Disclaimer siehe Fanfiction-Seite.
Ok. Hier also der nächste Teil meiner Serie. Er ist Vorlage für die Teile 6 und 7. Aber dennoch ist es wieder dringend erforderlich, die vier vorigen Teile gelesen zu haben.
Erneute Spoiler-Warnungen für "Der tödliche Jaguar" (Sentinel Too). Und eine Anmerkung am Rande, für die Leute, die diesen Teil nicht so oft gesehen haben wie ich <g>: Alicia Bannister ist der richtige Name von Alex Barnes.
So, dann wieder das Gebettel um Feedback. Ich gebe ja nicht auf, sondern bin hartnäckig. Zuvor hab ich schon gesehen, wie schön ihr das könnt, aber das geht doch sicher noch besser, oder? <g> Schreibt mir, was das Zeug hält! Ich freue mich wirklich darüber, auch wenn es schlechte Kritik sein sollte. Hauptsache sie ist konstruktiv. Schließlich lernt man (und auch frau) aus den eigenen Fehlern. Also, worauf wartet ihr noch? :o)
Vielen Dank an meine Beta-Readerin! Sie hat mal wieder viele Fehler aufgespürt, aber alle verbleibenden sind natürlich von mir.
Teil 5 der Serie
Flashbacks und Visionen
von Fraggle
Beta-Read von Franzi
Dez. 2000 - Juli 2001
Johann Wolfgang von Goethe
Irene Peterson blickte gedankenverloren aus dem Fenster und beobachtete, wie unzählige kleine Schneeflocken vom Himmel in den Vorhof zur Pension hinunterrieselten. Die Berge im Hintergrund trugen wie gepudert eine dünne Schneedecke.
Die Minuten verstrichen und schnell hatte sich draußen über alles ein weißer Schleier gelegt. Irenes Blick wanderte zum einzigen Wagen im Vorhof. Auf dessen Dach bildete sich auch bereits eine dünne, weiße Schicht. Es schimmerte noch immer das satte Dunkelblau durch. Genaugenommen war der alte Käfer blaumetallic.
Sie schmunzelte und fühlte sich für einen kurzen Moment an den ersten Weihnachtstag zurückversetzt...
"Ich glaube, der Weihnachtsmann war da..." Kaum hatte Jim das Loft betreten, hielt er nach Irene Ausschau und trug ein verräterisch breites Grinsen auf. Er schaute kurz zu Blair hinüber, der dann ebenfalls von einem Ohr zum anderen grinste.
Jim war nur kurz rausgegangen um seinen Truck umzuparken. Er hatte gemeint, dieser stände schief. Das hatte zwar auch gestimmt, aber natürlich war es nur ein Vorwand. Er hatte von vornherein den Wagen absichtlich schräg in die Parklücke gefahren um später einen Grund zu haben, noch einmal nach draußen gehen zu müssen...
Die beiden Männer führten Irene vor die Haustür des Gebäudes. Und da stand er: ihr blauer Käfer! Irene schossen Tränen in die Augen und sie war sprachlos vor Freude. Ihr Liebling war mit einer großen, roten Schleife umbunden. Natürlich war es nicht ihr damaliger Käfer, mit dem sie vor Monaten in den schwarzen Porsche gefahren war. Der war nicht mehr zu retten gewesen und hatte Totalschaden erlitten. Aber dieser hier sah genauso aus... "Das kann ich nie und nimmer annehmen!"
Aber Jim und Blair bestanden darauf. Sie wussten, dass sich Irene keinen neuen Wagen leisten konnte und es war deren Art sich für alles zu bedanken. Denn Irene hatte damals ihnen beiden das Leben gerettet.
Obwohl Irene ein schlechtes Gewissen plagte - denn der Wagen hatte sicherlich ein halbes Vermögen gekostet- behielt sie ihn...
Und sie war froh darum. Sie hatte sich für heute etwas vorgenommen, was sie schon viel früher hätte machen sollen . Dafür musste sie durch ganz Cascade in den Nachbarort Milltown, wo sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte. Ihr war schon ein bisschen mulmig im Magen, wenn sie nur daran dachte. Aber früher oder später musste es mal sein und sie fand, dass heute ein guter Tag dafür war. Jim und Blair waren heute den ganzen Tag auf dem Police Department. Jim musste heute Abend noch auf den Geburtstag eines Freundes und arbeiten brauchte Irene heute auch nicht. Somit hatte sie den ganzen Tag Zeit für ihr gut überlegtes Vorhaben.
Sie zog sich ihren Mantel über und verließ das Zimmer.
James Ellison sah von seinen Unterlagen an seinem Schreibtisch im Police Department auf, als das Telefon klingelte. Er nahm ab und meldete sich knapp mit seinem Namen.
Schon an dem Räuspern am anderen Ende erkannte der Sentinel, dass es sich um Simon handelte. "Jim, kommen Sie und Sandburg bitte in mein Büro."
"Verstanden Sir", erwiderte er in alter Army-Manier und legte wieder auf. Wenn Simon sie per Telefon herrufen ließ, handelte es sich entweder um etwas sehr Ernstes oder er hatte entsprechenden Besuch. "Kommen Sie, Häuptling. Unser Typ wird verlangt."
Blair Sandburg saß an seinem Computer und verfasste gerade ein Bericht eines erneut gelösten Falls der beiden. Er nickte und folgte seinem Partner in das Büro des Captains.
"Das ist Patrick McCaughn. Er arbeitet bei der Cascade Central Bank", stellte Simon den Gast seinem Team vor, nachdem die beiden ins Büro getreten waren. "Genaugenommen ist er Vize Präsident der hiesigen Bank." Simon betonte die Stellung des Mannes auffällig.Jim und Blair reichten dem gut 40-jährigen Mann die Hände. Sein schwarzer Armani-Anzug betonte seine Seriosität ebenso, wie die sorgfältig gekämmten dunklen Haare und die grauen Strähnen an seinen Schläfen. Seine italienischen Markenschuhe und ein schwarzer Aktenkoffer rundeten das Bild eines klischeehaften Bankiers ab.
"Bitte erläutern Sie den beiden noch einmal, was Sie mir gerade erzählt haben, Mr. McCaughn." Simon deutete dabei auf den kleinen Konferenztisch, der bei ihm im Raum stand. Die vier Männer setzten sich.
"Nun, ich war vorgestern Abend noch spät unterwegs. Ich jogge nach der Arbeit immer, als Ausgleich zum Stress meines verantwortungsvollen Jobs. Diesmal nahm ich die Route durch den Portside Park..."
Bei der Erwähnung des Parks wurden Jim und Blair hellhörig. Der Detective hatte Simon darum gebeten ihn sofort zu unterrichten, falls es dort wieder zu einem Zwischenfall kommen sollte. Als Jim damals mit Esira durch ein Kunstwerk in Form eines Tores schritt, gab es einen Zeugen, der dabei beobachtet haben wollte, wie sie in einem hellen Licht verschwunden waren. Da es sich damals bei diesem Zeugen um einen betrunkenen Obdachlosen handelte, schenkte man ihm zuerst nicht viel Beachtung und ließ ihn ohne offizielle Zeugenaussage wieder gehen. Erst als Jim später die scheinbar unglaubliche Story bestätigte, wurde Simon für dieses Phänomen offener. Dennoch hatte man ihm weiterhin seine Skepsis angesehen. Vielleicht war dieser Geschäftsmann endlich die Person, die Simon erkennen ließ, was hier wirklich vor sich ging. Aber selbst Jim und Blair versuchten noch dahinter zu steigen und die Reihe der unglaublichen Geschehnisse zu verstehen...
McCaughn räusperte sich kurz, als er bemerkte, dass die beiden Partner mit ihren Gedanken woanders waren. Kurz darauf setzte er seine Ausführungen fort, als ihm ihre volle Aufmerksamkeit wieder gewiss war. "Dann kam ich an dieser größeren Rasenfläche vorbei, auf der in der Mitte ein altes Kunstwerk steht. Es stellt wohl eine Art Tor dar." Er machte eine kurze Pause. "Ich hatte von diesem merkwürdigen Vorfall von vor ein paar Wochen gehört, aber natürlich wie jeder andere es als eine weitere Phantasie eines armen Irren betrachtet."
