"Mr. McCaughn, Sie können nun hinein."
Patrick McCaughn nickte und folgte dem Herrn im Smoking. Ihm gefiel das Ambiente hier. Natürlich hatte Mr. Vernon nur das teuerste Hotel für seinen Aufenthalt in Deutschland ausgesucht. Die Türen und Fenster waren mit Gold verkleidet, der Boden war aus Marmor und die Schränke in barocker Art verziert.
Schließlich erreichten sie den Saal, in dem Mr. Vernon sich aufhielt.
Victor Vernon saß auf einem schwarzen, komfortablen Lederstuhl hinter einem weiß-grau melierten Marmortisch. Er füllte völlig den ohnehin schon ziemlich breiten Sessel mit seiner wohlernährten Form aus. Besonders groß schien er nicht zu sein. Außerdem wirkte er aufgrund seiner Fülle zusätzlich etwas gedrungen.
Der gepflegte und gedrillte Schnurrbart war pechschwarz und somit ein krasser Kontrast zu seinem weinrot leuchtenden, gefärbten und spärlichen Haar. Er machte einen sehr gepflegten Eindruck. Sein Anzug war maßgeschneidert und vom besten Stoff.
Vernon trug mehrere Goldketten, und Goldringe an fast jedem Finger. Es stand außer Frage, dass sämtlicher Schmuck einschließlich dem Diamantenohrring am linken Ohr hochkarätig war.
Seine Mine war ausdruckslos aber auch herablassend. Seine Augen spiegelten Kälte wider, die einem einen Schauer über den Rücken und das Blut in den Adern gefrieren ließ.
"Sir", begrüßte McCaughn seinen Arbeitgeber und verneigte sich ehrfürchtig aber schlicht, indem er kurz seinen Kopf senkte.
"Mr. McCaughn", erwiderte Vernon monoton. "Ich habe gehört, Sie haben getan, worum ich Sie gebeten habe."
Der Brite nickte. "Ja, Sir."
"Gut. Ihr Geld wird unverzüglich auf die entsprechenden Konten, die Sie uns angegeben haben, überwiesen."
"Danke." McCaughn zögerte. "Sonst noch etwas, Mr. Vernon?"
Vernon würdigte ihn kaum eines Blickes. "Was soll denn sein?"
"Nun... Ich hatte gehofft, Sie hätten noch weitere Aufträge für mich, Sir."
Vernon lachte kurz hämisch auf. "Nein, McCaughn. Sie können wieder zu Ihrem eigenen Geschäft übergehen. Sie sind hiermit entlassen."
"Und was passiert nun? Ich meine, die beiden Polizisten, denen ich meine Geschichte vorgelügt habe und..."
"Das hat sie nichts anzugehen", unterbrach Vernon ihn trocken.
"Aber...?", versuchte es McCaughn noch einmal. Man hatte ihm versprochen, ihn über die gesamte Angelegenheit zu unterrichten und worum es im Gesamten ging. Allmählich hatte er das Gefühl, als sei er nur ausgenutzt worden...
Zum ersten Mal war Vernon eine Emotion in der Stimme anzuhören: Er klang verärgert. "Hat man Ihnen noch nicht erzählt, dass zu viel Neugierde ungesund ist, Mr. McCaughn?"
Sofort hielt der Brite inne. Eingeschüchtert von der versteckten Drohung entschuldigte er sich und ging so schnell, wie er gekommen war.
In dem Moment, in dem er aus der Türe war, ließ Vernon Neumann und Arndt hereinrufen. "Sorgen Sie dafür, dass es wie ein Unfall aussieht", befahl er ohne mit der Wimper zu zucken. Die beiden Deutschen nickten nur und eilten aus dem Zimmer um nicht auch noch seine schlechte Laune verspüren zu müssen.
Frankfurt - eine Stadt mit Charme. Natürlich war sie nicht mit dem Big Apple oder auch Cascade zu vergleichen, aber sie hatte etwas.
McCaughn raste in seinem gemieteten Mercedes SL durch die Vorstädte der City. Es gab eine Menge gepflegte kleine Gärten. Das schöne Wetter sorgte für eine wunderschöne Winterlandschaft, denn es hatte kürzlich etwas geschneit.
Es folgte ein kleines Stück Landstraße, das direkt durch einer der vielen Waldstücke hier führte. Als er eine scharfe Kurve auf sich zukommen sah, wollte er aufgrund seiner zu hohen Geschwindigkeit abbremsen, aber das Pedal reagierte nicht. Panisch trat er so fest er konnte darauf, aber es tat sich nichts. Schließlich fiel ihm die Handbremse ein und er zog sie, kurz bevor er die Kurve erreichte. Aber auch sie zeigte keinerlei Wirkung auf das Tempo seines Wagens.
Mit viel zu hoher Geschwindigkeit raste er in die Kurve und kam von der Straße ab. Er wurde in den Graben geschleudert und der Wagen überschlug sich mehrfach, als er die Böschung hinunter raste.
In den Moment, in dem der Wagen auf dem Dach liegend zum Stillstand kam, war Patrick McCaughn sofort tot.
"Hey Jim! Wo ist denn Ihr Schatten?"
Der Detective blickte zu Megan auf und sah an ihrem triumphierenden Lächeln, dass sie etwas Neues herausgefunden hatte. "Der hat wohl gleich ein Rendezvous", antwortete Jim seufzend.
"Was ist, sind Sie eifersüchtig, Jim?" Megan grinste.
"Eifersüchtig? Sie machen wohl Späße! Bei den Frauen, die der Junge immer zum Date führt, brauche ich sicher nicht eifersüchtig zu werden!"
Beide lachten.
"Schade, dann wird er wohl nur aus zweiter Hand erfahren, was ich erst gerade eben herausgefunden habe." Sie wippte auf ihren Fußballen auf und ab.
Jim verdrehte die Augen gen Himmel. "Nun sagen Sie schon, was los ist, Megan."
Seine Kollegin hielt ihm eine Akte vor den Augen. "Das ist das Ergebnis der Untersuchung Ihrer Falkenfeder."
