Kapitel 2


Gegenwart

Blair sah von seinem Koffer auf und zum Fenster hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne kam noch ein letztes Mal heraus, bevor sie in einem großen, roten Feuerball hinter dem gezackten Horizont untergehen würde.

In Gedanken versunken stellte sich Blair wieder an das Fenster. Der Regen hatte die Luft draußen etwas abgekühlt, so dass die Temperaturen nun erträglicher waren. Er öffnete es schließlich und ihm blies direkt eine warme Brise ins Gesicht, die sein mittlerweile sehr langes Haar leicht nach hinten wirbelte.

Blair verschränkte vor sich die Arme. Es dürften jetzt draußen rund 25 Grad warm gewesen sein, aber ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht, weil er fror oder der Wind ihn fröstelte, sondern er bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran, wo Jim wohl nun sein würde. Ober er überhaupt noch lebte.

Allem zum Trotz schloss er genüsslich seine Augen und ließ sich vom warmen Sommerwind verwöhnen. Aber sein Gewissen gab jedoch einen lauten Schrei von sich. Sein Innerstes bäumte sich gegen jede vergeudete Sekunde auf. Er hatte nur für den nächsten Morgen einen Flug nach Seattle bekommen. Nach Cascade wäre es sogar noch erst den übernächsten Morgen gewesen. Aber von Seattle nach Cascade war es nicht so weit, zumindest war er dann nicht mehr einen halben Kontinent von seinem Freund und Sentinel entfernt, der nun seine Hilfe benötigte.

Es war sofort für ihn klargewesen, dass er keine Minute mehr in Mexiko bleiben könnte, während Jim in den Staaten in Schwierigkeiten war. Wenn auch nur die kleinste Chance dafür bestand, dass er bei der Suche nach Jim behilflich sein konnte, musste er sie nutzen.

Traurig blickte er wieder zurück auf die halb fertig gepackten Koffer. Wehmütig erinnerte er sich daran, als er sie das erste Mal gepackt hatte...




Vor etwa einem Jahr

"Und nehmen Sie diese hässliche Maske hier mit", brummte Jim und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten. An der großen Wand hing eine bunte, afrikanische Maske, mit unnatürlich großem und offenem Mund und hervorstehenden Augen. Jim hatte sich ständig beobachtet gefühlt, aber es Blair gegenüber natürlich nie erwähnt. Seitdem sie Blair vor wenigen Wochen dort hin gehangen hatte, hatte er angefangen darüber zu schimpfen, wie hässlich das Ding doch sei. Sein Mitbewohner hatte sich aber nicht davon beirren lassen und fand sie außerordentlich faszinierend.

Blair seufzte. "Jim. Ich kann unmöglich Artefakte mit auf die Expedition nehmen."

Der Sentinel setzte sich auf die Couch und tat gleichgültig, indem er nicht aufsah und in einem eiskalten Tonfall antwortete: "Dann bringen Sie sie zurück zur Uni oder ins Museum oder wo sie auch herkommen mag. Ich will das Teil hier nicht mehr sehen!"

"Wie Sie meinen", murmelte Blair sehr leise vor sich hin und wusste, der Sentinel musste ihn trotzdem gehört haben. Daraufhin verschwand er wieder in seinem Zimmer und packte weiter ein, was er glaubte in Mexiko gebrauchen zu können...




Gegenwart

Blair konnte sich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, als er begonnen hatte, seine Sachen für Mexiko zu packen. Jim war die ganze Zeit mürrisch drauf gewesen und hatte getan, als sei es ihm gleichgültig.

Es war beinahe so gewesen, als hätte Jim nicht oft genug erwähnen können, daß er auch ja all die hässlichen Masken, Statuen und anderen Artefakte mitnehmen solle. Natürlich hatte sich der Sentinel auch ständig über die Unordnung, die Blair hinterlassen hatte, beschwert.

Den restlichen Tag vor seinem Abflug hatte Blair damit verbracht, all seine Sachen aus dem Loft zu schleppen. Jim war zur Arbeit gefahren und Blair hatte nicht nur seine anthropologischen Errungenschaften aus der Wohnung verbannt, sondern auch alles, was ihm gehörte. Die Artefakte hatte er glücklicherweise bei einem Freund im Keller unterbringen können. Die zwei oder drei restlichen Kartons seiner verbleibenden Habe, die er nicht hatte mitnehmen können, hatte er ebenfalls dort hin gebracht.

