Kapitel 2


Jim bog zuversichtlich um eine Ecke, um endlich die Haupthalle des Gebäudes zu finden, wo nicht nur der Ausgang wäre, sondern hoffentlich auch ein unverletzter Blair Sandburg.

Tatsächlich führte der Gang in einen großen Saal. Den Ausgang konnte Jim aber dennoch nicht erkennen. Innerlich verfluchte Jim den Erbauer dieses Hauses und lief einmal quer durch den Raum, um nachzusehen, was sich hinter dem großen, zweitürigen Tor am anderen Ende des Saales verbarg.

Er wollte gerade nach dem Griff des Tores fassen, als er ein Geräusch hörte. Er blickte sich in die Richtung um, aber erkannte nichts. Er schob es seiner Anspannung in die Schuhe und griff nach der vergoldeten Türklinke. Wieder hörte er ein knirschendes Geräusch und sein Kopf schnellte erneut in die Richtung, von der er glaubte, dass es von dort käme.

Das bildete er sich doch nicht ein, oder? Vielleicht war der Panther wieder da. Aber er konnte nichts erkennen und mit Hilfe seines besonders guten Augensinns konnte er jede kleinste Ecke einsehen.

Vorsichtig näherte er sich dem Teil des Raumes, aus dem das Knirschen gekommen war. Er zog seine Waffe hervor und richtete sie schussbereit vor sich.

Der Raum war sehr altertümlich eingerichtet. Neben dem mit Stahlbögen verzierten, großen Kamin stand jeweils ein gut gepolsterter Sessel mit geschnörkeltem Muster. Zwischen den Sesseln stand ein kleiner, runder Tisch, auf dem ein Schachbrett mit zugehörigen Figuren aufgestellt war.

Erst jetzt fiel Jim auf, dass weder die Möbel noch der Tisch mit dem Schachspiel nur ein Staubkorn aufwiesen. Es war gerade so, als ob erst vorhin jemand mit dem Staubtuch darüber gefahren wäre. Das Haus stand aber schon seit Jahren leer, wie war dies also möglich? Gab es womöglich hier jemanden, der in dieser Ruine lebte? War dieser Jemand verantwortlich für den gemeldeten Schusswechsel?

Plötzlich hörte Jim wieder das Knirschen und wurde starr vor Schreck, als er sah, wie einer der Sessel näher an den Tisch rückte. Dabei schob er über das feinsäuberliche Holzparkett. Jims Gedanken rasten. Wie konnte sich der Sessel wie von selbst bewegen? Er konnte niemanden sehen und auch nicht hören! Er schlich sich vorsichtig um den Sessel herum und fand auch dort niemanden. Schließlich musterte er den Boden, aber erkannte auch dort nichts Außergewöhnliches.

"Du bist reif für die Klapse, Jim", murmelte er vor sich hin und wollte sich gerade abwenden, sah aber noch im Augenwinkel eine weitere Bewegung. Er konnte sich gerade noch schnell genug umdrehen, um zu beobachten, wie eine Schachfigur - der Turm - zwei Felder nach rechts zog - wie von Geisterhand! Jim schüttelte seinen Kopf und versuchte sich ständig auszureden, dass er gerade etwas schier Unmögliches gesehen hatte.

Plötzlich hörte er in mit einem zischenden Flüstern jemanden sprechen: "Schach"

Spätestens jetzt rasten nicht nur Jims Gedanken, sondern auch sein Herz. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und ihm wurde heiß und kalt zugleich. Verwirrt und in Panik stolperte er zurück in die Richtung des Tors, durch das er schon vorhin den Raum verlassen wollte.

Nach seinen Ohren und seinen Augen zu urteilen war er die einzige Person in dem ganzen Saal und außerdem in der gesamten näheren Umgebung. Aber konnte er sich ein bewegendes Möbelstück und eine sich selber spielende Schachfigur nur einbilden? Und auch ein Flüstern? Der Turm bedrohte nun den König der anderen Farbe und Jim wurde fast schwarz vor Augen bei dem Gedanken daran, was ihm gerade wiederfuhr. Es war unmöglich!

