Disclaimer siehe Fanfiction-Seite.
Erst einmal ein ganz liebes Dankeschön an meine Beta-Readerin und Beraterin Franzi! Du hast echt tolle Arbeit geleistet! Danke für deine Geduld und dein Verständnis! Hab dich lieb! (Du weißt ja, bis wohin! *g*)
Dann möchte ich mich noch bei allen Lesern entschuldigen. Der vierte Teil hat viel zu lange auf sich warten lassen und ich hoffe, dass er es dennoch wert ist, gelesen zu werden. Gerade aufgrund des Cliffhangers vom dritten Teil "Warnende Träume" - an dem dieser Teil hier direkt anschließt - sollte "Der Weg des Schamanen" wesentlich früher veröffentlich werden. Bitte entschuldigt das lange Warten.
Es gibt ein paar Spoiler-Warnungen. Zuerst sollte man natürlich mindestens den dritten Teil meiner Serie gelesen haben, bestenfalls auch den ersten und zweiten. Außerdem gelten Spoiler für "Die Macht der Sinne" (Switchman), "Das große Auge" (Warriors), "Der tödliche Jaguar" (Sentinel Too) und ein paar andere kleinere. Die Story müsste aber auch ohne, dass man sich diese jeweiligen Folgen angeschaut hat, nachvollziehbar sein.
So. Lange Rede, kurzer Sinn. Dann viel Spaß beim Lesen. Vergesst nicht, mir zu schreiben, wie es euch gefallen hat, bitte! :o)
Teil 4 der Serie
Flashbacks und Visionen
von Fraggle
Beta-Read von Franzi
Sept. / Nov. 2000
und Juni 2001
Jim fragte sich, wie es so weit kommen konnte. Hier war er nun, mit einer fremden Frau, die ihm weiß machen wollte, sie wüsste, was in seinem Freund und Guide vor sich ging. Blair war auf unerklärliche Weise erkrankt und lag im Koma.
Aber als sie seine Hand nahm und sie sich vorsichtig berührten, spürte er, wie eine Kraft ihn durchfloss. Er konnte es nicht beschreiben, aber er ahnte, dass jetzt etwas folgen würde, was er nicht für möglich gehalten hatte. Etwas, das alles verändern würde. Etwas, das ihn seinen Problemen näher kommen lassen würde - die schrecklichen Visionen, die er hatte, und Blairs Koma.
Ohne einen Gedanken des Zweifels ließ er sich von der Frau, Esira, die Stufen zu dem Tor hinaufführen, das sich im Portside Park befand. Sie blickte ihn noch einmal kurz lächelnd an und gemeinsam durchschritten sie das Portal.
Zuerst sah er nur ein grelles Licht und schützte mit seinem freien Arm seine Augen davor. Aber so schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden. Es folgte eine tiefe Schwärze, in der auch Jim nichts erkennen konnte, außer der Gestalt, die ihm gegenüberstand.
Esira blickte ihn durchdringend an.
"Wo sind wir hier?", fragte der Sentinel und erinnerte sich an seine letzte Vision, in der er sich auch in einem solchem "Nichts" befunden hatte.
"Das ist nicht wichtig. Sieh zu und lerne daraus."
Jim verstand nicht, was sie ihm damit sagen wollte, aber er hatte das Gefühl, er würde es noch früh genug erfahren.
Und er musste nicht lange warten. Mit einem weiteren Lichtblitz tat sich vor ihm eine Umgebung auf, die er gut kannte. Es war die Rainier Universität, in der Blair unterrichtete.
Das Beunruhigende war, dass er sich nicht bewegen konnte. Und schließlich erkannte er, wieso: Er war nicht wirklich da. Es schien, als sei er nur ein stiller Beobachter, aber nicht aus der Ferne, sondern er war mittendrin im Geschehen. Langsam versuchte er, zu sich hinunterzuschauen und musste erkennen, dass er scheinbar körperlos war, als würde seine Seele eine Reise unternehmen ohne die zugehörige Hülle.
Plötzlich sah er sich selber den Gang hinauflaufen. Verwundert schaute er sich an, wie er auf einen kleinen Zettel in seiner Hand starrte. Er fragte sich, ob er sich selbst erkennen würde. Aber sein anderes Ich lief unbeirrt auf einen Raum zu.
Jim musterte den Zettel und bemerkte erst jetzt, dass es eine Art Visitenkarte war. Mit einem Mal wurde ihm alles klar: Er befand sich in seiner Vergangenheit! Die Karte in seiner Hand war Blairs, die er ihm überreicht hatte, nachdem sie sich das erste Mal im Hospital getroffen hatten. Er war gerade im Begriff, die Tür zu öffnen und blickte noch einmal auf die Karte. Von drinnen war laute Musik zu hören.
"Was soll das, wieso bin ich hier?", fragte er Esira und bemerkte überrascht, dass sein anderes Ich sich nicht davon beeinflussen ließ.
"Wehre dich nicht dagegen und schau zu", kam die prompte Antwort.
Jim beobachtete das Geschehen und im gleichen Moment, wie es ihm verdammt bekannt vorkam, war es ihm auch, als wäre es schon eine Ewigkeit her. Ihm war nie bewusst, wie verblasst diese Erinnerungen in ihm waren. Still schaute er sich an, wie die Ereignisse ihren Lauf nahmen...
Laute Musik kam ihm entgegen und er sah, wie sich Blair vor der Musikanlage im Rhythmus bewegte.