Jim wurde ungeduldig. "Was genau haben Sie beobachtet?"
"Ich war schon halb an dem Tor vorbei, als ich eine Erleuchtung schräg hinter mir wahrnahm. Der Weg und die ganze Umgebung waren für einen kurzen Moment taghell beleuchtet. Ich drehte mich in die Richtung um, aus der das Licht kam. Es war dann nur noch für einen Bruchteil einer Sekunde ein großes, gleißendes Licht zu sehen, wo zuvor das Tor stand. Ich bin mir nicht sicher - denn es ging alles so wahnsinnig schnell - aber ich glaube inmitten des Lichts eine menschliche Gestalt gesehen zu haben, die daraufhin verschwand. Und mit der Person dann auch die Erscheinung."
McCaughn schielte kurz auf seine goldene Rolex. Wie es sich für einen Geschäftsmann seines Formats gehörte, war er in Eile. Er blickte nervös wieder auf. "Ich weiß, das klingt alles sehr verrückt, aber so war es und nicht anders."
Jim verzog leicht das Gesicht. Die ganze Art dieses McCaughn gefiel ihm überhaupt nicht. Aber was er gesehen hatte, war zweifellos wichtig für ihn und Blair. Vorausgesetzt, er sagte die Wahrheit, wovon Jim nicht sehr überzeugt war. "Mr. McCaughn, wieso kommen Sie erst heute damit zu uns?"
Der Bankier rümpfte die Nase, als wäre das eine unzumutbare Frage. "Ich habe einen Job zu erledigen, Detective. Ich war gestern auf einer wirklich wichtigen Tagung."
Der Sentinel fragte sich, ob das der tatsächliche Grund war oder ob McCaughn zuerst gar nicht eine Aussage machen wollte, vor Angst, sein Ansehen zu verlieren. Ein Geschäftsmann, der behauptete eine Art paranormale Erscheinung gesehen zu haben? Jims Instinkt vermutete schon wieder mehr dahinter... "Na schön, und um wie viel Uhr haben Sie das Schauspiel gesehen?"
"Hören Sie, ich habe es wirklich eilig. Mein Flieger startet in wenigen Stunden - eine wirklich..."
"... wichtige Tagung, ich weiß", vervollständigte Jim den Satz.
McCaughn nickte lächeln. Aber es war kein freundliches, eher ein herablassendes Lächeln. "Ich habe einem Ihrer Kollegen bereits alles zu Protokoll gegeben. Ihr Captain bestand darauf, dass ich Ihnen das ganze noch einmal persönlich schildere - und das habe ich hiermit getan." Mit diesen Worten erhob sich der Bankier und griff nach seinem Aktenkoffer. Bevor er sich bei den drei Männern verabschiedete, händigte er Jim noch eine Visitenkarte aus.
"Ich werde mich die nächsten drei Wochen in Europa aufhalten. Wenn Sie noch Fragen haben oder auch herausgefunden haben sollten, worum es sich hier handelt, rufen Sie mein Büro an. Mrs. Shields wird alle Nachrichten so bald wie möglich an mich weiterleiten."
Der Sentinel nickte. McCaughn schüttelte allen Beteiligten noch mal die Hand und verließ dann mit Megan, die draußen gewartet hatte, das Department.
"Na schön, was halten Sie davon, Jim?" Simon setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.
"Nun Sir, was glauben Sie, was ich davon halten soll? Glauben Sie diesem Mann?"
Verwundert blickte der Captain seinen Detective an. Auch Blair runzelte die Stirn. "Jim, dieser Mann ist Vizepräsident der Cascade..."
"Ja, ja, ich weiß. Meinetwegen kann er der Kaiser von China sein. Das bedeutet nicht, dass dieser immer die Wahrheit sagt", unterbrach er mürrisch.
"Sie glauben, McCaughn hat uns angelogen und die ganze Story nur erfunden?", fragte Blair verwirrt.
Simon war nicht minder irritiert. "Was soll das für einen Sinn machen, Jim? Wieso sollte er uns solche Lügengeschichten auftischen?"
"Ich weiß es nicht, Simon. Aber sein Herz raste. Er mag rein äußerlich sehr überzeugend gewirkt haben, aber seiner Herzschlagrate nach hat er gelogen, so viel steht fest. Als Geschäftsmann ist er geübt ein Pokerface aufzusetzen. Daran dürfen Sie sich nicht stören."
Der Captain stand auf und lief um seinen Schreibtisch herum. "Mal angenommen, er hat gelogen. Was wollte er dann damit bezwecken? Er hat seinen Ruf und somit seine hohe Stellung bei einer der besten Banken dieses Landes zu verlieren."
Jim stand vom Besprechungstisch auf. "Genau das ist es, was mir so Sorgen bereitet."
"Vielleicht war das gar nicht der Mann, für den er sich ausgegeben hat?", warf Blair mit ein.
"Schon möglich. Das sollten wir zuerst überprüfen", erwiderte Jim.
"Ich werde Megan das checken lassen", erklärte Simon.
"Sir, ich halte es für besser, wenn wir erst einmal mitspielen und so tun, als würden wir ihm glauben."
Der Captain nickte. "Was haben Sie vor?"
"Sandburg und ich werden noch einmal zum Tor fahren und uns dort umschauen. Vielleicht beobachtet er uns - oder einer seiner Komplizen."
Simon schüttelte vehement den Kopf. "Das halte ich für keine gute Idee. Es könnte eine Falle sein!"
"Sir, wenn wir nur hier rumsitzen und überlegen, was McCaughns Absichten sind, kommen wir zu keinem Ergebnis. Wir müssen dorthin. Es ist zur Zeit unser einziger Hinweis." Jim blickte seinen Captain erwartungsvoll an. Er gab keine Alternative und das wusste Simon.
"Na schön." Simon lief wieder hinter seinen Schreibtisch. "Aber seien Sie vorsichtig. McCaughn hatte speziell nach Ihnen als Ermittlungsteam verlangt." Er zeigte auf Blair. "Auf Sie beide!" Überrascht blickten sich Jim und Blair an.
"Wir werden Augen und Ohren offen halten, Sir", erwiderte Jim und verließ das Büro. Blair folgte ihm.
Daraufhin ließ Simon Megan zu sich rufen...
Irene parkte den Wagen am Straßenrand und machte ihn aus. Sie warf seitlich einen kurzen Blick auf das Haus vor dem sie gehalten hatte. Dann starrte sie wieder geradeaus und klopfte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Es hatte viel Überwindung gebraucht hierher zu kommen. Bisher war sie fest entschlossen gewesen. Doch jetzt fehlte ihr der Mut, den sie kurz zuvor erst noch gespürt hatte.
Wieder schaute sie auf das Haus. Diesmal betrachtete sie es genauer. Es hatte sich nicht viel verändert. Es wirkte lediglich nicht mehr so gepflegt wie früher. Die Fenster wurden schon vor halben Ewigkeiten nicht mehr gestrichen, ebenso die hölzerne Haustür. Außerdem fehlte noch irgendwas, worauf sie nicht direkt kam. Der Rasen im Vorgarten befand sich ebenfalls schon einmal in einem besseren Zustand. Zwischen den Pflastersteinen auf dem Weg zum Haus sprießte Unkraut aus allen Ecken und Ritzen hervor.
So kannte sie das Haus ihres Vaters nicht.
Er war immer sehr auf das Äußere fixiert. Sie wusste noch, wie sie jedes Wochenende Unkraut jäten musste oder Rasen mähen.
Das Haus wirkte in diesem Zustand fast schon vernachlässigt. Sie würde beinahe behaupten, jemand anders wohne hier. Aber sie hatte sich zuvor bei einem alten Freund ihres Vaters davon vergewissert, dass er noch hier wohnte.