Mit einer Grimasse nahm Jim ihr die Unterlage ab. Wenn Megan so ein Theater darum machte, musste es bedeutend sein. "Na schön, schauen wir mal was die Kollegen der Spurensicherung herausgefunden haben..." Er öffnete das Aktenstück. "Was? Das ist unmöglich!"
"Fingerabdrücke lügen nicht. Sie stimmen mit denen der ersten Feder überein. Da Sie damals behauptet hatten, dass diese von der mysteriösen Esira waren, müsste demnach dieses Exemplar ebenfalls von ihr sein."
Der Sentinel schüttelte den Kopf. "Sie verstehen nicht. Das ist nicht das Gleiche. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber..."
"Ist es eine Sentinel-Sache?", unterbrach sie ihn.
Jim schluckte. Er musste sich erst allmählich daran gewöhnen, dass Megan ebenfalls von seinem wohlbehüteten Geheimnis wusste. Schließlich nickte er. "Ja, so könnte man es nennen."
"Tja", erwiderte Megan. "Entweder die Fingerabdrücke lügen oder Sie."
Jim wollte gerade etwas dazu erwidern, als Simon in der Tür seines Büros erschien und ihn rief. Er lief zu seinem Chef hinüber und hatte gleich die neugierige Megan im Schlepptau. Doch Simon ließ es gewähren, denn Megan betraf es schließlich auch.
"Hier, lesen Sie das!" Er warf den beiden eine Zeitung vor die Nase. "Das ist die gerade frisch gedruckte Cascade Times für morgen früh."
"Wie kommen Sie denn jetzt schon da dran?", fragte Megan neugierig nach.
"Fragen Sie lieber nicht", antwortete Jim und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
"Es ist die Titelstory aller lokalen Zeitungen hier", erklärte Simon weiter und zeigte auf die Vorderseite, wo ein bekanntes Gesicht abgebildet war.
"Vizepräsident Bankier Patrick McCaughn fuhr in den Tod", las Megan laut vor.
Jim war außer sich. "Sie glauben doch nicht etwa, dass das ein Unfall war?!"
"Nun, ich habe die zuständige Polizei in Deutschland kontaktiert und sie haben mir versichert, dass sie den Wagen direkt sichergestellt hatten. Aber allen Anschein nach wurde an dem Auto nichts manipuliert. Aufgrund meines Anrufs lassen sie ihn für mich noch einmal von ihren Profis durchchecken, aber sie glauben nicht, dass sich etwas finden lässt."
"Sir, das stinkt zu sehr für einen Zufall", erwiderte Jim verärgert.
"Jim, die haben dort genauso ihre Spezialisten, wie wir hier."
"Ich weiß, Simon. Aber überlegen Sie doch mal? Irgend etwas stimmt da nicht. Das habe ich im Gefühl. Dann sind da halt sehr gute Profis am Handwerk gewesen."
Simon seufzte. "Ich muss gestehen, ich teile Ihre Bedenken, Jim. Aber wir haben keinerlei Beweise."
"Was glauben Sie, wer ihn hätte umbringen wollen?", überlegte Megan laut.
Die beiden Männer zuckten mit den Schultern. "Das gilt es herauszufinden", antwortete Jim.
Blair half seiner Begleitung aus dem Mantel, wie es sich für einen Gentleman gehörte. Sie wurden an ihren reservierten Tisch geführt und setzten sich.
Das gesamte Restaurant war nicht sehr groß. Das kam daher, dass es in einem alten Eisenbahnwaggon untergebracht wurde. Entsprechend hatten die Besitzer die Möbel auf das Ambiente abgestimmt. Sie waren nicht zu prunkvoll, sondern schlicht, aber dennoch bequem. Auf den kleinen, runden Tischen brannten Kerzen und erzeugten so ein romantisches Dämmerlicht. Direkt neben ihnen hatten sie ein Fenster, durch das sie einen wunderschönen Blick auf den Pazifik und einen Teil der Skyline hatten.
"Danke für die Einladung, Blair. Es war eine wirklich gute Idee hier her zu kommen. Das ist ein typisches Touristen-Restaurant. Ich war hier noch nie drin. Aber ich möchte nicht wissen, wie oft ich hier schon vorbeigelaufen oder -gefahren bin."
"Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Was die Auswahl betrifft - nun, sagen wir, ich habe von einer Freundin gelernt, dass die Touristen einen recht guten Geschmack haben, was Restaurants betrifft."
Irene lächelte nervös.
Erst jetzt fiel Blair auf, dass sie ein wunderschönes Kleid trug. Es war schlicht aber betonte dennoch ihre gute Figur. "Sie sehen gut aus. Das Kleid steht Ihnen", versuchte er die Situation aufzulockern.
"Wirklich?", fragte Irene und errötete etwas bei diesem Kompliment. "Das ist ein Kleid meiner Mutter. Sie trug es sehr gerne, wenn sie mit Dad aus war."
Blair überlegte, ob er sich damit jetzt geschmeichelt fühlen sollte. "Sie erzählen nicht oft über Ihre Eltern", bemerkte er.
Irene nickte. "Meine Mum starb, als ich erst sechs war und mit meinem Dad habe ich mich vor Jahren zerstritten. Viel mehr gibt es da wirklich nicht zu erzählen."
Es fiel Blair nicht schwer zu erkennen, dass da sehr wohl mehr dahinter steckte, aber er hakte nicht weiter nach. Stattdessen versuchte er allmählich auf den Punkt zu kommen. "Das tut mir leid." Er machte eine kurze Pause. "Nun, Ihre Mutter war immerhin eine Sentinel."
"Ja", gestand Irene.
"Hatten Sie noch einmal eine Vision mit ihr?", fragte er nach, bevor er mit seinen Ausführungen anfange wollte.
"Nein", erwiderte Irene schlicht. "Aber Sie sagten gestern noch, Sie hätten ein paar Antworten auf meine Fragen?"