Er hatte kahle Wände und leere Bücherregale hinterlassen. In seinem kleinen Raum hatten nur noch der Schreibtisch, das Bett, der Kleiderschrank und das Regal gestanden, aber ansonsten hatte man keinen Hauch Leben darin gefunden. Alles war leergeräumt gewesen.

Es war gerade so gewesen, als ob Blair Sandburg nie die Wohnung betreten hätte.

Darüber hätte sich Jim Ellison eigentlich freuen müssen. Das Loft war noch nie so aufgeräumt und ordentlich gewesen, seitdem Blair dort eingezogen war.

Aber dieser hatte sich damals alles andere als darüber gefreut und daraufhin hatten sich die zwei ehemals dicksten Freunde erst recht verstritten.

Insgeheim hatte Blair immer gehofft, Jim würde ihn bitten, es sich anders zu überlegen. Ein Wort und er hätte das Packen aufgegeben. Er hatte sich absichtlich Zeit gelassen, aber die ersehnten Worte waren nicht gekommen. Jim Ellison hatte ihn ziehen lassen.

Mittlerweile war sich Blair ziemlich sicher, dass Jim damals nur aus Trotz und Stolz nichts gesagt hatte. Vermutlich hatte er genauso darauf gewartet, dass Blair ihm sagen würde, dass er nicht fortgehen wollte. Vielleicht hatte er genau wie Blair insgeheim gehofft, dass sie noch einen Ausweg finden würden aus dem Schlamassel, in den sie sich Tage zuvor hineingeritten hatten.

Womöglich bereute Jim es genauso wie Blair, dass er damals ihre Trennung nicht aufgehalten hatte?

Tief in seinem Inneren hatte Blair von Anfang an gewusst, dass die Expedition nach Mexiko kein Ausweg war. Er lief nur vor seinen Problemen davon, anstatt sich ihnen zu stellen.

Nachdem Blair vorgegeben hatte, seine Dissertation über den "Sentinel" wäre eine Lüge, war er überall verpönt worden. Auf der Straße hatten die Leute ihre Nase gerümpft, wenn er vorüber gegangen war. Und das waren noch die angenehmeren Begegnungen gewesen. Oft hatte man ihn sogar bösartig beschimpft. Einige wagten sogar zu behaupten, er hätte nur gelogen und Detective Ellison wäre doch ein Sentinel. Dann hatte Blair immer und immer wieder erklären müssen, dass dies nicht der Fall war.

Blair hatte seinen Platz in der Universität verloren. Und er hatte nicht mehr als Beobachter bei der Polizei arbeiten können. Was hätte er also sonst machen sollen?

Die ersten Tage rief die Presse mindestens zehn bis zwanzig Mal täglich bei ihnen an und wollte weitere Stellungnahmen. Die Reporter lauerten ihm vor der Wohnung auf und eröffneten ein Blitzlichtgewitter, sobald er das Gebäude verließ.

Kurzum: Es wurde für Blair unerträglich und er musste mit ansehen, wie auch Jim erneut darunter zu leiden hatte.

Dann war der Anruf gekommen. Beinahe hätte Blair ihn erst gar nicht angenommen, weil er bereits weitere Journalisten am anderen Ende der Leitung vermutet hatte. Aber es war sein alter Mentor Professor Eli Stoddard gewesen, der ihm dann angeboten hatte, ihn nach Mexiko zu begleiten.

Schon früh hatte Blair erkennen müssen, dass nicht alle auf seine Lüge hereingefallen waren, dass der "Sentinel" nur Schwindel wäre. Die Kollegen aus dem Bullpen hatten zwar nie eine Bemerkung gemacht, aber man hatte ihnen angemerkt, dass sie Jims Fähigkeiten für wahr nahmen.