Sie atmete noch einmal tief durch und stieg dann langsam aus den Wagen. Ihr Blick blieb dabei fast die ganze Zeit auf das Haus gerichtet. Andächtig aber auch etwas ängstlich, vor dem, was wohl nun auf sie zukommen würde, ging sie auf den Eingang zu. Erst jetzt fiel ihr auf, was sie vorhin vermisst hatte: Ihr Vater hatte vor der Haustür immer eine große und schwere Steinstatue einer Raubkatze vor der Tür stehen. Er hatte schon immer ein Faible für solch indianische Sachen. Ihre Mutter war nie sehr begeistert davon. Sie war überzeugte Katholikin gewesen und hatte das Tun ihres Mannes immer sehr misstrauisch beäugelt.
Zaghaft klopfte Irene an die Tür. Als sie keine Reaktion von drinnen wahrnahm, klopfte sie noch einmal heftiger.
Es tat sich nichts.
Schließlich versuchte sie mit Hilfe ihres geschärften Gehörs das Haus nach einem Lebenszeichen abzusuchen. Sie tastete sich Raum für Raum vor, musste aber resigniert feststellen, dass sich niemand im Haus aufhielt.
"Irene Peterson?"
Sie zuckte vor Schmerzen zusammen und schreckte vor dem plötzlichen Körperkontakt zurück.
"Irene? Hey, alles in Ordnung?"
Sie brauchte ein paar Sekunden um ihren Gehörsinn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Verwirrt starrte sie die Person vor sich an, die eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Erst, als sie sich allmählich vom Schrecken erholt hatte, wurde ihr klar, wer eigentlich vor ihr stand. "Mrs. Sharewood!"
Freudestrahlend umarmte die alte Dame sie und blickte sie noch einmal besorgt an. "Und bei dir ist alles ok, ja?"
Irene nickte. "Ja. Ich habe mich nur erschrocken!" Sie löste sich von der Umarmung und betrachtete ihre alte Nachbarin näher. Sie hatte sich nicht viel verändert. Lediglich ein paar Falten im Gesicht waren im Laufe der Jahre hinzugekommen. Ihr weißes, langes Haar trug sie noch immer sorgfältig nach hinten gekämmt. Ihre blauen Augen stachen farblich gegenüber ihrem blassen Gesicht hervor. Egal, ob Mrs. Sharewood lächelte, schimpfte oder so besorgt drein blickte wie gerade eben, sie hatte immer etwas an sich, dass Kinder an die typisch gutmütig und vertrauenserweckende Großmutter erinnern ließ.
"Aber sag mal, was führt dich hierher? Nach dem Streit mit deinem Vater vor sechs Jahren dachte ich nicht, dich hier noch einmal anzutreffen."
Das Mädchen seufzte. "Wie unglaubwürdig das auch klingt, aber ich wollte tatsächlich meinen Vater besuchen. Leider scheint er nicht zu Hause zu sein."
"Ich wusste, du würdest eines Tages zurückkehren! Ich habe es immer gewusst!" Mrs. Sharewood lächelte überglücklich. Irene glaubte erkennen zu können, wie die Augen der älteren Frau sich langsam mit Tränen füllten.
"Komm, mein Kind. Ich mache uns einen Tee." Sie hakte sich bei Irene unter und führte sie so zu ihrem Haus nebenan. Es gab viel zu bereden.
"Nun?", flüsterte Blair im ruhigen Ton. Er beobachtete gespannt den Sentinel, wie dieser mit Hilfe seiner geschärften Sinne langsam die Gegend nach anderen Personen untersuchte.
Jim schüttelte den Kopf. "Es scheint niemand in der Nähe zu sein."
"Gut." Blair öffnete die Tür zur Beifahrerseite und wollte gerade aussteigen, als Jim ihn am Arm festhielt.
"Sie bleiben hier. Ich möchte kein Risiko eingehen."
"Aber Jim. Sie haben doch selbst erst gerade festgestellt, dass niemand in der Nähe ist!" Blair blickte erzürnt zu seinem Partner hinüber.
Dieser verdrehte die Augen. "Was nicht ist, kann noch werden. Gut möglich, dass Simon Recht behält und das hier eine Falle ist. Abgesehen davon, dass laut Megan hier gestern eine Art Parkfest stattfand. Wir können von Glück reden, wenn wir hier überhaupt etwas finden."
Blair befreite sich aus Jims Griff und stieg aus. "Ich komme mit. Sie wissen genau, dass ich Ihnen dort bei Ihren Sinnen behilflich sein kann."
Jim stieg ebenfalls aus. Die Diskussion fand nun über dem Dach des Pick-ups statt. "Warum Sie auch immer so stur sein müssen, Sandburg!"
"Stur? Wer ist denn hier stur, Jim? Was ist schon dabei? Wenn uns jemand etwas hätte antun wollen, hätten die das schon längst machen können!" Er machte eine kurze Pause und blickte zum Tor. Es war nicht auszuschließen, dass Jim in der Gegenwart dieses Kunstgebildes Probleme mit seinen Sinnen bekommen könnte. Blair war davon überzeugt, dass dieses Portal eine mystische Geschichte verbarg. "Ich komme mit." Er wandte seinen Blick wieder auf seinen Partner. "Basta." Blair knallte die Autotür zu und sah Jim entschlossen an.
Der Sentinel erkannte, dass Sandburg sich nicht umstimmen lassen würde und gab widerwillig nach.
Sie liefen zum Tor und Jim begann einen Sinn nach dem anderen einzusetzen um etwas Brauchbares zu entdecken. Blair unterstützte ihn dabei, wo er konnte.
Trotz Jims Vorsicht wurden sie aus sicherer Entfernung von zwei Männern bei ihren Untersuchungen beobachtet. Einer der Männer filmte das Team sogar. Unter seiner grauen Wollmütze quirlten ein paar rote Locken hervor. Ansonsten war er genauso wie sein Kollege völlig in Schwarz gekleidet.
Schließlich nickte der Unbekannte mit der Kamera seinem Begleiter zu.
Der Zweite lächelte zufrieden, wobei sein vorderer Goldzahn blinkte. Die große Narbe an seiner rechten Wange reichte von unter dem Auge bis fast an das Kinn. Seine dunklen Haare trug er kurz rasiert, daher verzichtete er auch auf eine Kopfbedeckung. Er blickte wieder in sein Fernglas und sah, wie Ellison eine Feder in seiner Hand hielt, sie näher musterte und schließlich in eine Plastiktüte steckte. Natürlich trug der Detective wie üblich dabei seine Plastikhandschuhe.
"Sie haben den Köder geschluckt, Leon", meinte der Langhaarige zu seinem Partner, aber wandte seinen Blick nicht von der Kamera ab. "Mal sehen, was sie daraus machen..."
Irene versuchte die eben erfahrenen Informationen von Mrs. Sharewood zu verarbeiten. "Und Sie wissen nicht, was Dad in Mexiko möchte?"
Mrs. Sharewood schüttelte den Kopf. "Nein. Er sagte außerdem, er wüsste nicht, wann er wieder zurückkommt. Er war die letzten Jahre schon mehrmals da unten. Ich weiß wirklich nicht, was ihn dort hinzieht."
"Wie lange ist er denn schon weg?"
Die ältere Frau überlegte einen kurzen Moment. "Etwa ein gutes, halbes Jahr." Sie blickte in Irenes besorgte Augen. "Hey mein Mäuschen. Es wird ihm schon gut gehen. Das letzte Mal war er fast genauso lange weg!"
Irene lächelte. 'Mäuschen'. So hatte Mrs. Sharewood sie früher immer genannt, wenn sie abends bei ihr auf dem Schoß saß und ihren Geschichten und Anekdoten zugehört hatte.
Sie saßen für einige Sekunden still da und starrten in ihre mittlerweile leeren Tassen. Schließlich ergriff Irene wieder das Wort: "Was ist eigentlich aus der alten Statue geworden, die er sonst immer vor der Tür stehen hatte?"
"Oh, die hat er noch immer. Nur hat er sie jetzt ins Wohnzimmer in Sicherheit gebracht."
"In Sicherheit?", hakte Irene nach.
"Ja." Mrs. Sharewood begann den Tisch abzuräumen. Irene ging ihr zur Hand. "Die Jugendlichen haben irgendwann mal angefangen sie mit Farbe zu bewerfen. Und ab und zu lag sie am nächsten Morgen um."