"Ja, aber lassen Sie uns erst einmal bestellen." Er überreichte Irene eine Speisekarte und musste bei einem Blick in die seine feststellen, dass dieses kleine Vergnügen heute Abend ihn teuer zu stehen kommen dürfte.
Jim war gerade dabei seinen Computer am Arbeitsplatz auszuschalten. Nach langen Überstunden freute er sich auf einen ruhigen Abend. Um sicher zu gehen, dass Blair nicht mit seiner Freundin im Loft auftauchte oder sogar schon dort war, rief er seinen Mitbewohner kurzerhand an.
"Nun?", fragte Blair neugierig. Er erwartete jeden Moment einen Ausbruch des Mädchens sich gegenüber, was er denn für einen Humbug erzählen würde und dass das alles nur Quatsch wäre.
Stattdessen saß Irene einfach nur da und starrte auf ihren leeren Teller. "Ich weiß wirklich nicht, was Sie jetzt von mir hören wollen, Blair", erwiderte sie, blickte zu ihm auf und zuckte mit den Schultern. "Vermutlich erwarten Sie jetzt, dass ich Sie für verrückt erkläre. Aber ich glauben Ihnen. Sie würden wohl kaum so etwas erzählen, wenn Sie nicht selbst davon überzeugt wären."
Blair war sichtlich erleichtert aber auch skeptisch. Sie glaubte ihm. Aber das war zu einfach. "Sie glauben also nicht, ich hätte mir das alles nur ausgedacht?"
Irene lachte. "Ausgedacht? Nein. Was für ein Mensch soll sich so etwas denn ausdenken? Und zu welchem Zweck?" Sie wurde wieder ernst. "Mal ehrlich Blair: Ich habe schon Schlimmeres gehört. Obwohl ich gestehen muss, dass es mir noch immer einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt, wenn ich nur daran denke. Es ist so... extrem vorbestimmt. Als hätten wir keine andere Wahl. Und das gefällt mir nicht. Es macht mir Angst. Wissen Sie, was ich meine?"
"Absolut", antwortete Blair ehrlich. "Ich..."
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, als sein Handy klingelte. Er entschuldigte sich kurz bei Irene. "Hallo?"
"Hey Sandburg. Ich hoffe Sie amüsieren sich schön bei Ihrem Date. Ich habe bis eben noch arbeiten dürfen."
Blair kicherte. "Erwarten Sie jetzt Mitleid von mir, Jim?"
"Das wäre das Mindeste! Immerhin kann ich brauchbare, neue Informationen vorweisen. Und Sie?"
"Ähm." Blair machte ein Gesicht und betrachtete Irene, die nur mit den Schultern zuckte. "Ich möchte es milde ausdrücken: Die Informationen, die ich für Sie habe, sind ganz sicher interessanter."
"Wenn es wieder um Ihr Liebesleben geht, haben Sie keine Chance, Häuptling. Apropos, ich würde jetzt gerne nach Hause fahren. Wenn es also Ihr 'Liebesleben' nicht stört...?"
Für einen kurzen Moment war es still in der Leitung.
"Häuptling, sind Sie noch dran?"
"Ja, ja. Ich habe nur gerade überlegt. Wie wäre es, wenn wir uns im Loft treffen? Ich bringe noch Irene mit und dann können wir in Ruhe über alles reden."
"Irene? Was wollen Sie denn besprechen? Und was hat sie damit zu tun? Sie machen mir Angst, Blair. Bitte sagen Sie mir, es ist keine Sentinel-Sache!?"
"Ich muss leider gestehen, dass es genau darum geht, Jim. Wir sehen uns dann im Loft, Ok? Bis gleich!" Er legte auf ohne eine Antwort von Jim abzuwarten. Er wusste, dass der Sentinel keine Lust hatte, so etwas zu besprechen. Aber es musste sein. Und er wollte es endlich hinter sich bringen...
"Wer sind diese Leute?", fragte Blair seinen Lehrmeister und Schamanen Yaxk'in, dessen Namen er noch immer kaum aussprechen konnte. Er hatte die letzten drei Tage bei den dort ansässigen Indianern verbracht und viel von ihnen gelernt. Vor allem der Schamane hatte ihm viel von seinem alten Stamm gezeigt.
Sie gaben vor direkt von den Maya abzustammen. Alleine die Möglichkeit, dass dies der Wahrheit entsprechen könnte, faszinierte den angehenden Anthropologen.
Natürlich hatte er dennoch einen Ausweg gesucht, wie er wieder zu seiner Gruppe gelangen könnte. Der Schamane versprach ihm, er würde sofort alles veranlassen, sobald die anderen Fremden erneut ihr Territorium durchqueren würden, dass er sich zu ihnen gesellen könnte.
"Reisende aus fernen Welten. Sie hier ihren Ursprung suchen", antwortete der ältere Mann schließlich nach einer Weile.
Blair nickte. "Und woher kommen sie?"
"Unwichtig", erhielt er als knappe Antwort.
Das reichte dem neugierigen Wissenschaftler nicht. Er lief auf die Gruppe Menschen zu, die an ihnen vorüber lief. Sie waren mit langen Kutten bekleidet, die heilige Symbole der hier ansässigen Indianer und auch der Maya trugen. Ihre Gesichter konnte Blair nicht erkennen. Sie trugen die Kapuzen ihrer Gewänder über den Kopf.
Blair spürte, wie er zurückgehalten wurde. "Wo du hinwollen, junger Schamane?"
"Ich würde gerne mit den Menschen sprechen", erwiderte Blair.
Yaxk'in schüttelte den Kopf. "Verboten. Sie fast heilige Leute sind." Er wandte sich von der Menschengruppe ab, die weiter in den Dschungel lief. Blair wusste, wohin der Weg führte. Der Schamane hatte es ihm gestern erst noch gezeigt. Nach etwa ein bis zwei Stunden Fußmarsch gelangte man an einen Mayatempel. Natürlich hatte Blair als Wissenschaftler großes Interesse an diesem scheinbar noch unentdeckten Fund. Dummerweise hatte er keine Kamera dabei, so dass er das Gebäude nicht damit festhalten konnte.
