundert starrte Simon Blair an. "Hatte er Ihnen das nicht erzählt? Verdammt, ich hatte Jim gesagt, er soll sich mit Ihnen mal richtig aussprechen. Nur zwei Monate nachdem Sie verschwunden waren, kam Jim zu mir. Wir stritten miteinander und er gab seine Marke und Dienstwaffe ab."
"Oh Gott", murmelte Blair geschockt. "Zwei Monate nachdem ich nach Mexiko gereist war? Und was hat er seitdem gemacht?"
Simon zuckte mit den Schultern. "Ich habe keine Ahnung. Tausend Mal bin ich noch bei ihm zu Hause erschienen und habe versucht, ihn zu einem Drink einzuladen oder auch einfach mal mit ihm zu sprechen, aber Sie kennen Jim ja: Er frisst lieber alles in sich hinein, anstatt nur ein Stück seiner perfekt inszenierten Fassade fallen zu lassen."
Die Hütte kam in Sicht. "Warum haben Sie mich nicht angerufen? Hätte ich gewusst, dass Jim sich so quält, hätte ich sofort wieder die Heimreise angetreten."
Simon kam zuerst bei der Hütte an, öffnete die Tür und ließ Blair vor ihn hinein. Dieser duckte sich, um unter dem Absperrband der Spurensicherung hindurch zu schlüpfen. Offensichtlich hatte man sich dazu durchgerungen, die Hütte etwas genauer zu untersuchen.
"Ich war ehrlich gesagt damals nicht besonders gut auf Sie zu sprechen. Ich sah Jim und dachte: Das ist Sandburgs Schuld." Die beiden schauten sich die einzelnen Räume an und mussten innerlich den Polizeibeamten beipflichten, dass alles unberührt aussah. "Auf der anderen Seite wollte Jim auch nicht, dass Sie von seinen Schwierigkeiten mit den Sinnen wussten. Er hatte befürchtet, Sie kämen dann direkt wieder zurück und..."
"Ein Moment mal, Simon", unterbrach Blair den Captain erneut. "Sie meinen Jim hatte Probleme mit seinen Sinnen?", fragte er ungläubig nach, denn ihm gegenüber hatte Jim immer beschwichtigt, dass er damit keine Probleme hätte.
"Ja sicher. Warum meinen Sie hat er sonst den Dienst quittiert? Kaum waren Sie weg, bekam Jim Probleme damit. Mal waren es seine Ohren, mal seine Augen... Einmal wäre er fast erschossen worden, als er mit einem Schusswechsel ein Zone out hatte, oder wie Sie das nennen. Wenn Rafe nicht gewesen wäre..." Dann blickte Simon hinunter in Blairs geschocktes Gesicht. "Er hat Ihnen nie davon erzählt, nicht wahr? Sie wussten bis jetzt nicht, dass Jim mit seinen Sinnen zu kämpfen hatte, oder?"
Blair war unfähig etwas zu sagen. Jim hatte ihn nicht nur angelogen, sondern hätte beinahe mit seinem Leben bezahlt, nur weil Blair nicht für ihn da gewesen war. Weil er einfach seiner Wissenschaft nachgegangen war, während sein Freund ihn dringend gebraucht hätte.
In Gedanken verloren blickten sich Simon und Blair nun wieder schweigend weiter um. Blair hoffte nun mehr denn je, dass sie seinen ehemals besten Freund finden würden. Wenn Jim tot sein sollte, dann hieße das mit höchster Wahrscheinlichkeit, dass es Blairs Schuld war. Und damit könnte er nicht leben...
Die beiden wollten gerade ihre Suche aufgeben, als Simons Handy klingelte. Er meldete sich mit einem schroffen "Banks". Blair starrte gebannt den Captain an und versuchte an dessen Gesichtszügen zu erahnen, worum es in diesem Telefonat ging.
"Was? Wo?", hörte er Simon in den Hörer brüllen.
"Ok, ich bin auf den Weg. Ich treffe Sie am Waldeingang." Dann beendete Simon das Telefonat mit einem Knopfdruck.
"Was ist?", wollte Blair sofort wissen und ahnte bereits nichts Gutes gemessen an dem nachdenklichen Gesichtsausdruck seines Gegenübers.
"Ein Officer hat einen Ohrstöpsel gefunden. Er meinte, es sei nicht von Bedeutung, aber ich könnte mir vorstellen, dass der von Jim ist", erklärte Simon ruhig und bahnte sich dabei einen Weg heraus aus der Hütte in den Wald und in den noch immer anhaltenden Regen. Blair blieb ihm dicht auf den Fersen.