In Panik rannte er die wenigen Schritte zum Tor und griff nach dem vergoldeten Knopf, um es zu öffnen. Die schweren Holztüren gaben aber nicht nach und Jim versuchte es mit einem weiteren, kräftigen Ruck. Nichts.

Frustriert trat er gegen das Holz. Plötzlich glaubte er im hintersten Augenwinkel einen dunklen Schatten zu sehen, aber konnte nichts erkennen, wenn er sich dort hin umdrehte. Es folgte ein dämonisches und schadenfrohes Lachen, das etwa so leise und zischend klang wie das vorige Wort "Schach". Jim lief ein kalter Schauer über den Rücken und er wandte sich wieder an das Tor. Er nahm seinen Revolver und wollte das Schloss einfach zerschießen, aber plötzlich spürte er etwas auf seiner Schulter. Es war, als würde jemand eine Hand darauf legen, aber es war dennoch anders. Kalt.

Jim blickte sich nicht um. Ganz offensichtlich versuchte jemand ihn davon abzubringen, dieses Tor zu passieren, was ein Grund mehr für ihn war, es tatsächlich zu tun. Mit einem lauten Knall schoss er gezielt auf das eiserne Schloss. Erleichtert bemerkte Jim, dass die Türen wirklich nachließen und er öffnete sie mit einer hastigen Bewegung. Bloß weg von diesem gruseligen Ort. Mit einem hässlichen Knirschen gaben die Türen nach und er stand direkt in der großen Haupthalle, in die er zuvor mit Blair hereingekommen war.

Ängstlich blickte er zurück, aber konnte nichts erkennen, was ihn nicht so recht beruhigte, ihn aber dennoch kurzfristig in den Glauben ließ, dass er nicht verfolgt wurde. Er trat in die Halle und verschloss das Tor hinter sich wieder. Mit einem lauten Knall fielen die Türen zu.




Blair rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Er schlitterte um eine weitere Ecke und machte hinter der Wand schließlich Halt, um kurz zu Atem zu kommen. Vorsichtig linste er um die Wand in die Richtung, aus der er gerade gekommen war, aber konnte im Dunkeln nichts erkennen.

Durch seine lauten, raschen Atemzüge konnte er auch nichts hören. Sie wurden nur von seinem laut pochenden Herzen übertönt, das wild raste.

Gerne hätte Blair die Luft angehalten und er versuchte es auch ein paar Mal, um besser hören zu können, ob ihn jemand verfolgte, aber seine Lunge verlangte nach mehr Sauerstoff. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Wer oder was war das? Und wo verdammt noch mal war Jim? Wurde er ebenfalls von einem dieser angsteinflößenden Menschen verfolgt?

Vermutlich hatte einer der Männer eine Waffe und es wurde deshalb der Zentrale der Schusswechsel gemeldet. Blair glaubte zwar, dass er, bevor er dem ersten Mann begegnet war, gehört hatte, wie eine Waffe entsichert wurde, aber wieso sollte der Kerl ihn mühselig erdrosseln, anstatt ihn einfach zu erschießen? Und der zweite Mann stand einfach nur da und starrte ihn an. Auch der hatte offensichtlich keine Waffe zur Hand.

Hatte Jim also den schießwütigen Verfolger?

Als Blair glaubte, sich fast wieder gefangen zu haben, spürte er plötzlich, wie ihn etwas Kaltes an seiner rechten Schulter berührte. Geschockt zuckte er zusammen und konnte sich einen panischen Schrei nicht verkneifen. Blair riss seine Augen weit auf, wie hatte er auch so unvorsichtig sein können? Es war zu dunkel, er konnte lediglich die Umrisse eines Menschen erkennen, der nur wenige Zentimeter neben ihm stand. Er wollte bereits wegrennen, als er spürte, wie er von der anderen Person am Unterarm festgehalten wurde. Der kalte und eiserne Griff gab ihm keinen Spielraum, dennoch versuchte er mit all seiner Macht gegen den Verfolger anzukämpfen.