"Heilig?", hakte Blair nach, nachdem er von seinem Lehrmeister von den Menschen weggezerrt wurde. Er erhielt aber keine Antwort.
Die Nacht darauf schlief er sehr unruhig. Merkwürdige Träume plagten ihn. Plötzlich wurde er wach. Aus Instinkt lief er aus seiner Hütte und sah wieder diese Menschen in den heiligen Umhängen.
Er lief zu einer der größeren Personen und riss ihr die Kapuze herunter. Der größere Mann starrte ihn an. Blair konnte in dem dunklen Dämmerlicht nicht viel erkennen, aber er schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre.
"In Lake'ch", begrüßte Blair sein Gegenüber, wie es hier üblich war. Mittlerweile hatte er gelernt, dass es sich hierbei um eine alte Grußform der Maya handelte, die auch die hier ansässigen Indianer noch benutzten. Es hieß so viel wie "Ich bin du und du bist ich". Er sagte es in solcher Inbrunst, dass ihm dabei kalt ein Schauer über den Rücken lief. Magische Worte.
Der Mann reagierte nicht.
Blair blickte sich um. Die anderen Personen waren alle stehen geblieben, so dass er jetzt von ihnen umgeben war.
Plötzlich hielt der Fremde, den Blair "demaskiert" hatte, seine flache Hand aus und legte sie in Herzhöhe auf die Brust seines Gegenüber. "In Lake'ch", erwiderte er.
Blair wusste sich nicht anders zu helfen, als es dem Fremden nachzumachen und legte ebenfalls seine Hand auf des Mannes Brust. Er spürte darunter deutlich den fremden Herzschlag.
Für einige magische Sekunden standen sie nur so da und starrten sich gegenseitig tief in die Augen - so weit das im Finsteren möglich war. Blair begann sich allmählich an die Dunkelheit zu gewöhnen und glaubte immer mehr von seiner Umgebung und somit auch seinem Gegenüber erkennen zu können...
"Junger Schamane, was du da machen?", hörte er plötzlich Yaxk'in. Sofort unterbrach er den Kontakt zu dem unbekannten Mann und wandte sich in die Richtung, aus der die verärgerte Stimme seines Lehrmeisters kam und er die Konturen einer Person auf sich zukommen sah.
"Ich habe nur..", versuchte er sich zu wehren und zeigte hinter sich. Doch im gleichen Moment, in dem er sich zu den mysteriösen Personen in den Kutten umdrehte, musste er erkennen, dass sie nicht mehr da waren. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.
"Was du haben, junger Schamane? Meine Anweisungen missachtet? Du haben das?" Blair sah, wie der alte Mann seinen Kopf schüttelte. Am Klang seiner Stimme hörte er, dass der Schamane von ihm enttäuscht und verärgert war.
"Was du gesehen haben?"
"Ich... Ich sah nicht viel durch die Dunkelheit, Yaxk'in..."
"Was du gesehen haben?", wiederholte der Medizinmann sich.
"Da war ein Mann. Er... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich fühlte mich ihm verbunden. Vermutlich war es nur die Berührung."
Der Schamane schüttelte erneut den Kopf. "Du müssen vergessen, was du gesehen haben, junger Schamane. Sonst gefährden du alles."
Blair war verwundert. "Was? Ich soll das hier vergessen? Das kann ich nicht! Und was soll ich gefährden?"
"Erzählen niemanden von Geschehnissen dieser Nacht. Das wichtig sein. Verstanden?" Er sagte es mit solch einem Nachdruck, dass es fast wie eine Drohung klang.
Zögernd willigte Blair ein. Aber er konnte sich eine Frage nicht verkneifen: "War das ein Sentinel?"
Er hatte gleich zu Anfang nach einem Sentinel gefragt. Der Schamane hatte ihm nicht richtig geantwortet und ihm geheißen, er solle nicht weiter danach fragen. Dennoch war es Blairs großer Traum, die Existenz eines Sentinels zu beweisen. Eine Person, dessen alle fünf Sinne weiter entwickelt waren, als die normaler Menschen.
Dieses Mal erhielt er keine Antwort des Schamanen. Also war es ein Sentinel? Am liebsten wäre er wieder zurückgerannt und hätte nach ihnen gesucht. Aber er wusste, dass sie nun verschwunden waren und es auch blieben würden. Er würde sie nicht wieder finden können. Vielleicht waren sie alle Sentinels? Was wollten sie hier? Der Mann, den er gesehen hatte, war kein Indianer, so viel konnte er anhand der Konturen, die er dank des Mondscheins sehen konnte, erkennen. Es schien ein Weißer zu sein.
"Wann darf ich hiervon erzählen?" Er musste es jemanden erzählen. So etwas konnte er nicht für sich behalten. Dafür war es zu wichtig für ihn.
"Wenn dafür Zeit reif sein", erwiderte der Schamane. "Legen dich wieder schlafen."
"Woher weiß ich, wann die Zeit dafür reif ist?"
"Du werden wissen, junger Schamane." Daraufhin verschwand Yaxk'in in seiner Hütte.
"Alles in Ordnung, Blair?", fragte Irene besorgt, als sie den Fahrer des grünen Volvo ins Nichts starren sah. Sie war mit ihrem alten Käfer und Blair mit seinem Wagen zum Loft gefahren.
Der Anthropologe blinzelte einige Male und wandte sich dann verwirrt an Irene. "Ja, alles ok. Lassen Sie es uns hinter uns bringen."
Er stieg aus und sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf zum Loft. Bevor Blair seinen Wohnungsschlüssel hervorkramen konnte wurde ihnen bereits geöffnet.
"Kommen Sie schon rein, Sandburg", war Jims mürrische Begrüßung. "Irene", nickte er dem Mädchen zu. Sofort bemerkte er, dass sie ungewöhnlich schick angezogen war.
"Ok, was ist hier los?", stellte er seine Freunde zur Rede. "Irene, du und Sandburg, ihr ward doch nicht etwa...?"