"Ja, Jim hatte vielleicht seine Ohrstöpsel dabei, die ich ihm mal geschenkt hatte. Darin ist ein Geräuschdämpfer intrigiert. Wo hat man sie gefunden?"
"Fast fünf Meilen vom Pfad entfernt", antwortete Simon verbissen. Er wusste, was nun folgen würde.
"Was?", schrie Blair entsetzt - wie es Simon schon befürchtet hatte. "FÜNF Meilen? Was hat er so weit abgelegen von dem Waldweg gemacht?"
Simon verdrehte die Augen. "Ich weiß es nicht, aber wir bekommen es heraus", erwiderte er genervt. Dann hielt er inne und überlegte kurz. "Ist nicht etwa sechs Meilen westlich von hier eine Landstraße, die an Milltown vorbei zur anderen Seite des Bergs führt?"
Blair blieb ebenfalls stehen. "Ja, ja, ich glaube schon! Meinen Sie, er ist dort hin gelaufen? Aber wieso? Ich verstehe das nicht."
Simon schnappte sich wieder sein Handy. "Joel? Banks hier. Geben Sie den Suchtrupps durch, sie sollen ihr Gebiet erweitern und auch die Landstraße zur anderen Seite des Berges absuchen. Außerdem möchte ich, dass bei allen umliegenden Gebäuden nachgehört wird, ob jemand irgend etwas gesehen oder gehört hat." Er wartete nur noch kurz Joels "Verstanden" ab und beendete wieder das Telefonat. Dann lief er mit Blair im Schlepptau zurück zum Waldeingang.
Der Ohrstöpsel erwies sich tatsächlich als einer der von Blair erwähnten Geräuschdämpfer, die Jim oft trug, um seinen Gehörsinn besser in den Griff zu bekommen. Simon und Blair durchsuchten noch Jims Wagen, aber ohne weitere Erkenntnisse. Schließlich schnappten sie sich den von Joel gemieteten Jeep und begannen die Landstraße abzufahren, von der sie vermuteten, dass Jim diese aufgesucht hatte - aus welchen Gründen auch immer...
Er öffnete seine Augen einen Spalt weit und bereute das sofort wieder. Grelles Licht begrüßte ihn wie ein Fluch auf dem Weg ins Bewusstsein. Er presste seine Augen zu und hoffte so, der blendenden Helligkeit zu entgehen, aber selbst durch seine Augenlider brannte das Licht so stark, dass ihm Tränen kamen.
Sofort bemerkte er einen stechenden Kopfschmerz, der ihn laut aufstöhnen ließ. Das grelle Licht verschlimmerte die Schmerzen und er nahm seine Hand schützend vor die Augen, um möglichst viel des Lichtes abzuwehren.
Er spürte genau, dass er nur einen hauchdünnen Umhang trug, aber dieser reizte seine Haut wie tausend kleine Nadelstiche, ganz zu schweigen von der schweren Decke, unter der er lag.
Plötzlich hörte er von nahem Stimmen. Zumindest glaubte er, sie kämen von nahem, denn sie schienen endlos laut. Schließlich wurde es so unerträglich, dass er sich mit seinen beiden Händen die Ohren zuhielt, weil er befürchtete, ihm würde das Trommelfell jeden Moment platzen.
Ein stechender Schmerz an seinem linken Unterarm ließ ihn zurückzucken. Dann spürte er, wie der Griff einer Person, der diesen Schmerz hervorgerufen hatte, fester wurde und somit auch der Schmerz zunahm. Er versuchte sich aus dem Griff zu befreien, aber schließlich packte die Person auch seinen anderen Arm und er begann laut vor Schmerzen aufzuschreien und um sich zu schlagen.
Schließlich ließ endlich die Person los. Er hörte wieder diese laute Stimme, die vermutlich einer Frau gehörte. Die zweite Person war offensichtlich männlich.
Ohne Vorwarnung spürte er einen Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor hat erleiden müssen. Erneut schrie er laut auf, was ihm wiederum in seinen Ohren schmerzte, denn er spürte, wie eine Spritze in seinen linken Oberarm drang und ihm eine Flüssigkeit in den Arm gepresst wurde. Nur wenige Sekunden später umhüllte ihn wie ein Segen wohltuende Dunkelheit, in die der Schmerz ihm nicht folgen konnte...
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