Nur wage bekam er mit, wie der Fremde mit ihm sprach. Sein Herz raste wieder, lauter als zuvor und es fiel ihm schwer, genug Luft zu bekommen. Er trat den Angreifer ans Schienbein, aber der Griff lockerte sich nicht.

"Häuptling, ich bin's!", hörte er nun klar Jims Worte. Jim? Erst langsam verstand Blair, dass es nicht einer seiner Verfolger war, der ihn festhielt, sondern sein Freund, der weiterhin versuchte, ihm gut zuzureden.

"Jim", flüsterte Blair schließlich erschöpft und ließ sich gerne etwas von seinem Partner stützen, als er spürte, wie er der absoluten Entkräftung nahe kam. Langsam beruhigte er sich und das Adrenalin verließ seine Adern. Seine Beine wurden weich, aber er hielt sich tapfer aufrecht. Jim war nun da, es würde alles gut werden...




Nachdem Jim Sandburg gefunden hatte, brauchten sie sage und schreibe eine halbe Stunde, um die Halle mit dem Ausgang zu finden.

Jim hatte Blair von seiner Erfahrung erzählt, die er alleine in dem altertümlich eingerichteten Saal gemacht hatte.

"Ein Stuhl, der sich wie von Geisterhand selbst verrückt? Eine Figur, die ohne Einwirken um Felder verschoben wird? Eine flüsternde Stimme, obwohl niemand zu sehen oder zu hören ist? Jim, das glaubst du doch etwa nicht wirklich, oder?" Blair hatte sich sichtlich beruhigt. Der Sentinel konnte erkennen, wie ein wenig Farbe die Gesichtszüge seines jungen Guides untermalte.

Allerdings hatte Jim sich etwas mehr Offenheit von Blair erhofft. Als sie das Gebäude betreten hatten, hatte Blair noch mehr Sinn für solche Sachen gehabt. Jetzt war Jim es, der diesem Phänomen offener gegenüberstand und Blair spielte den Skeptiker. So schnell änderten Leute ihre Meinung.

Weil er selber nur ungern die Erinnerungen aufleben lassen wollte und auch nur halbherzig glaubte, was er eigentlich mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, wechselte Jim bereitwillig das Thema. "Blair, da ist noch etwas, was ich dir sagen muss. Meine Sinne spielen verrückt. Genaugenommen sind sie zurzeit nur noch normal. Seitdem ich dich gefunden habe..."

"Deine Sinne?", unterbrach Blair überrascht. Bevor Jim etwas darauf erwidern konnte, erkannte er einen Schatten im Augenwinkel. Der Sentinel reagierte schnell, zog seine Waffe und bedrohte die andere Person, die nun im Halbdunkeln direkt vor ihm stand.

"Simon!" Jim staunte nicht schlecht und steckte sofort seine Waffe beiseite. Sein Vorgesetzter stand direkt vor dem Eingang.

"Jim. Was ist hier los? Es wurden weitere Schüsse gehört und ein Passant hat die Polizei gerufen!"

Der Detective blickte vorsichtig zurück. "Nicht hier", zischte er zum Captain.

"Was ist? Angst vor Gespenstern?" Simons Grinsen war fast schon schadenfroh, aber Jim ließ sich nicht beirren.

"Sir, hier gibt es Eindringlinge. Mindestens zwei Personen. Außerdem habe ich gesehen..."

Simon unterbrach ihn mit erhobener Hand. "Jim, Sie sehen gerade so aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen." Der Captain blickte daraufhin zu Sandburg hinab. "Und der Junge sieht auch nicht viel besser aus. Ich schlage vor, Sie beide lassen es für heute Abend gut sein und..."

"Simon", begann Jim in einem harscheren Ton. "Da sind Kriminelle in dem Gebäude!"

Simon stemmte seine Arme in die Hüften und richtete sich vor Jim zu seiner vollen Pracht und Größe auf. "Detective, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich möchte, dass Sie *sofort* nach Hause fahren und sich ausruhen. Sie sagten gerade, Ihre Sinne spielten verrückt und ich werde kein Risiko eingehen. Morgen früh erhalte ich einen ausführlichen Bericht von Ihnen, was hier vorgefallen ist. Und nun gehen Sie."