"Nein", antwortete Blair für Irene. "Ich habe nur etwas mit ihr besprochen. Und genau darüber muss ich jetzt auch mit Ihnen reden, Jim."
"Wir müssen darüber mit dir reden", erwiderte Irene und bekräftigte damit, dass sie Blair unterstützte.
Jim ahnte schon, dass ihm das nicht gefallen würde. "Na schön. Setzen wir uns erst einmal."
"Ok", begann Blair, als sie alle auf den Couchs Platz genommen hatten. "Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll... Ähm. Können Sie sich noch erinnern, als Incacha hier war, dass ich Bruchstücke seiner Muttersprache verstand?"
Der Sentinel nickte. "Klar. Sie konnten damals mit dem Begriff Enqueri nichts anfangen. Aber ansonsten hatten sie ein paar Ausdrücke verstanden. Worauf wollen Sie hinaus?"
"Enqueri?", hakte Irene zwischendurch nach.
"Das ist mein Name bei dem Chopec-Stamm, bei dem ich die 18 Monate im Dschungel verbracht hatte."
Blair ergriff wieder das Wort: "Ich konnte die Sprache noch von früher. Ich war schon einmal ein paar Tage bei einem Indianerstamm, dessen Sprache sehr ähnlich war."
Jim zuckte mit den Schultern. "Na und? Sie sind Anthropologe. Das ist nichts Außergewöhnliches."
Irene und Blair wechselten kurz ein paar Blicke. Jim bemerkte es und wurde unruhig.
"Das ist richtig. Aber die Umstände waren damals etwas anders... Es war meine erste, große Expedition vor 13 Jahren."
"Im Sommer 1988", ergänzte Irene.
Blair nickte ihr zu. "Genau. Ich war in Mexiko, im Dschungel."
"Zur selben Zeit war ich in Peru", bemerkte Jim nachdenklich. Aber er wusste dennoch nicht, wo da der Zusammenhang bestehen sollte.
"Richtig! Und darauf möchte ich auch hinaus."
"Erzähl weiter, Blair", erwiderte Jim neugierig.
"Ich wurde von meiner Gruppe getrennt und wartete etwas an den Ruinen, wo ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Kurz darauf fanden mich einige Ureinwohner. Sie nahmen mich mit zu ihrem Dorf."
"Sie nahmen Sie mit?", unterbrach der Sentinel ungläubig. "Das ist merkwürdig. Indianer würden nie ihre Siedlung einem Fremden zeigen..."
"Die Indianer führten mich zu ihrem Häuptling", erzählte Blair weiter und ignorierte Jims Überlegungen. "Sie brachten mich später in eine Hütte. Zuerst dachte ich, sie hätten kein Wort von mir verstanden, aber dann folgte mir der Schamane des Stammes und sprach mich in Englisch an. Es stellte sich heraus, dass sie offenbar öfters schon Kontakt mit Außenstehenden hatten und er sich so ihre Sprache angeeignet hatte. Die übrigen Indianer hielten nach meinen Expeditionsmitgliedern Ausschau. Und sie wollten mich zurückbringen, sobald diese wieder auftauchen würden."
"Sie kamen aber nicht?", ahnte Jim.
Blair nickte. "Vorerst nicht. Yaxk'in, der Schamane, lehrte mich ein wenig ihre Sprache, zeigte mir einige Riten und ähnliches. Am fünften Tag führte er mich durch den halben Dschungel. Stunden später erreichten wir einen prachtvollen Maya-Tempel, der noch erstaunlich gut erhalten geblieben war. Ich wollte ihn mir auch einmal von Innen anschauen, aber er verbat es mir. Der Tempel war nicht für 'Normalsterbliche' bestimmt."
Jim kniff grübelnd die Augen zusammen. "Glauben Sie, es war der Tempel des Lichts?"
"Nein. Den hätte ich letztens wiedererkannt. Es war nicht der gleiche Tempel, wie der, den wir damals im Dschungel gefunden hatten. Ich habe den Namen leider nicht behalten, Yaxk'in nannte ihn mir. Es war ein alter Name der Maya. Ich glaub, es hieß soviel wie 'Fenster zur Seele'."
Der Sentinel blickte nur stirnrunzelnd ins Leere. "Was hat das nun mit Irene und mir zu tun?"
"Pass auf, die Geschichte ist noch nicht fertig", erwiderte Irene.
"Am nächsten Tag kamen etwa ein Dutzend Fremde in die Indianersiedlung", setzte Blair seine Ausführungen fort. "Sie blieben nicht, sondern durchquerten das Dorf nur um die gleiche Richtung einzuschlagen, wie Yaxk'in und ich einen Tag zuvor. Ich konnte kein Gesicht erkennen, aber es war offensichtlich, dass es sich hierbei um Männer, Frauen und sogar Kinder handelte. Sie trugen dunkle Kutten, die mit vielen heiligen Symbolen der Maya versehen waren. Ich wollte sie ansprechen, aber der Schamane verbat es mir.
In der darauffolgenden Nacht wurde ich wach und verließ meine Hütte. Da sah ich sie wieder und sprach einen der beiden an. Ich zog seine Kapuze herunter. Ich konnte leider sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber ich hatte das Gefühl, es hätte sich dabei um einen Sentinel gehandelt. Yaxk'in kam dazwischen und tadelte mich, dass ich zu viel gesehen hätte. Die Fremden waren währenddessen verschwunden. Ich fragte Yaxk'in, ob das Sentinels gewesen wären, aber ich erhielt keine Antwort."
"Sie glauben, es waren Sentinels?", hakte Jim nach.
Blair nickte. "Ich bin mir sicher."
"Jim, ich hatte letztens Visionen, in denen ich als Teenie durch einen Dschungel lief und einen Maya-Tempel betrat, der den Beschreibungen von Blair entsprach", erklärte Irene und blickte den Sentinel durchdringend an.
Jim war erstaunt. "Du warst also dort?"
"Ja. Und du auch, Jim!"