Irene musste lächeln. Früher hatten die meisten Kinder aus ihrer Nachbarschaft noch Angst vor der versteinerten Figur. Die Zeiten änderten sich...
"Brandon brauchte drei Helfer um sie ins Wohnzimmer zu schaffen. Das Ding ist verdammt schwer." Mrs. Sharewood lächelte. "Möchtest du sie dir anschauen? Ich habe den Schlüssel. Irgendeiner muss sich ja in der ganzen Zeit um das Haus kümmern."
Irene starrte für einen kurzen Moment nur ins Leere und überlegte, ob sie wirklich dort reingehen sollte.
Mrs. Sharewood legte eine Hand auf Irenes Unterarm. "Dein Vater hätte sicher nichts dagegen", beschwichtigte sie, als könnte sie Irenes Gedanken lesen.
Das Mädchen nickte. "Also gut."
Sie erledigten noch gerade den Abwasch und liefen dann hinüber in Irenes altes Zuhause.
Jim und Blair setzten sich in den Pausenraum. Der Sentinel holte die in einer Plastiktüte eingepackte Feder heraus und legte sie nachdenklich auf den Tisch.
"Sollten wir den Fund nicht melden?", fragte Blair. Er wusste noch zu genau, wie aufgebracht Jim war, als er einmal eine wichtige Information bezüglich eines Beweisstücks in einem Mordfall zurückgehalten hatte.
Jim schüttelte den Kopf. "Das werde ich tun, sobald ich mir das Ding näher angeschaut habe..." Er runzelte die Stirn, als er zum wiederholten Male das Fundstück musterte.
Blair zeigte auf die Tüte. "Und? Sie haben doch schon irgendeine Vorahnung. Sie ist von Esira, oder?"
Der Sentinel räusperte sich kurz. "So viel ich beurteilen kann, nicht."
Verwundert starrte Blair seinen Partner an. "Nicht? Aber wie wollen Sie das mit bloßem Auge erkennen? Ich meine, selbst mit ihrem geschärften Sinn..."
"Es hat nichts mit meinen Sinnen zu tun, Sandburg", unterbrach Jim wiederholt. "Vielmehr mit... Instinkt."
"Instinkt?" Blair blinzelte einige Male. "Wie meinen Sie das?"
Jim seufzte. "Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es ist zwar eine Falkenfeder wie damals die aus unserer Wohnung, die Esira dort hinterlassen hatte. Aber ich spüre nicht das Gleiche wie bei der ersten Feder."
"Das Gleiche?"
Der Sentinel blickte kurz um sich um sicherzugehen, dass niemand ihnen zuhörte. "Als ich damals die Feder sah oder in die Hand nahm hörte ich einen Vogelschrei - den eines Falken. Ich spürte, dass diese Feder etwas Besonderes war. Aber diese hier..." Er betrachtete das Fundstück in der Tüte noch einmal genauer. "Sie ist wie jede andere und löst nichts in mir aus, wenn Sie wissen, was ich meine. Es ist einfach nur... eine Feder."
Jim schmiss die Tüte wieder vor sich auf den Tisch und stand nachdenklich auf. "Ich weiß, das macht alles keinen Sinn."
Blair hatte ihm die ganze Zeit konzentriert zugehört. "Das würde ich nicht sagen..." Er schaute überlegt auf das Fundstück. "Haben wir noch die alte Feder?"
"Nein. Sie ist auf unerklärliche Weise kurz nach der ganzen Geschichte verschwunden."
"Glauben Sie, Esira hat sie sich wiedergeholt?"
"Ich weiß es nicht, Häuptling." Jim setzte sich wieder. " Esira ist mir sowieso ein Rätsel."
"Nun, wir wissen mittlerweile, dass sie eine Schamanin ist. Das erklärt auch, weshalb ihre Feder in Ihnen etwas ausgelöst hatte. Und Esira hat uns beiden das Leben gerettet."
"Falsch. Sie hat Ihnen das Leben gerettet. Und Sie haben mir dann das Leben gerettet", korrigierte Jim.
Blair zuckte mit den Schultern. "Das kommt aufs Selbe hinaus. Und ohne Esira hätte ich auch nicht gewusst, was ich hätte tun sollen."
"Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass sie ins Loft eingebrochen ist und sich an Ihren Unterlagen bedient hat", warf Jim ein.
"Richtig", gab Blair zu. "Was Sie aber tat um uns beiden zu helfen."
Jim verdrehte die Augen gen Himmel. "Es bleibt trotzdem ein Einbruch. Und wir wissen nicht, wie sie an das Passwort zu Ihren Laptop kam und was sie aus den gewonnenen Daten gemacht hat!"
"Als Schamanin hat sie Kräfte, die uns fremd sind." Er machte eine kurze Pause und blickte seinem Partner direkt in die Augen. "Jim, sie ist auf unserer Seite."
Der Sentinel schnappte sich das Beweisstück aus dem Park und stand wieder auf. "Davon bin ich noch nicht ganz überzeugt." Er öffnete die Tür. "Kommen Sie, Häuptling. Wir wollen hören, was Megan für Informationen für uns hat."
Blair folgte ihm ins Großraumbüro der Abteilung für Gewaltverbrechen.
So hatte Irene die Wohnung ihres Vaters nicht in Erinnerung: Überall hingen Bilder von ihr und ihren Eltern. Wo früher Schwert, Degen und Säbel über dem Kamin waren, fand man jetzt Familienfotos. Verwirrt blickte Irene Mrs. Sharewood an.
Die alte Damen nickte nur. "Dein Vater ist nicht mehr der, für den du ihn hältst, Irene. Er hat sich verändert." Sie trat näher an Irene heran.
Das Mädchen schaute sich die vielen eingerahmten Bilder an. Sie entfachten Erinnerungen an ihre Kindheit.
Mrs. Sharewood folgte ihrem Blick und stellte sich schräg hinter sie. "Brandon hat oft von dir gesprochen. Die erste Zeit nach eurem Streit war er wütend. Aber im Laufe der Wochen und Monate sah man ihm sein Bedauern über die ganzen Geschehnisse an. Er hat sogar einige Monate nach dir gesucht und war fest entschlossen dich wieder zurückzuholen."
Irene wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte keine Ahnung. Sie fühlte, wie ihr langsam Tränen in die Augen schossen.
"Oh, hier ist außerdem die Statue, von der du gesprochen hast", unterbrach Mrs. Sharewood ihre Gedanken und trat einige Schritte Richtung Fensterwand.
Das Mädchen sah ihr nach. Und da stand sie: die steinerne Jaguarstatue. Von draußen schien sanft weißes Licht auf sie herab, so dass die Konturen bestens zu erkennen waren. Sie stellte einen sitzenden Jaguar dar, der bedrohlich seine langen, scharfen Zähne fletschte.
Irene ging langsam auf die Statue zu und kniete sich vor ihr nieder. Sie streckte ihren Arm aus um sie zu berühren. Doch bevor sie das Material unter ihren Fingern spüren konnte, durchfuhr es sie.
Sie war plötzlich in diesem Raum der Mayapyramide, in der sie sich schon mehrmals in Visionen wiedergefunden hatte. In der Mitte befand sich eine ähnliche Statue. Bei genaueren Betrachten erkannte sie, dass es genau die gleiche war. Um die Statue herum befanden sich flache, rechteckige Behälter, die mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt waren.
Irene betrat diesen Raum und erkannte, dass die Wände mit Hyroglyphen übersät waren. Sie kniete sich neben einen der Behälter. Vorsichtig führte sie ihre Hand in die Flüssigkeit und war ein wenig enttäuscht, als sie keine Veränderung bemerkte.
Plötzlich hörte sie Wasser plätschern und sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Aus einem anderem dieser mysteriösen Gefäße stieg eine Person. Sie traute ihren Augen kam, als sie erkannte, dass es sich hierbei um ihre Mutter handelte.
"Mum?" Zitternd stand sie auf und lief zu ihrer eigentlich toten Mutter. "Mum!"