Jim glaubte nicht, was er da hörte und wurde nur noch wütender. Aber auf der anderen Seite kannte er Simon mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er einen Punkt erreicht hatte, an dem er besser nicht weiter gehen sollte. Grimmig nickte er und zerrte Blair mit sich hinaus, der dies bereitwillig mit sich machen ließ.

Draußen begegneten sie Rafe. "Hey Rafe, was machst du denn hier?"

Rafe zuckte nur die Schultern. "Ich soll hier mit Brown das Gebäude durchkämmen. Anweisung vom Chef." Man sah Rafe an, dass er daran kein Gefallen fand, aber sich nicht dagegen wehrte, sondern tat, was ihm gesagt wurde.

"Brown ist auch hier?", hakte Jim nach.

Der andere Detective nickte. "Ja."

Nun war es an Jim zu nicken. "Gut", dann besann er sich, dass er die Anweisung erhalten hatte, strikt nach Hause zu fahren. "Ihr werdet jede Hilfe brauchen." Er erklärte Rafe flüchtig, was ihm und Blair widerfahren war und verabschiedete sich schließlich halbherzig von dem anderen Kollegen, als dieser zusagte, dass bereits weitere Verstärkung im Anmarsch sei.

Widerwillig setzte Jim sich hinter das Lenkrad seines blau-weißen Pick-ups und beobachtete, wie sein Partner auf der anderen Seite einstieg. Dessen Schweigen war ungewöhnlich, aber nach dem vorhin erlebten Abend überraschte Jim nun gar nichts mehr. Sandburg würde sich schon aufraffen. Nach dem Erlebten war es ein Wunder, dass der Junge überhaupt noch normal atmen konnte.

Nur eines ließ den Sentinel nicht los: Simons Anweisung, er sollte nach Hause fahren, während zwei Verbrecher auf freiem Fuß waren...




Zu Hause fand Jim keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten ständig um das zuvor erlebte und er wälzte sich im Bett von der einen auf die andere Seite und wieder zurück.

Kurz zuvor hatte Simon ihn angerufen und berichtet, dass zwei Männer festgenommen wurden, der eine der beiden trug eine Waffe bei sich. Als Jim nach einem Panther fragte, erhielt er nur schallendes Gelächter als Antwort und den nutzlosen Ratschlag, er sollte sich ausruhen, weil er es offensichtlich bräuchte. Und, dass er zu viel mit Sandburg zusammen hängen würde.

Jim versuchte abermals seine Sinne auf den Herzschlag seines Guides zu konzentrieren. Er fürchtete, dass dieser das einzige war, was ihn nun noch beruhigen konnte, aber auch den konnte er nicht wahrnehmen.

Mit einem Geräusch, das verdächtig einem Brummen ähnelte legte er sich erneut auf die andere Seite.

Plötzlich hörte er ein leises, ja fast schon zischendes Gelächter. Sofort saß er aufrecht im Bett, warf seine Beine über die Kante und griff zugleich nach seiner Pistole, die er neben sich in der Kommode aufbewahrte. Er musterte seine Umgebung, aber erkannte nichts.

Vorsichtig stand er auf und beobachtete weiterhin alles um sich herum, während er leise die Stufen hinabstieg. "Sandburg", flüsterte er und hoffte, dass sein Mitbewohner ihn hören könnte.

Natürlich konnte er dies nicht und Jim fand ihn friedlich schlummern im Bett. Für eine Sekunde wunderte er sich darüber, dass sein Freund nach dieser Nacht keine Albträume plagten und er so ruhig und einfach schlafen konnte. Aber er schob es der Erschöpfung zu und rüttelte Blair vorsichtig wach. "Blair", flüsterte Jim möglichst leise, aber dennoch laut genug, um die Aufmerksamkeit des Schlafenden zu erlangen.

Mit müdem Blick starrte Blair ihn schließlich an. "Jim? Was ist denn? Lass mich schlafen, Mann!" Daraufhin kehrte sich Blair von dem anderen Mann ab und kuschelte sich wieder in seine warme Decke.