Der Sentinel schüttelte vehement den Kopf. "Nein! Ich war die ganze Zeit in Peru und das wissen Sie!"
Blair merkte, dass es Jim schwer fiel das eben Gehörte zu akzeptieren. "Irene kann sich auch nicht mehr an diese Zeit erinnern. Es wurde wohl alles so arrangiert, dass Sie erst zum geeigneten Zeitpunkt davon erfahren sollten. Hatten Sie keine Visionen? Sie sprachen doch heute Nacht von einem Traum?"
Jim musste gestehen, dass Blairs Geschichte mit seiner Vision übereinstimmte. Er hatte immerhin geträumt, dass alle wesentlich jünger waren. Und tatsächlich hatte er sich in einem Tempel befunden. Er erzählte den beiden von seiner Vision. "Das Merkwürdige daran ist, dass ich schon oft von diesem Tempel geträumt hatte. Können Sie sich noch daran erinnern, wie ich von der Vision erzählte, in der ich einen Schneeleoparden sah? Es war in dem gleichen Tempel. Dort sah ich Sie auch als Schamanen, Sandburg. Aber ich habe diesen Tempel nie zuvor in meinem Leben gesehen." Er schüttelte den Kopf. "Das ist doch Humbug! Ich war damals in Peru. Die ganzen 18 Monate."
Plötzlich erinnerte sich Jim, wie Blair ihn auf diese Zeit ansprach. Sie hatten sich damals gerade erst kennen gelernt. Es war zwar schon fünf Jahre her, aber durch die erst kürzliche Erfahrung mit Esira, in der Jim mit Teilen seiner Vergangenheit konfrontiert wurde, konnte er sich noch fast wörtlich daran erinnern. Blair meinte damals, dass er alles über Jims Zeit in Peru wüsste. Als der Sentinel sagte, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte, erwiderte Blair schnell, dass es sich dabei sicherlich um ein Trauma handelte. Erst jetzt wurde Jim bewusst, wie voreilig und schnell Blair das gesagt hatte. Nachträglich klang es gerade so, als wolle er ihn ruhigstellen.
"Du warst damals da, Jim", erklärte Blair in sanfter Stimme weiter. "Ich sah dich. Du warst die Person, der ich die Kapuze herunterriss. Ich fühlte damals, dass es etwas Besonderes war, aber konnte es nicht in Worte fassen. Durch die Dunkelheit konnte ich zwar nur grobe Konturen erkennen, aber als ich dich später wieder traf, wurde mir nach einer Weile klar, dass du es gewesen sein musst."
"Und nun sollen wir wieder zu diesem Tempel in Mexiko. Es zieht uns dahin, Jim. Du hast die Vision doch auch gehabt!", sprach auch Irene auf Jim ein.
Dem Sentinel verschlug es erst die Sprache. Dann fing er erbost an: "Sie wussten die ganze Zeit, dass ich einmal bei einem merkwürdigen Ritual, oder was da auch abgelaufen sein mag, anwesend war? Dass ich in Mexiko war? Sie wussten, ich bin ein Sentinel?" Er stand erbost auf. "Sie dachten die ganze Zeit nur an Ihre Studie, Sandburg, nicht wahr? Sie waren gar nicht wirklich daran interessiert, mir bei meinen Sinnen zu helfen! Sie hatten damals diesen Sentinel gesehen und suchten ihn. Eine vier Jahre lange Lüge! Und ich war noch so blöd und habe mitgespielt! Die ganzen Jahre haben Sie darüber kein Sterbenswörtchen verloren. Glauben Sie nicht, mich würde das auch mal interessieren?!"
Blair war ganz perplex. Er hatte zwar eine emotionsstarke Reaktion von Jim erwartet, aber so extrem sicher nicht. "Jim, du siehst das falsch. Ich konnte und durfte dir nichts erzählen! Das hätte den Rhythmus durcheinandergebracht! Bitte glaub mir. Ich weiß, du musst nun enttäuscht sein, aber ich hatte keine andere Wahl." Jim lief Richtung Tür. Blair folgte ihm. "Bitte, Jim. Das hat doch nichts mit unserer Freundschaft zu tun! Du weißt, dass ich dir nichts vorgelogen habe. Ich habe dir lediglich etwas verschwiegen. Aber das tat doch keinem weh!"
Jim öffnete die Tür und nahm sich seinen Mantel von der Garderobe. Er wandte sich an Blair und flüsterte traurig: "Doch, mich hat es verletzt zu wissen, dass du mich die ganze Zeit als wissenschaftliches Objekt benutzt hast und nicht als deinen Freund." Jim blickte Blair und Irene noch mal kurz und vorwurfsvoll an, bevor er die Tür hinter sich schloss.
"Das ist nicht wahr und das weißt du!", rief Blair hinterher und wusste, dass Jim es noch gehört haben musste.
Ein erdrückendes Schweigen tat sich im Loft breit.
"Er wird es verstehen", meinte Irene schließlich und stand auf. "Möchten Sie, dass ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leiste, bis er wieder zurück ist?"
"Nein. Das ist sehr nett von Ihnen gemeint, aber ich möchte jetzt gerne alleine sein."
Irene nickte verständnisvoll. Sie drückte kurz seine Hand zur Aufmunterung und war gerade im Begriff das Loft zu verlassen, als sie sich noch einmal kurz zu ihm umdrehte. "Wenn Sie sich anders entscheiden oder sonst irgendetwas ist - Sie kennen meine Telefonnummer." Sie lächelte, als er dankend nickte, und verschwand.
Als das Mädchen die Tür hinter sich zufallen ließ wurde das Loft von einer gespenstigen Stille umhüllt. Blair ließ sich auf die Couch fallen und fühlte sich so alleine wie selten zuvor.
Am nächsten Morgen wachte Blair ruckartig auf. Er hörte von hinten den Wecker aus seinem Zimmer. Sämtliche Muskeln schmerzten ihn, da er scheinbar die ganze Nacht auf der Couch verbracht hatte. Zuerst hatte er nur dagesessen und auf Jim gewartet. Offensichtlich musste er dabei eingenickt sein.