Ihre Mutter hielt ihr eine Hand entgegen. Irene verstand, was sie wollte, aber Angst hielt sie zurück ihrer Mutter zu folgen. Im gleichen Moment hörte sie erneut, wie jemand aus einen der Behälter stieg und sah, wie ihre Halbschwester Alicia sie stumm und mit großen Augen anstarrte. Direkt daneben stieg dann auch Jim aus einer der Wannen.
"Was geht hier vor? Wo sind wir hier?" Irenes Frage blieb unbeantwortet. Stattdessen spürte sie, wie sie etwas zurück in die Realität zog.
"Irene, mein Kind. Bitte sag doch etwas!" Mrs. Sharewood rüttelte an ihr und sah sie mit einem besorgten Blick an.
Das Mädchen blinzelte einige Male und kam schließlich wieder zu vollem Bewusstsein. "Mrs. Sharewood?", flüsterte sie leise, so dass die ältere Frau Mühe hatte es zu verstehen. Sie stand langsam auf und ließ sich dabei gerne helfen. Ihr zitterten etwas die Knie, wobei sie sich fragte, wieso. Sie setzte sich erst einmal auf einen Sessel, der gleich in der Nähe stand.
"Alles in Ordnung? Ich rufe am besten einen Krankenwagen!" Mrs. Sharewood war schon auf den halben Weg zum Telefon.
"Nein, es geht schon, wirklich!" Irene versuchte sie zu beruhigen. Wie sollte sie ihr auch klarmachen, was sie gerade erlebt hatte?
"Aber du warst fast fünf Minuten wie weggetreten. Ich war kurz davor, den Notdienst anzurufen. Hast du das öfters?"
Irene überlegte. Wenn sie tatsächlich so lange weggetreten war, dann würde das zumindest erklären, warum sie so wackelig auf den Beinen war. Schließlich hatte sie die ganze Zeit dabei gekniet. Aber ihr war nicht bewusst, dass ihre Vision so lange angedauert hatte...
Sie konnte gut nachvollziehen, dass Mrs. Sharewood dabei Angst bekommen hatte. Außerdem musste es auf die ältere Frau so wirken, als wäre das bereits der zweite Vorfall dieser Art in ihrer Gegenwart. Irene dachte dabei daran, als sie sich auf mögliche Personen im Haus ihres Vaters konzentriert und sie so nicht Mrs. Sharewoods Rufen gehört hatte.
"Irene?"
"Schon gut, ich war nur im Gedanken versunken. Ich war bereits einige Male deswegen beim Arzt, aber es ist nichts, worum man sich Sorgen machen müsste", log sie.
"Nichts, worum man sich Sorgen machen müsste? Irene, du warst richtig weggetreten! Was ist, wenn dir das in der Öffentlichkeit passiert? Wenn du gerade über die Straße läufst?" Mrs. Sharewood wurde ungewollt laut, aber sie konnte nicht fassen, dass das Mädchen diesen Vorfall so einfach dahinnahm.
"Mrs. Sharewood", begann Irene ruhig, "ich habe wirklich alles unter Kontrolle. Diese Vorfälle geschehen nur, wenn ich mich zu stark konzentriere. Der Arzt sagte, das wäre etwas mit dem Kreislauf. Es muss wohl etwas mit der ganzen Aufregung zu tun haben, dadurch, dass ich wieder hier im Haus meines Vaters bin. Es ist alles wieder gut, ehrlich!" Sie hob dabei beschwichtigend ihre Hände und stand von dem Sessel auf.
Die alte Dame musterte das Mädchen misstrauisch aber entschied sich dafür es dabei zu belassen. "Na schön. Aber wenn es noch einmal zu so einem Vorfall kommen sollte, rufe ich einen Krankenwagen!"
"Ok." Irene nickte und hoffte, dass es dazu nicht kommen würde.
Nach ein paar Minuten des Schweigens begann Mrs. Sharewood schon wieder freundlich zu grinsen. "Was ist? Hast du Lust den Rest des Hauses zu sehen?"
"Klar", erwiderte Irene, froh, dass das Thema nun erst einmal vom Tisch war. "Wie wäre es, wenn wir mit meinem alten Zimmer weitermachen?"
Mrs. Sharewood lächelte und folgte Irene hoch zu ihrem alten Kinderzimmer.
Niedergeschlagen verließen die beiden ungleichen Partner den Lift zur Tiefgarage des Police Department und steuerten den blau-weißen Ford Pick-up an. Den ganzen Tag noch hatten Jim und Blair versucht einen Schatten mit dem Namen Esira zu fangen, aber es gab selbst nach wochenlanger Recherche keinen Hinweis auf ihren Verbleib oder ihre Person.
Von Megan hatten sie nur einige wenige Daten zu McCaughn erfahren. Allerdings waren diese auch nicht hilfreicher. Sie wussten jetzt, dass McCaughn auf ungewöhnlich schnelle Art und Weise Karriere machte. Im heutigen Zeitalter war das aber sicher keine Seltenheit. Vermutlich hatte er einfach die nötigen Beziehungen. Damit war natürlich noch nicht über seine Lügengeschichte hinweggesehen.
"Ich setze Sie gerade zu Hause ab und fahre dann zu Ricks Geburtstag."
Sandburg nickte.
Wenige Minuten später stand Blair schließlich vor der Eingangstür des Lofts. Er staunte nicht schlecht, als ihm in dem Moment, in dem er gerade seinen Schlüssel in das Schloss stecken wollte, die Tür geöffnet wurde. Vor ihm stand Irene.
"Hi, ich habe Sie schon kommen hören", sie lächelte schüchtern und ließ Blair an sie vorbei ins Loft. "Oh, ich habe von Jim noch einen Zweitschlüssel, bevor Sie fragen."
Blair nickte. "Ich dachte mir so etwas schon." Er zog sich seine Jacke aus und hing sie an die Garderobe. "Jim ist allerdings heute Abend auf einen Geburtstag."
"Ich weiß", erwiderte Irene. "Ich bin nicht wegen Jim hier."
Verwundert drehte sich Blair zu ihr um. Die vorigen Wochen, in denen sie hier kurzweilig gelebt hatte, hatte Irene recht eindeutig versucht einen großen Bogen um ihn zu machen. Sie war keinesfalls unhöflich. Ganz im Gegenteil, sie war immer sehr freundlich. Aber sie versuchte Blair ganz offensichtlich aus den Weg zu gehen und war immer sehr bemüht gewesen, nicht eine Minute mit ihm alleine in einem Raum zu verbringen.
Der junge Guide hatte mehrmals versucht sie zu einem Gespräch zu bewegen bezüglich ihrer geschärften Sinne. Mehrmals bot er Irene seine Hilfe an, aber sie hatte sie jedes Mal abgewiesen. Nun plötzlich stand sie vor ihm und wollte sich mit ihm unterhalten...
"Na schön. Wie wäre es, wenn Sie sich erst einmal setzen." Er bot ihr einen Platz auf der Couch an und sie nahm ihn höflich an. "Vielleicht möchten Sie einen Kaffee oder Tee?"
Irene überlegte kurz und entschied sich für einen Tee.
Kurze Zeit später saßen sie sich schräg gegenüber, jeweils die dampfende Tasse Tee in der Hand. Irene klammerte sich daran. Sie war kurz in Gedanken versunken und überlegte sich, wo sie anfangen sollte. Blair bemerkte direkt ihre Unentschlossenheit und wartete geduldig darauf, dass sie von sich aus anfangen würde zu erzählen, was auch immer ihr auf den Herzen lag.
"Sie boten mir vor ein paar Wochen an mir bei meinen Fähigkeiten zu helfen", begann sie schließlich.
Blair nickte. "Richtig. Und das Angebot steht noch immer."
Sie lächelte ihn dankend an.
"Hatten Sie in letzter Zeit Probleme mit Ihren Sinnen?", hakte der junge Anthropologe nach.
"Nein, nicht direkt." Irene nahm einen Schluck des köstlichen Kräutertees. Sie bemerkte Blairs fragenden Blick. "Ich hatte heute eine Vision."
"Eine Vision", wiederholte Blair. "Worum ging es?"