Jim rüttelte stärker an Blairs Schulter. "Häuptling, ich höre es wieder. Das Flüstern!"

"Jim", erwiderte Blair ruhig, aber der Sentinel konnte hören, wie er versuchte, nicht genervt zu klingen. "Es gibt keine Gespenster und du hast sicher nur schlecht geträumt."

"Nein, nein!" Jim schüttelte vehement den Kopf und rüttelte noch stärker an der Sandburgs Schulter. Dieser schüttelte schließlich ärgerlich die Hand beiseite und stand auf.

"Na schön. Ich werde nachsehen, Ok? Ehrlich Jim, ich dachte du wärst aus diesem Alter raus!" Wütend und genervt stapfte er vorbei an Jim in das Wohnzimmer und lief demonstrativ einmal in großem Bogen umher.

Dann stellte er sich vor Jim und breitete seine Hände aus. "Siehst du? Keine Stimmen, keine Gespenster. Nichts." Dann zeigte er auf sich. "Nur ich armer Narr, der nun Babysitter spielen darf." Verschlafen rieb er sich ein Auge und lief vorbei an seinem Mitbewohner.

"Aber ich habe es gehört, Blair! Ich schwöre es!"

Blair schüttelte nur den Kopf und lief zum Bad.

"Wo willst du hin?"

Der zur Rede Gestellte blieb stehen und blickte sich zu Jim um. "Ich muss mal pinkeln, wenn es gestattet ist."

Verwirrt und hilflos kletterte Jim wieder die Stufen zu seinem Schlafzimmer hinauf. Bildete er sich das alles wirklich nur ein?

Plötzlich sprang sein Uhrenradio an, das er auf der Kommode stehen hatte. Jim schrak wieder aus seinem Bett hoch. Weder hatte er den Wecker berührt, noch hatte er einen Alarm für diese Zeit gestellt.

Zu hören war die tiefschaurige Stimme, die er auch zuvor schon im Wagen gehört hatte, als das Halloween-Hörspiel begonnen hatte:

"Das unbekannte Monster ist zum Angriff bereit,
Aus einer weitabgelegenen Ecke, aus dem Dunkeln.
Ein Albtraum - das ist der Fall.
Nimmer Niemalsland - das ist der Ort.
Dies ist die Nacht des Gerichts, der Exekution, der Schlachtung.
Der Teufel, Geister, dieses Monster ist Folter.
Du kannst dir über eines sicher sein: Das ist Zerstörung.
Eine menschliche Präsenz, die sich seltsam anfühlt.
Ein Monster, das du verschwinden sehen kannst.
Ein Monster, das Schlimmste, was man fürchten kann."

Mit Herzrasen blickte Jim während der angsteinflößenden Worte auf sein Uhrenradio und stellte entsetzt fest, dass die blutrote Neon-Schrift in blinkendem Rhythmus 6:66 Uhr anzeigte...

In Jim regierte die Panik, nicht die Vernunft, als er hastig aus sein Bett sprang und die Stufen hinab stürzte. Die Waffe hielt er noch immer in seiner Hand, aber es war ihm, als könnte er darin die Munition rattern hören, denn seine Hand zitterte wie Espenlaub. Sein ganzer Körper erschauderte, als er vorsichtig durch die Wohnung streifte, darauf gefasst, einen Eindringling vorzufinden. Seine Augen suchten jeden Zentimeter ab und er wünschte sich, er hätte seine Sinne wieder voll einsatzbereit.

Sein Blick fiel auf das Kabel der Station für das schnurlose Telefon. Begierig kniff er die Augen zusammen und glaubte nicht, was er sah. Es war durchtrennt worden. Jim brauchte keine speziellen Sinne, um zu erkennen, dass es absichtlich durchgeschnitten wurde.

Jetzt erst wurde Jim bewusst, dass er vorhin, als er mit Simon telefoniert hatte, das Display des Telefons nicht erkennen konnte. Er hatte es seiner "normalen" Sinnen zugeschrieben oder einfach des fast leeren Akkus des Gerätes. Mit beunruhigender Gewissheit legte Jim das Kabel wieder beiseite: Er hatte nie mit Simon telefoniert.