Blair streckte sich. "Jim?", rief er und blickte nach oben zum Schlafzimmer seines Mitbewohners. Müde schlurfte er die Stufen hinauf, aber das Bett war unangerührt. Also war Jim die Nacht nicht nach Hause gekommen. Kein gutes Zeichen.
Da Blair heute nicht zur Universität musste, wäre er eigentlich mit Jim zum Police Department gefahren. Er duschte und rasierte sich und machte sich seinen Algenshake. Pünktlich zum Arbeitsbeginn rief er Simons Nummer an und erkundigte sich, ob Jim auf der Arbeit erschienen war. Als er hörte, dass Jim wohl gerade an seinem Schreibtisch saß, war er beruhigt. Er bat den skeptischen Captain noch gerade darum, dem Sentinel von seinem Anruf nichts zu erzählen und sagte, er würde heute nicht auf der Arbeit erscheinen.
Der junge Anthropologe überlegte, was nun am besten zu tun sei. Eigentlich müsste er dringend mit Jim über die Angelegenheit sprechen. Aber er wusste, dass der Sentinel etwas Zeit brauchte um sich abzureagieren. Dass er heute Nacht noch nicht wieder nach Hause gekommen war, war ein Beweis dafür, dass Jim noch nicht darüber sprechen wollte. Also ließ Blair ihm seine Ruhe - wenigstens heute.
Er nahm sich sein Laptop und suchte nach etwas, wovon er selber noch nicht wusste, was es war. Nach langer Suche im Internet klingelte das Telefon. Blair schreckte auf und hielt einen Moment inne. Das war sicher Jim. Er nahm gefasst den Hörer in die Hand. "Hallo."
"Hey Blair, hier ist Irene!"
Blair atmete tief durch. "Ach Sie sind es, Irene. Guten Morgen."
"Was ist, Sie klingen enttäuscht?", hakte sie verschmitzt nach. "Wann ist Jim denn wieder nach Hause gekommen?"
"Gar nicht."
"Was? Es wird doch wohl nichts passiert sein?!"
"Nein, nein, keine Sorge. Ich habe mich schon erkundigt: Jim ist auf der Arbeit. Er wollte so wohl nur einem Gespräch entgehen."
"Vielleicht sollten Sie dorthin. Sicherlich bereut er schon den gestrigen Abend."
"Ich weiß nicht...", erwiderte Blair zögerlich.
"Wenn Sie wollen, kann ich mal mit ihm reden?"
"Nein, das brauchen Sie nicht. Sie hatten Recht, er wird es schon verstehen.""Wie Sie meinen. Ich hoffe, Sie zerbrechen sich nicht zu sehr den Kopf deswegen. Was machen Sie denn gerade?"
Blair lächelte. "Ich surfe gerade etwas im Netz herum. Irgendwie habe ich das Gefühl, dort gäbe es eine Antwort."
"Eine Antwort? Auf welche Frage denn?"
"Das weiß ich noch nicht", sagte Blair ehrlich.
"Ich habe auch eine Antwort. Ich weiß jetzt, wo der Tempel etwa sein muss. Ihre Expedition ging nicht zufällig in die Nähe von Palenque?"
Blair war baff. Er hatte das zuvor nicht erwähnt. "Ja, woher wissen Sie...?"
"Ich erzählte Ihnen doch von der Jaguarstatue, die ich in meinen Visionen sah. Mein Vater hat hier eine solche stehen. Heute Morgen wurde sie abgeholt. Ich habe nachgehakt und mir wurde gesagt, dass mein Vater den Transport arrangiert hat..."
"Nach Palenque?"
"Ja, in die Nähe. Meine Nachbarin sagte mir, dass er sich bereits seit Monaten in Mexiko aufhält."
"Das ist verblüffend", stellte Blair erstaunt fest. "Was will Ihr Vater damit?"
"Ich weiß es nicht. Aber mein Instinkt sagt mir, dass wir auch dort runter sollten. Und es ist nicht irgendein Instinkt, wenn Sie wissen, was ich meine..."
"Sie fühlen sich als Sentinel dorthin gezogen?"
"Ja. Und ich vermute Jim dürfte das auch schon bald verspüren."
Für einen Moment war es ruhig.
"Ich schlage vor, ich spreche mal mit Jim. Suchen Sie weiter, wonach Sie auch immer ausschauen. Ich rufe Sie an, wenn es etwas Neues gibt."
"Ok", erwiderte Blair. "Und danke!"
"Nichts zu danken. Bis später!"
"Ja, bye!"
Blair legte auf und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Die Situation wurde immer komplizierter.
Jim bemerkte sofort die Anwesenheit eines anderen Sentinels und blickte vom Schreibtisch auf. Gerade kam Rafe in Begleitung von Irene in das Großraumbüro.
"Vielen Dank, Detective."
"Das heißt Rafe. Und keine Rede wert." Rafe nickte und lächelte. Schließlich lief er wieder zurück zu seinem Schreibtisch, als er Jim auf die beiden zukommen sah.
"Ich hatte mir das nicht so groß vorgestellt", erwiderte Irene zu Jim, ohne sich zu ihm umzuschauen. Sie wusste, dass er nun hinter ihr stand. Erst jetzt drehte sie sich zu ihm herum. "Ich verstehe nicht, wie du hier zurecht kommst. Die Geräuschkulisse wäre selbst für den ein oder anderen 'normalen' Menschen zu laut zum Arbeiten."
Der Sentinel grinste. "Man gewöhnt sich dran." Nach einer kurzen Pause verschwand sein Lächeln und Sorgenfalten machten sich auf seinem Gesicht breit. "Aber weshalb bist du gekommen? Ist etwas nicht in Ordnung?"
Jetzt musste Irene lächeln. Jim war immer wachsam und um das Wohlergehen anderer bemüht. Vermutlich machte das einen guten Sentinel aus. "Genaugenommen wollte ich dich das fragen. Nach dem Gespräch gestern Abend warst du ziemlich aufgebracht. Und Blair erzählte mir vorhin am Telefon, dass du gestern gar nicht mehr erst nach Hause gekommen bist?"