"Das weiß ich nicht genau, deswegen bin ich ja hier." Sie schaute von ihrer Tasse auf. "Ich habe schon länger diese Visionen. Jedes Mal befand ich mich im Dschungel. Ich lief auf einen Maya-Tempel zu. Im Inneren befand sich ein mystischer Raum. Zuvor sah ich immer nur kurz in diesen Raum hinein. Aber heute war es anders."
"Was für ein Raum war das? Und was war daran anders?"
"In der Mitte des Raumes befand sich eine Jaguarstatue. Darum waren kreisförmig wannenähnliche Behälter angeordnet. Ich lief durch diesen Raum und fuhr mit meiner Hand durch die dunkle Flüssigkeit, die in jeder dieser Behälter war. Kurz darauf sah ich jemanden aus einer dieser Wannen steigen." Irene machte eine Pause und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse.
"Und wen sahen Sie daraus steigen?" Blair hatte das Gefühl, dass der Clou erst noch folgte.
Irene blickte zu Boden. "Meine Mutter." Sie sprach es sehr leise aus, so dass sich Blair erst davon vergewissern musste, dass er es richtig verstanden hatte.
"Ihre Mutter?", hakte er nach.
"Ja", antwortete Irene schlicht, blickte aber nicht auf. "Daraufhin sah ich dann Alicia aus einem anderen Behälter aufstehen und danach Jim."
Blair wurde unruhig. "Was glauben Sie, hatte Ihre Mutter für eine Bedeutung?"
Irene sah ihn wieder direkt an. "Sie kennen doch schon die Antwort."
"Sagen wir ich habe eine Ahnung", erwiderte Blair schlicht.
Irene seufzte. "Ja, meine Mutter war eine Sentinel. Nachdem Sie von meinen Fähigkeiten gehört haben, müsste das ja wohl auch ziemlich offensichtlich gewesen sein. Schließlich hatten Alicia und ich die gleiche Mutter und beide haben wir geschärfte Sinne."
Der junge Anthropologe nickte. "Natürlich hatte ich schon so etwas vermutet oder zumindest in Erwägung gezogen..."
"Zumindest versuchte mich meine Mutter dazu zu bewegen, dass ich mich ebenfalls in einen dieser Behälter legen sollte. Und dann endete die Vision." Irene blickte Blair an, der sichtlich über die neugewonnen Informationen nachdachte. "Nun?", fragte sie nach einer Weile.
"Irene, ich weiß nicht, in wie weit Ihre Schwester Ihnen etwas über den Tempel des Lichts in Mexiko erzählt hatte...?"
"Hat sie. Und mehr als einmal. Sie sprach oft davon. Ich weiß, dass es dort auch solche Behälter gab. Aber so, wie sie es beschrieben hatte, gab es ansonsten keine anderen Parallelen zu meinen Visionen. Außerdem war da noch etwas: In meinen Visionen war ich immer mindestens zehn Jahre jünger. Sie wirkten so eher wie eine Erinnerung. Nur heute war ich sozusagen in der Gegenwart."
Für einen kurzen Moment hatte Irene geglaubt einen erschrockenen Blick in Blairs Gesicht erkennen zu können, als sie erwähnt hatte, dass sie in den Visionen wohl ein Teenie war. Außerdem schlug sein Puls plötzlich schneller...
"Macht das alles irgendeinen Sinn?"
Blair versuchte sich rein äußerlich nichts anmerken zu lassen. "Ich weiß es nicht."
"Aber Sie haben doch schon eine Ahnung!"
Der junge Anthropologe merkte, dass er ihr nichts vormachen konnte. "Na gut, die habe ich", gab er ehrlich zu. "Aber ich möchte der Sache erst einmal nachgehen. Gut möglich, dass ich mich irre. Wie wäre es, wenn wir uns morgen Abend noch mal treffen? Bis dahin dürfte ich mehr wissen."
Für Irene kam das ziemlich überraschend. Scheinbar war mehr an der Sache, als sie dachte. "Ja gut."
"Ich kenne da ein nettes kleines Lokal, genau das Richtige für uns. Es ist öffentlich und dennoch kann man sich dort gut ungestört unterhalten. Es heißt Le Railcar Restaurant."
"Das Restaurant in der Water Street in dem ausgebauten Eisenbahnwaggon?"
"Ja, genau das. 19 Uhr dort morgen? Ich bestelle uns einen Tisch." Als er Irenes Unentschlossenheit bemerkte, fügte er noch schnell hinzu: "Natürlich ist das Treffen rein informativ."
Schließlich sagte Irene zu. Blair war ihre einzige Hoffnung bei der Entschlüsselung dieser Visionen. Und er schien etwas zu wissen...
Das Tier raste durch das Buschwerk des Dschungels bis es einen Tempel der Maya erreichte. Vor sich sah es einen Mann in Militärkleidung. Er trug das Abzeichen eines Army Rangers. Er war kräftig gebaut und seine braunen, kurzen Haare wurden größtenteils durch ein olivgrünes Käppi verdeckt.
Der Soldat entdeckte das Tier und betrachtete es aufmerksam. Seine stahlblauen Augen bohrten sich in die der Raubkatze. Für einen kurzen Moment standen sie beide nur still da und starrten sich an.
Schließlich lief der Soldat die Stufen zum Tempel hinauf. Das Tier fauchte aber der Mann ließ sich davon nicht beirren. Als die Raubkatze ihn durch den Eingang verschwinden sah, folgte sie ihm kurzerhand.
Innen gab es einen prächtig geschmückten Saal aber das geschmeidige Tier schenkte dem allen keine Aufmerksamkeit und folgte dem jungen Mann. Es holte ihn ein und beobachtete, wie er einen Raum betrat, in dem andere Personen jedem Alters und verschiedener Herkünften auf ihn wartete.
Einige der Personen kamen dem Panther bekannt vor. Er lief zur Mitte des Raumes. Dort stand eine Statue einer Raubkatze. Schließlich verwandelte sich der schwarze Jaguar in Jim und sah, wie sein jüngeres Ich, dem er bis hierhin gefolgt war, in einen Behälter mit dunkler Flüssigkeit stieg. Die andere Personen taten es ihm gleich. Der Sentinel trat ebenfalls an eine freie Wanne und stieg hinein. Er spürte noch, wie die kalte Flüssigkeit ihn umgab. Danach wurde es schwarz um ihn...
Als er schließlich wieder die Augen öffnete, glaubte er von einem Traum erwacht worden zu sein. Aber er musste direkt feststellen, dass dieser Traum noch nicht zuende war. Er richtete sich in der Flüssigkeit auf und bemerkte, wie er von mehreren Personen umgeben war, die ihn neugierig beobachteten - einschließlich seine jüngere Version von sich selbst. Direkt an dessen Seite erkannte er Alex, die ebenfalls jünger war. Neben ihr war ein junges Mädchen, kaum älter als zehn. Auch sie wirkte auf ihn bekannt, aber er konnte sie nicht direkt zuordnen. Die anderen Personen waren ihm absolut unbekannt.
"Wer seid ihr und was mache ich hier?", hörte er sich selber fragen.
Sein anderes Ich antwortete ihm: "Du weißt, wer wir sind."
"Und du weißt wo wir sind", ergänzte Alex.
Das Mädchen blickte ihn mit grünen, funkelnden Augen an. In diesem Moment war Jim klar, dass das Irene sein musste, die genau wie jeder andere hier, jünger war. "Jetzt schließt sich der Kreis", erklärte sie.
"Der Kreis? Ich verstehe nicht!" Jim stand auf und blickte fragend in die Runde.
Schließlich trat Blair aus einem Schatten im hinteren Teil des Raumes. Er erschien ebenfalls um über zehn Jahre jünger. "Du wirst verstehen und in diesem Moment wissen, was du zu tun hast."
Plötzlich verschwanden alle Personen und die Umgebung. Für eine kurze Zeit sah Jim nur Dunkelheit um sich. Schließlich aber erkannte er Konturen und sah, dass er sich in seinem Bett befand.