Genauso schien auch Professor Stoddard davon überzeugt gewesen zu sein, dass Blairs Doktorarbeit kein Lüge war. Dafür kannte er Blair viel zu gut. Und Blair hatte ihm damals von seiner Vorliebe für diese vorzivilisierten Wächter der Stämme erzählt. Somit war Blair eine gute Wahl für seine mexikanische Expedition gewesen. Und so wurde Blair aus dem Mittelpunkt des Interesses der Presse gerissen.

Ursprünglich war die Rede von einem halben bis einem dreiviertel Jahr gewesen. Doch Blair hatte nicht gewusst, dass Stoddard mit ihm noch etwas Besonders vorhatte. Sein Mentor hatte ihm verschwiegen, dass es hier in Mittelamerika weitere Hinweise für Sentinels gab. Ausgrabungen an alten Ruinen der Azteken, Maya und Tolteken warfen weitere Fragen auf, während sie aber keine Antworten hergaben. Schon seit Monaten war es Blair, als wäre er ganz nah dran. Als hätte er bald alle Puzzlestücke. Aber in Wahrheit war er einem Beweis für die Existenz von Sentinels keinem Stück näher gekommen.

Was wollte er auch damit? Selbst wenn er einen Beweis finden würde, wenn er damit an die Öffentlichkeit ginge, würde alles wieder von vorne anfangen. Die Presse würde sich erneut fragen, was dran war an Blairs erster Story. Und wieder wäre Jim im Kreuzfeuer der Reporter.

In zahllosen, schlaflosen Nächten hatte er sich mit Selbstzweifeln gequält und am Tage entfachten neue Entdeckungen den Anthropologen in ihm. So war ein Tag nach dem anderen vergangen. Aus Tagen waren Wochen geworden und daraus Monate. Und ehe er es sich versah, war ein Jahr vergangen.

Nun stand er hier und blickte auf den letzten Zipfel der roten, flammenden Scheibe, die hinter einem Berg verschwand.

Schließlich fasste er sich ein Herz und lief zum Telefon, um Eli Stoddard über seine Abreise zu informieren. Er seufzte laut und blickte zum wiederholten Male auf seine Armbanduhr.




Am nächsten Morgen. Etwa 10 Uhr vormittags. Cascade

"Sir", hechtete Joel aufgeregt in Simons Büro, "Wir haben etwas!" Mit einem eintausend Watt Lächeln stellte er sich seinem Vorgesetzten und Freund gegenüber. "Wir haben Jims Pick-up! Na ja, vielmehr haben die Conahans ihn. Also, ich mein, die haben ihn..."

Simon runzelte die Stirn und unterbrach Joels aufgebrachtes Gerede mit einer erhobenen Hand. "Was? Wovon reden Sie?"

Joel atmete einmal kräftig und tief durch. Dann versuchte er es mit einem breiten Grinsen erneut: "Ein älteres Ehepaar hat Jims Pick-up gefunden!"

Simon schoss sofort aus seinem Stuhl hoch. "Was?! Wo?"

"Am Mount Rainier. Der Wagen parkte am Waldrand. Ziemlich verborgen, daher war er bisher wohl niemanden aufgefallen." In Joels Augen funkelte wieder Hoffnung. Hoffnung darüber, seinen vermissten Freund wieder zu finden.

"Alarmieren Sie sofort die dort zuständigen Behörden!" Simon lief zu seiner Garderobe und schnappte sich seine Jacke.

"Schon geschehen!", erwiderte Joel.

"Es sollen Suchtrupps losgeschickt werden", zählte Simon weiter auf.

Joel nickte. "Schon eingeleitet."

"Wir werden eventuell einen Geländewagen brauchen", überlegte Simon, während er seine Jacke überzog und sein Büro flüchtig aufräumte.

"Schon organisiert", kam die prompte Antwort von Joel.

Daraufhin blickte Simon ihn skeptisch und zugleich erstaunt an. "Wofür brauchen Sie mich eigentlich noch?", fragte er mit einem kleinen Schmunzeln.

"Mitkommen", antwortete Joel knapp und wippte nervös auf und ab. Nachdem Simon ihn belustigt von oben nach unten angesehen hatte, ergänzte er: "Der Wagen wartet bereits."

Simon nickte und gab beim Verlassen der Abteilung noch ein paar Anweisungen. Als der Rest des Bullpens von der guten Nachricht hörte, gab es lautes Gejubel.