"Ach das", seufzte Jim. Er hatte gehofft, dieses Thema auf heute Abend verschieben zu können. "Hat Blair dich hierher geschickt um mir Verstand einzubläuen?"
"Blair? Nein. Ich wollte mit dir reden. Zwar habe ich ihm davon erzählt, aber er hat mich nicht darum gebeten. Er meinte, ihr solltet besser selber noch mal darüber reden. Und dieser Meinung bin ich auch. Ich wollte nur sichergehen, dass du weißt, dass ich deine Besorgnis teile. Aber an dem, was Blair sagt, ist etwas dran und das weißt du!"
"Nicht hier." Jim blickte sich um und zog Irene mit sich in den Pausenraum, der zu seiner Erleichterung leer war. "Kaffee?", fragte er Irene, die dankend ablehnte.
Er wollte sich gerade selbst eine Tasse machen, als er sich die zierliche Person vor sich genauer anschaute. Irene würde vielleicht nicht Miss World werden, aber sie war auf eine andere Weise hübsch. Durch ihr brünettes, fast schwarzes Haar und ihre blasse Gesichtfarbe stachen ihre grünen Augen hervor. Ihre sehr hohen Wangenknochen ließen das Gesicht eingefallen und mager aussehen. Die spitze, lange Nase war etwas gekrümmt. Aber Jim wusste, ihre Qualitäten lagen in ihrer Persönlichkeit.
Wenn er sich von Alex angezogen gefühlt hatte, wieso nicht von Irene? Sie waren beide Sentinel und sogar miteinander verwandt. Müsste er nicht instinktiv ebenfalls ein Verlangen nach Irene verspüren? Na gut, sie war mit ihren 24 Jahren jung genug, seine Tochter sein zu können. Aber sie wirkte sehr verantwortungsbewusst und auch sicher nicht kindisch oder naiv.
Irene trug heute eine hellblaue Bluse und eine dunkelgraue Hose. Die Farbe der Bluse ließ ihre Augen noch einmal so stark leuchten.
Erst jetzt bemerkte Jim, dass Irene die ganze Zeit mit ihm sprach: "...Du siehst, ich kann es also sehr gut nachvollziehen. Es wirkt alles so vorbestimmt, als hätten wir keine andere Wahl. Und ich finde es unerträglich zu wissen, dass wir eine Art Loch im Gedächtnis haben." Sie schritt etwas näher an Jim heran, so dass sie sich fast berührten. "Mein Instinkt sagt mir, dass wir da runter müssen, Jim. Spürst du das nicht auch?"
Der Sentinel nickte.
Irene nahm seine Hand. "Es ist keine Schande, zuzugeben, dass man vor etwas Angst hat. Das haben zumindest immer meine Ärzte behauptet. Blair mag dir etwas verschwiegen haben und die plötzliche Erkenntnis hat dich verletzt, aber es war nicht sein Fehler. Er hatte keine andere Wahl und das weißt du. Blair hat Angst vor dem Unausweichlichen."
"Und du auch?", fragte Jim leise nach.
Irene nickte stumm und sie senkte ihren Blick gen Boden.
Er verspürte den Drang sie nun zu Berühren und in seinen Armen zu halten. Sanft fasste er sie beim Kinn und hob so ihr Gesicht etwas an, bis sie in das seine blickte. "Ich habe auch Angst, Irene. Große Angst. Aber gemeinsam stehen wir das durch." Daraufhin legte er seine Arme um sie und zog sie näher an sich, bis sie sich herzhaft umarmten. Es fühlte sich richtig an. Nicht, weil Jim ein Verlangen nach ihrem Körper verspürte, sondern weil er so einer Person Trost und Halt schenken konnte, die er liebte - wie eine gute Freundin, wie eine Stammesgefährtin. Ja, sogar fast wie eine Seelenverwandte.
Jim öffnete die Tür zum Loft mit der einen Hand und jonglierte die Tüten, die er vom Chinesen mitgebracht hatte, in der anderen. Er wollte Blair auf diese Weise zeigen, dass es ihm leid tat. Natürlich war ihm schon lange bewusst geworden, dass er überreagiert hatte. Er war die Nacht lange durch die dunklen Gassen gelaufen ohne überhaupt gewusst zu haben, wohin er lief. Schließlich hatte er in einem Motel übernachtet, um so noch mitten in der Nacht einem Gespräch mit seinem Mitbewohner auszuweichen. Im Laufe des Tages hatte Simon ihm erzählt, dass Blair beim Captain besorgt angerufen hätte, ob er zur Arbeit erschienen wäre.
Er war nicht fair gewesen und das wusste er. Jim hasste es, wenn er in Wutausbrüche geriet. Er verletzte seine Mitmenschen mehr damit, als er es irgendwie wieder gut machen könnte. Ein Essen vom Chinesen wäre natürlich nicht ausreichend.
Der Sentinel stellte die noch warmen Tüten auf die Küchenzeile und blickte kopfschüttelnd auf seinen Mitbewohner, der vor seinem Laptop am Tisch eingeschlafen war. Es war fast Mitternacht und Jim wunderte sich darüber, dass Blair bereits um diese Zeit eingenickt war. Normalerweise machte ihm das nichts aus. Vermutlich lag es daran, dass er so lange vor der Flimmerkiste gesessen hatte.
Er wollte gerade seinen Freund wecken, als er sah, dass er scheinbar gegen die Maus gekommen war oder aber auf die Tastatur. Zumindest verschwand plötzlich der Bildschirmschoner, der Maya-Ruinen zeigte, und zum Vorschein kam der Internet-Explorer.
Erst auf den zweiten Blick konnte der Inhalt des Fensters seine volle Aufmerksamkeit gewinnen. "Ach du meine Güte..." Mit offenem Mund starrte er gebannt auf den Bildschirm Er glaubte nicht, was er da sah...
Ende
Wird fortgesetzt in "Fenster zur Seele"
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