Von unten hörte er das Tippgeräusch von Blairs Laptop. Er schaute kurz auf seinen Wecker. Es war nach drei Uhr nachts. Als er kurz vor Mitternacht gestern Abend wiederkam, war Sandburg so in seinen Unterlagen vertieft, dass er für Jim kaum ansprechbar war. Das war keine Seltenheit. Wenn der junge Anthropologe sich in seine Arbeit stürzte, vergaß er schnell alles um sich herum.
Jim stand auf und zog sich seinen Morgenmantel über. Erst jetzt bemerkte er, dass er schweißgebadet war. Flashbacks seiner Vision schossen ihm durch den Kopf. Er überlegte, ob er seinem Guide davon erzählen sollte. Aber er entschloss sich, auf eine gute Gelegenheit im Laufe des Tages zu warten. Jetzt musste er erst einmal dafür sorgen, dass Blair zu etwas Schlaf kam.
Kopfschüttelnd lief er die Stufen ins Wohnzimmer hinab. Manchmal hatte er das Gefühl, Sandburg würde seinen 'gesegneten Beschützer', wie Blair ihn einmal treffender weise genannt hatte, regelrecht herausfordern.
Er klopfte kurz an die französischen Türen des kleinen Raumes um die Privatsphäre seines Mitbewohners zu wahren. Er stellte fest, dass das Tippen aufhörte und sah vorsichtig hinein. "Guten Morgen, Häuptling. Etwas früh dran oder soll ich lieber 'spät' sagen?"
Blair nahm seine Brille ab, die er zum Arbeiten an seinem Laptop und zum Lesen benutzte. "Oh tut mir leid, Jim. Ich wollte Sie nicht wecken." Er speicherte seine Unterlagen auf dem Computer ab und fuhr ihn runter.
"Sie haben mich nicht geweckt. Ich wurde von einem, ähm, Traum wach und hörte Sie noch hier unten arbeiten. Glauben Sie nicht, Sie übertreiben es etwas?" Jim trat ganz herein. Sein besorgter Ton war nicht zu überhören.
Mittlerweile hatte Blair seinen Laptop ausgestellt und zusammengeklappt. "Tut mir leid, Jim. Sie haben wahrscheinlich Recht. Aber von was für einen Traum sprechen Sie? Hatten Sie eine Vision?"
Der Sentinel tat die Sache mit einer Handbewegung ab. "Sehen Sie erst einmal zu, dass Sie jetzt schlafen. Es war nichts. Wir können morgen darüber reden, Ok?"
"Nein, nein, Jim. Das ist wichtig. Sie verstehen nicht... Jim!" Blair eilte seinem Mitbewohner nach, der sich gerade wieder auf den Weg nach oben machte.
"Sandburg, ich sage es zum letzten Mal: Gehen Sie jetzt schlafen. Ich habe keine Lust Sie morgen ständig wach halten zu müssen!" Verärgert zog sich Jim seinen Morgenmantel wieder aus und legte sich in sein Bett. Er stellte fest, dass Blair noch einige Sekunden unten einfach nur dastand. Vermutlich fragte er sich, ob er noch einmal nachhaken oder lieber den Rat seines Partners folgen sollte. Er schien sich für das letztere zu entscheiden und lief zurück in seinen Raum. Nur wenige Minuten später hörte der Sentinel, wie sein Guide sich endlich hinlegte.
Unter den vielen tausend Reisenden, die sich hier noch reihten, fiel er nicht auf. Und das war auch gut so. Jetzt hieß es ruhig bleiben und sich für eine Weile verdeckt halten.
Patrick McCaughn lief auf die blaue Tür zu, auf der in Weiß "Nur für Bedienstete" stand. Er öffnete sie vorsichtig und schlich schnell hinein. Erst, als er die Türe hinter sich wieder geschlossen hatte, knipste er das Licht für den kleinen Raum an. Er war umgeben von Regalen, in denen allerlei Schmuggelware gelagert wurde. Neben Artefakten und teurem Schmuck und Uhren gab es noch viele Felle und ausgestopfte Tiere. Beim Anblick der vielen leblosen Körper, die ihn bedrohlich anstarrten, schauerte es ihm.
Plötzlich riss die Tür hinter ihm auf und er drehte sich erschrocken um. "Verdammt noch mal, müssen Sie mich denn so erschrecken?"
Zwei Männer traten in den Raum und grinsten. "Mein Name ist Franz Neumann. Das ist Phillip Arndt. Wir sind hier Ihre Kontaktmänner, Mr. McCaughn." Mit diesen Worten händigte Neumann dem Briten seinen Ausweis und den seines Begleiters.
McCaughn betrachtete sich seine Kontaktpersonen erst einmal etwas genauer. Phillip Arndt war optisch ein arisch Deutscher wie aus dem Bilderbuch. Sein hellblondes, kurzes Haar trug er per Gel streng nach hinten gekämmt. Dadurch kam seine viel zu lange Hakennase besser zur Geltung, was sicher nicht seinem Äußeren vom Vorteil war. Die blau-grauen Augen erwiderten McCaughns Blick selbstsicher. Arndts Händedruck war fest und bestimmt wie der Brite es von einem Mann seiner muskulösen Statur erwartet hatte.
Daraufhin wandte er sich dem anderen Deutschen zu. Franz Neumann war etwas größer und schlaksiger als sein Kollege. Sein haselnussbraunes, kurzes Haar stand auch mit Hilfe von Gel in mehrere Richtungen ab, was ihn jünger aussehen ließ, als er vermutlich war. McCaughn schätzte seine beiden Gegenüber auf Mitte bis Ende Dreißig.
Neumann machte mit seinem Dreitagebart und seiner wilden Haarfrisur den Eindruck eines Draufgängers. Seine dunkelbraunen Augen spiegelten den Abenteurer in sich wider. McCaughn war sich sicher, dass Neumann der Frauenschwarm schlechthin war. Sein Händedruck war ebenso fest wie der seines Partners, allerdings auch etwas feucht. Daraus schloss McCaughn, dass Neumann äußerlich gelassener erschien, als er es tatsächlich war. Offensichtlich war der Deutsche genauso nervös wie er selbst.
McCaughn begutachtete kurz die Pässe, nickte und gab den beiden Männern ihre Ausweise wieder zurück. "Gut. Ich hoffe, es ist alles arrangiert?"
"Haben Sie den Job ausgeführt?", erwiderte Neumann mit einer Gegenfrage.
"Natürlich", antwortete McCaughn fast schon beleidigt. "Sonst wäre ich ja wohl kaum hier."
"Wir begleiten Sie zu ihrem Hotel. Dort wartet bereits unser Chef auf Sie. In einer Stunde möchte er sich mit Ihnen in der Lounge treffen", erklärte Arndt dem Gast kurz. "Ich schlage aber vor, dass wir jetzt erst einmal losfahren bevor wir in Stau geraten."
Wieder nickte McCaughn. Sein Handgepäck ließ er von den beiden Männern tragen. Die restlichen Koffer wurden vom Chauffeur des wartenden Mercedes in deren Kofferraum verfrachtet.
Der schwarze, luxuriöse Wagen entfernte sich wenige Minuten später vom Flughafen und reihte sich in die Straße, die direkt in die Frankfurter City führte...
Er war von seiner Expeditionsgruppe getrennt worden. Während er sich nur kurz bei den Ruinen einer kleinen Grabstätte umgeschaut hatte, hatten sich seine Gruppenmitglieder wieder von dort entfernt und nicht bemerkt, dass sie ihr jüngstes Mitglied somit zurückließen.
Mit seinen neunzehn Jahren war Blair mit Abstand der Jüngste, was ihm aber gar nichts ausmachte. Zu Anfang wurde er schief angeschaut, aber mittlerweile hatte er sich seinen Respekt verdient. Er genoss die Bonuseffekte seines Nesthäkchen-Daseins, denn alle kümmerten sich rührend um ihn. Dennoch hatte er nie das Gefühl, sie würden ihn als Kind behandeln.
Na gut, er musste sich das alles auch sehr hart erkämpfen. Es war nicht gerade leicht die Professoren davon zu überzeugen, dass ein 19-jähriger sie auf eine Expedition begleitete, die sonst nur für fortgeschrittenere Studenten der Anthropologie vorgesehen war.