Leise pirschte Jim in alle Ecken der Wohnung, aber fand weder einen Eindringling noch andere Sachen, die aus der Reihe fielen. Schließlich schlich er zum Badezimmer. Am unteren Türschlitz konnte er erkennen, dass darin Licht brannte. Und zuvor hatte er Blair auch nicht rauskommen hören. Das bedeutete, sein Mitbewohner war noch immer dort drinnen.

"Blair?", hakte Jim besorgt nach. Alles was er als Antwort bekam, war bedrückende Stille. "Blair?", versuchte er es erneut etwas lauter und klopfte leise, aber bestimmt gegen die Tür.

Als er weiterhin nichts anderes als Schweigen wahrnahm, drückte er vorsichtig die Türklinke runter. "Blair, ich komme jetzt rein." Jim wollte seinen Freund nicht nach einer Nacht wie dieser auf der Toilette zu Tode erschrecken.

Der Anblick, den Jim daraufhin begrüßte, ließ ihn aufatmen und zugleich auch erschaudern. Blair stand nur einen Meter vor ihm, direkt neben dem Waschbecken. Mit einem schelmischen Lächeln blickte er Jim von oben bis unten an. Schließlich starrte er in seine Augen und Jim erkannte, dass hier etwas nicht stimmte. Diese Augen... Sie waren nicht Blairs, das konnte Jim noch sagen.

Instinktiv hob Jim seine Waffe an und richtete sie auf seinen Freund. Diese paradoxe Situation ließ ihn weiterhin zittern und er spürte, wie kalter Schweißtropfen seine Stirn hinabfloss.

"Wer oder was bist du?", flüsterte er mit zittriger Stimme.

Sein Gegenüber grinste weiter. "Ich bin's - Blair!" Die Stimme, die Gestik, der Körper. Ja, das war Blair, aber es war nicht sein Geist.

Jim konnte sich an einige Science Fiction Filme erinnern, in denen der Geist eines Außerirdischen den Körper eines Menschen übernommen hatte. War das hier ebenfalls der Fall? Jim konnte nicht fassen, was für Gedanken er sich machte. Es klang verrückt. Geisteskrank. Aber eine andere Erklärung fand er nicht. Das war zweifellos Blair, der vor ihm stand, wenn auch nicht "bei Verstand".

"Was hast du mit ihm gemacht?" Dieses Mal klang Jims Stimme fester. Wut vibrierte in der tiefen Tonlage mit und es war klar der Unterton einer Drohung zu hören.

"Tse, tse, tse. Ich hatte gehofft, du wärst etwas einfallsreicher. James." Blair lachte kalt und lief auf Jim zu. Dieser wich zurück und hielt seine Waffe weiter auf sein Gegenüber gerichtet, der langsam an ihm vorbeilief.

Jims Gedanken rasten. Wie konnte er die Kreatur aufhalten, ohne seinen Freund zu gefährden? Wie hatten die das immer im TV gemacht? Panisch überlegte er an einer Lösung, während Blair durch die französischen Türen in den kleinen Raum gegenüber der Küchenzeile schritt.

"Was willst du?" Aus der tiefen Stimme wurde ein Knurren.

Und weiterhin wurden Blairs Gesichtzüge von diesem boshaften Lächeln überschattet. Seine Augen funkelten und er trat mit einer enormen Ruhe an den Schreibtisch heran, auf dem noch einige Notizen von Blair lagen.

"Meinen Spaß", antwortete Blair, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Er zuckte mit seinen Schultern. "Das wollen wir doch alle, oder?"

"Der Spaß ist mir vergangen. Lass Blair und mich in Ruhe!"

Plötzlich verschwand das Grinsen auf Blairs Gesicht. "Es tut mir leid, aber ich finde, ich hatte noch nicht genug Spaß." Er drehte sich um und blickte aus der halb verglasten Tür. "Schöne Aussicht. Diese Finsternis dort draußen. Vollmond. Schatten, die durch die engen Gassen huschen." Er öffnete die Tür und eine kalte Brise zog durch den Raum. Jim begann noch stärker zu zittern. Er war macht- und hilflos.