Auf den Weg zum Auto versuchte Simon Blair telefonisch zu erreichen, aber im Hotel ging niemand dran und an Blairs Handy meldete sich nur die Mailbox.

Mit Blaulicht und quietschenden Reifen fuhr er wenige Minuten später aus der Tiefgarage des Police Departments los, um endlich seinen vermissten Freund zu finden.



Müde und ausgelaugt lehnte Blair seinen Kopf gegen das Fenster des Flugzeugs. Von oben sah alles so klein und unbedeutend aus.

Wieder kontrollierte Blair die Uhrzeit. Noch etwa eine halbe Stunde Flug. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zudrücken können. Nun machte sich der Schlafentzug bemerkbar.

Aber er war zu sehr in Gedanken versunken. Sein Gehirn wollte nicht ruhen. Ständig musste er an Jim denken. Und was würde ihn in Cascade erwarten?

Er hatte gehofft, von Simon noch etwas Neues zu hören. Aber was hatte er erwartet? Dass er auf den Weg nach Cascade war und Jim nach einer Woche ausgerechnet jetzt gefunden werden würde? Gehofft hatte er es sich mit Sicherheit. Wer wünscht sich nicht dieses ewige Happy End, dass einem im Fernsehen immer vorgespielt wurde?

Frustriert seufzte er laut, sodass die Fensterscheibe von seinem warmen Atem beschlug.

Was, wenn er Cascade niemals verlassen hätte? Wenn er bei Jim geblieben wäre? Was wäre gewesen, wenn er das Angebot von Simon und Jim damals angenommen hätte und wäre auf die Polizeiakademie gegangen?

Was, wenn er damals beim Packen einfach nur gesagt hätte "Jim, ich möchte gar nicht nach Mexiko." Hätte Jim ihm einen bösen Blick zugeworfen oder hätte er sich gefreut?

Er wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er würde Professor Stoddard absagen. Das hatte er doch schon einmal gemacht. Wieso dieses Mal nicht? War er damals schlauer gewesen als vor einem Jahr? Er hatte vor vier Jahren bereits gemerkt, dass die "Sentinel-Sache" nicht einfach ein wissenschaftliches Projekt war.

Es ging um Freundschaft.

Er würde die Zeit noch mehr zurückdrehen. Am besten noch vor der Eskalation der Dinge. Bevor seine Mutter die Dissertation ihrem Freund bei einem New Yorker Verlag zugeschickt hatte.

Jim wäre noch immer der geheime Wächter von Cascade. Keine Presse, die all ihre Schritte verfolgen würde. Blair würde noch im Police Department als Beobachter an Jims Seite arbeiten. Er könnte noch in der Universität Vorträge halten...

Aber er wäre auch noch oft mit Jim zu einem Basketball Spiel gefahren.

Er hätte sich noch unzählige Male mit Jim über Musikgeschmäcker gestritten und daraufhin hätten sie sich doch wieder grinsend darauf geeinigt, dass die Rolling Stones die Meister schlechthin waren.

Er hätte oft mit seinem Freund auf dem Balkon gestanden und die atemberaubende Aussicht auf ihre Stadt genossen.

Tausende Male hätte er Jim einen Vortrag über seine ungesunde Ernährung gehalten.

Und ständig hätte er sich Jims Sticheleien über sich ergehen lassen müssen, zum Beispiel über seinen Wagen, der mal wieder in die Werkstatt musste.

Oft hätte der Sentinel ihm noch Spaßes halber einen Klaps auf den Kopf gegeben.

Jim hätte ihn noch unzählige Male bei seinem Spitznamen "Häuptling" genannt.

Vielleicht wären sie endlich mal auf diesem neuen Golfplatz gefahren, den sie schon vor zwei Jahren hatten ausprobieren wollen.

Nun, so neu war er jetzt doch nicht mehr.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet Blair, dass er sich gerade jetzt vermutlich mit Jim im Büro befinden würde, mit einem großen Stapel Papierkram vor seiner Nase.

Oh, wie vermisste er all diese Dinge. Jetzt mehr denn je. Aber am meisten trauerte er seiner verlorenen Freundschaft nach.

Er vermisste seinen Sentinel.

Seinen Freund.

Er vermisste Jim.


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