Eigentlich war er sogar einer dieser Studenten. Blair hatte mit nur sechszehn Jahren angefangen zu studieren. Es war harte Arbeit gewesen, aber er hatte es mit Fleiß frühzeitig auf die Universität geschafft. Er war durchaus davon überzeugt, dass er diese Expedition genauso verdient hatte, wie all seine älteren Kommilitonen.
Jetzt lief er frustriert durch die altertümlichen Ruinen. Er hatte lange abgewägt, ob er lieber seiner Gruppe in den Dschungel Mexikos folgen oder hier darauf warten sollte, dass sie wieder zurückkommen würden um ihn aufzulesen. Lange sollte es eigentlich nicht dauern, bis sie sein Verschwinden bemerken würden. Das dachte er zumindest.
Nach einem weiteren Blick auf seine Uhr, stellte er fest, dass er bereits über eine Stunde hier festsaß. Allmählich geriet er in Panik. Würden Professor Kantowsky und die anderen Studenten wirklich den ganzen Weg zurück marschieren und ihn hier suchen?
Seine Gebete schienen erhört worden zu sein, als er von weitem Stimmen hörte. Er wollte gerade in die Richtung laufen, von der sie kamen, aber hielt inne, als er feststellte, dass sie nicht englisch waren. Sie waren auch nicht spanisch. Es waren Indianer, die sich ihm näherten. Er verstand zwar keine einzelnen Worte, aber die Laute verrieten, dass es sich um Einheimische handelte.
Blair überlegte, was er unternehmen sollte. Es gab drei Möglichkeiten: Erstens - sich in den Ruinen verstecken. Er glaubte aber nicht, dass es etwas nützen würde, denn die Indianer würden ihn aufspüren, das wusste er.
Zweitens - Er könnte weglaufen. Aber Blair wusste, dass er auch hier gegen die Indianer keine Chance hatte. Im Gegenteil, er würde ihnen sogar noch einen Anlass geben, ihn anzugreifen.
Also blieb nur drittens - sich den Indianern stellen. Er würde versuchen sie davon zu überzeugen, dass er keine Gefahr für sie darstelle. Vor der Expedition wurde den Studenten oft genug eingebläut, was zu tun wäre, wenn sie in solch eine Situation kommen würden. Aber natürlich hatte niemand damit gerechnet, dass es tatsächlich mal dazu kommen würde, geschweige denn, dass man sich alleine den Ureinwohnern gegenüber befinden würde.
Natürlich gäbe es noch eine vierte Möglichkeit - kämpfen. Aber Blair war nicht dumm. Er wusste, er hatte keine Chance. Außerdem hielt er von dieser Möglichkeit gar nichts. Er war gegen Gewalt und wollte auch keine hervorrufen.
Mittlerweile kamen die Indianer näher. Blair wollte gerade aus den Ruinen treten, als er bereits mit Speeren anvisiert wurde. Er traute sich kaum zu atmen und hob beschwichtigend die Arme. Einer der Indianer sagte etwas in seiner Muttersprache, das Blair nicht verstand. Natürlich hatte man ihnen nicht deren Sprache beigebracht, das hätte den Rahmen der Vorbereitungen für die Expedition gesprengt. Sie sollte auch schließlich nur zwei Wochen andauern.
Mit Hilfe der Gesten verstand Blair, dass er die indianischen Krieger begleiten sollte. Ohne sich zu wehren lief er mit ihnen durch den Dschungel und war sich bewusst, dass er seine Gruppenmitglieder vielleicht nie wieder sehen würde.
Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch durch das Gestrüpp des Urwalds, standen sie plötzlich inmitten eines Dorfes. Blair war sofort von den Menschen und ihrer Kultur fasziniert, aber musste sich immer wieder ermahnen, dass er ihr Gefangener war.
Die Krieger führten ihn zu ihrem Häuptling. Zumindest erkannte Blair an deren Zeichnung und Bekleidung ihre Ränge. Schräg hinter dem Häuptling befand sich der Medizinmann oder auch Schamane genannt. Er trug ein Jaguarfell um seine Schultern und ein Anhänger, der künstlerisch die Pranke einer Raubkatze darstellte.
Der Häuptling sprach mit ihm in seiner Muttersprache. Blair verstand aber erneut kein Wort. Er versuchte es daraufhin selbst, sich in Englisch vorzustellen und auch mittels Gesten und Mimik klarzumachen, dass er in friedlicher Absicht hier war und nicht vor gehabt hätte, ihr Territorium zu verletzen.
Die Ureinwohner sahen ihn nur mit großen Augen an und erwiderten etwas in ihrer Sprache.
Danach versuchte Blair es erneut in etwas unbeholfenem Spanisch.
Auch diesmal gab es keine Reaktion. Der Häuptling gab einem seiner Krieger ein Zeichen, er solle den Fremden abführen, als der Schamane sich zu Wort meldete. Er flüsterte dem Häuptling etwas ins Ohr. Dieser nickte dann und gab seinem Krieger erneut einen Befehl.
Gebannt schaute Blair auf den Schamanen, bis er abgeführt wurde.
Sie führten ihn in eine ihrer selbstgebauten Hütten aus Holz und großen Palmenblättern. Dort wurde er alleine gelassen. Erst jetzt bemerkte er, dass er sehr durstig war. Die Stunden, die er in diesem tropischen Klima verbracht hatte, ohne Wasser zu sich zu nehmen, machten sich bemerkbar.
Ein plötzlicher, kühler Windstoß ließ Blair aufblicken - und direkt in die Augen des Schamanen, der nun vor ihm stand.
"In Lake'ch", meinte der ältere Mann und reichte ihm einen Behälter, in dem sich Wasser befand.
Blair zögerte erst, aber nahm ihn dann entgegen und trank daraus. Sie hätten ihn schon längst umbringen können, wenn sie es gewollt hätten. Er glaubte nicht, dass das Wasser vergiftet war.
"Du sein ein Dummkopf", sagte der Schamane plötzlich in einem schlechten, aber verständlichen Englisch.
Blair war baff. Also verstand hier zumindest eine Person seine Sprache, aber eben hatte ihm niemand geantwortet.
"Ich verstehe nicht ganz", erwiderte Blair.
"Alleine im Dschungel. Das machen nur Dummköpfe."
"Ich war nicht alleine." Blair musste grinsen. So gesehen musste er tatsächlich sehr dumm wirken. "Ich bin Teil einer Expeditionsgruppe, die das Gebiet hier nach alten Kulturen erkundschaftet."
"Aber wo sein deine Kumpanen?"
Blair zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich habe sie verloren."
Der Indianer nickte. "Und so du haben gefunden dein Schicksal, junger Schamane."
Mit diesen Worten, die ihm noch lange im Gedächtnis widerhallten, wachte Blair aus seinem Traum auf. Er wusste, dass es sich hierbei nicht wirklich um einen Traum handelte. Es war auch keine Vision. Nein, es waren Erinnerungen aus seiner frühen Studienzeit. So hatte es sich tatsächlich zugetragen.
Blair konnte sich auch ohne den Traum noch sehr gut daran erinnern. Er vermutete, dass dies noch einmal zusätzlich als Gedächtnisstütze dienen sollte. Damit wollte man ganz sicher gehen, dass er sein Schicksal erfüllte. Blair hatte eine Aufgabe zu erfüllen und das würde er noch heute tun. Er hatte gehofft, dieser Tag würde nie kommen.
Lange Zeit dachte er sogar, dass sein fast einwöchiger Aufenthalt bei diesen Indianern nur ein Traum war. Man hatte ihn nach sechs Tagen in den Ruinen gefunden, in denen er auch zurückgelassen wurde, und hatte gerätselt, wie er die sechs langen Tage überlebt hatte. Er kämpfte damals mit hohem Fieber. Daher nahm er an, dass er sich das alles nur im Delirium zusammen fantasiert hatte. Aber mittlerweile wusste er: Es war weder ein Traum noch Fantasie. Es war Realität. Und diese Realität war es nun, die ihn einholte...
=> Fortsetzung in Kapitel 3 und 4