Blair schloss genüsslich die Augen und genoss den Anblick. Dann wandte er sich wieder an Jim: "Was ist, möchtest du mich nicht erschießen?" Er blickte auf die Waffe in Jims zitternde Hand, um seine Aussage zu untermalen.

Jim knurrte erneut. "Und meinen Freund verletzen? Das hättest du wohl gerne. Sag endlich, was du von mir willst, verdammt noch mal und dann verschwinde!"

Erneut blitzten Blairs Augen auf. "Dein Freund, he? Dir scheint viel an deinem Freund zu liegen." Wieder grinsend trat Blair einen Schritt in Jims Richtung, so dass er direkt vor seiner ausgestreckten Hand mit der Pistole stand. Er blickte tief in die Augen seines Gegenüber und erfreute sich an der Angst, die sich darin wiederspiegelte. Die Wut. Und er glaubte, dort noch etwas anderes darin zu erkennen. Besorgnis?

Wissend nickte er schließlich. "Dein Freund", wiederholte er in ruhiger Stimme und kehrte sich von Jim wieder ab, der langsam die Geduld verlor.

Bevor der Sentinel aber etwas erwidern konnte, langte Blair zur Tür. Geschockt musste Jim mit ansehen, wie Blair hinaus auf die Feuerleiter lief. Mit zwei großen Schritten eilte Jim hinterher. Blair saß auf dem Geländer. "Was machst du da? Komm sofort wieder rein! Du könntest ihm das Genick brechen!" Krank vor Sorge fasste er trotz Angst vor dem Fremden nach Blairs Arm. Dieser wich seiner Hand aus, ohne das kalte Lächeln zu verlieren. "Könnte ich das?", fragte er unschuldig und es hing ein wenig Frohlocken zwischen den Worten. Blair sah hinter sich hinab in die Tiefe. Schließlich wurde sein Grinsen noch unglaublich breiter und seine Augen blitzten ein letztes Mal auf.

"Bye-bye James!" Mit winkender Handbewegung kippte er über das metallene Gitter der Feuerleiter in das Leere. Jim warf die Waffe beiseite und versuchte mit beiden Händen, Blair aufzufangen.

Aber er griff nur ins Leere.

Verzweifelt sah Jim Blair nach, wie er wie in Zeitraffer die Stockwerke hinab und unaufhaltsam dem harten Boden entgegenfiel.

"Nein!", schrie Jim aus Inbrunst und scherte sich nicht darum, dass er damit die ganze Nachbarschaft aufgeweckt haben dürfte. Seine Hände griffen weiter ins Nichts und er wäre beinahe seinem Freund bereitwillig hinterhergesprungen.

Während seine Sicht vor Panik und sich ankündigenden Tränen schwammig wurde, folgte auch schon der nächste Schock: Bevor Blairs Körper den harten Asphalt erreichte, löste sich sein Körper in tausend kleine Lichtfunken auf und verschwand, ehe Jim den befürchteten Aufprall eines Körpers hören konnte.

Schwer atmend blinzelte Jim und glaubte erneut nicht, was er gerade gesehen hatte. Aber der Bürgersteig unter ihm blieb leer. Keine Spur seines Partners.

Verwirrt kletterte Jim wieder hinein. Entsetzt von dem soeben Erlebten stolperte er an Blairs leerem Bett vorbei hinaus in den Hauptraum des Lofts. Alles lag ruhig, wie er es hinterlassen hatte. Das Licht brannte noch immer im Badezimmer und Jim lugte kurz hinein, aber auch hier war niemand zu sehen. "Blair?" Jims Stimme zitterte. Angst, Verwirrung, Fassungslosigkeit - dies alles war in diesem einen Wort zu hören.

Geschockt fiel Jim auf die Knie, als ihm erneut nur Schweigen entgegen kam. Noch nie hatte er so viel Furcht empfunden oder auch Wut. Wut über sich selber, denn er realisierte langsam das Unfassbare:

Er hatte Blair alleine in diesem Geisterhaus zurückgelassen!


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