Erst jetzt bemerkte er, wie lustig das doch eigentlich aussah und schmunzelte etwas.
Sandburg drehte sich, noch immer rhythmisch bewegend, zu ihm um und bemerkte so erst seine Anwesenheit.
"Oh hey. Fällt Ihnen auf, wie das Kriegsgeheul der Yanomamo Indianer in den Kellern von Seattle widerhallt? Ich vermute, dass sich Ihr Dad genauso über die Stones geäußert hat: ‚Hey, hey, stell diese Urwaldsmusik leiser, mann!'"
Es war Blair, wie er leibt und lebte. Er trug damals zwar noch etwas zerschlissenere und grellbunte Klamotten und auch eine andere Brille, aber war dennoch der selbe.
"Ja, mein ich auch. Etwas dagegen, mann?", erwiderte Jim grob.
Blairs Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich sofort. "Nein, nein." Er stellte schnell die Musik aus.
Ungeduldig fragte Jim, was er denn nun von ihm wolle.
"Oh hey, hören Sie, ähm. Dieses ganze Theater im Krankenhaus tut mir wirklich leid, aber ich musste einfach einen Weg finden um mit Ihnen in meinen vier Wänden zu reden."
"Dann reden Sie."
"Ok, na schön. Hier, bitte. Da ist ein Stuhl." Etwas unbeholfen bat Blair Jim einen Platz an. Er nahm einen Haufen Unterlagen, die darauf lagen, und warf sie einfach irgendwo auf den Boden. "Ähm, setzen Sie sich, mann."
Jim nahm Platz und man erkannte, dass er so schnell wie möglich hier wieder raus wollte.
"Sehen Sie, äh, ich kenne `ne Schwester im Krankenhaus, die habe ich mal unterrichtet." Blairs Handbewegungen und seine Betonung verrieten Jim, dass es sich hierbei um mehr als nur Unterricht gehandelt haben musste...
"Sie hat Ihre Karte gesehen und sie mir, wie soll ich sagen, äh, einfach rübergefaxt. Ich lese Ihre ganze Geschichte und denke: Bäng! Der heilige Gral ist aufgetaucht." Wie ein Verrückter fuchtelte Sandburg dabei mit seinen Armen herum.
Erst jetzt im Nachhinein bemerkte Jim, wie begeistert und enthusiastisch Blair damals war. Früher hielt er es für eine Macke des Hippies, den er in Blair sah. Aber jetzt, wo er ihn näher kannte... Der Vergleich mit dem heiligen Gral machte ihn nachdenklich. Er wusste, dass Sandburg lange nach dem Sentinel gesucht hatte, aber so extrem hatte er es nie gesehen.
"Etwas deutlicher, wenn’s geht." Man sah, dass Jim von den Ausführungen seines Gegenüber nicht besonders überzeugt und angetan war.
"Ok, ähm. Mein Name ist Blair Sandburg und ich arbeite an meinem Doktor für Anthropologie und es könnte sein, dass Sie die lebendige Verkörperung meines Studiengebiets sind. Wenn das stimmt, Detective Ellison, beweist Ihr Verhalten nur menschliche Merkmale der vorzivilisierten Welt." Er sagte es mit einem Ernst, der sehr krass zu seinen vorigen Gesten stand.
Verärgert starrte Jim den jungen Mann vor sich an. "Sind Sie bei Verstand? Sie locken mich hier her um mir zu sagen, dass ich so eine Art Höhlenmensch bin?" Er stand auf und ging wütend auf Blair zu.
"Vielleicht bin ich etwas zu weit gegangen mit dieser Bemerkung, aber..."
Jim krallte sich Sandburg am Kragen und warf ihn gegen ein Regal hinter sich. "Hören Sie, Sie Neo-Hippie-Medizinmann, oder was Sie sonst noch sind. Ich könnte Sie jetzt sofort wegen Betruges und Diebstahls verhaften und Belästigung eines Polizeibeamten kommt auch noch hinzu. Und außerdem bietet mir Ihr Verhalten hinreichend Verdacht um Ihre Bude auf Drogen zu durchsuchen." Blair hob abwehrend seine Hände.
Der Sentinel bedauerte seine sinnlose Gewalt gegenüber dem Jungen. Er hätte gerade Lust gehabt, Sandburg vor sich selber zu beschützen. Damals war er allgemein sehr reizbar, wie auch Blair es ihm im Krankenhaus vorausgesagt hatte. Im Nachhinein wusste er, dass es falsch war, Sandburg so zu behandeln, aber so, wie der Anthropologe damals auf ihn wirkte - in seinem Verhalten, seinem Ausdruck, seinem Aussehen - er konnte früher einfach nicht anders.
"Wusstest du damals von Blairs späterer Berufung?", hörte er Esira fragen.
Zuerst wusste er nicht, worauf sie hinauswollte. Dann fiel ihm auf, was sie meinte: Er hatte Sandburg einen 'Neo-Hippie-Medizinmann' genannt.
"Nein, diesen Ausdruck hatte ich nur benutzt, weil ich verärgert war."
"Aber du wusstest, von eurem Bund, dass er dein Guide war?"
Jim überlegte und kam zu dem Entschluss, dass er es in diesem Moment noch nicht wusste und antwortete ehrlich.
Schließlich spielte sich weiter die Szene vor ihnen ab:
"Oh hey, Detective, nicht aufregen, Ok? Sie dürfen es sich nicht mit mir verderben, mann. Sie werden sonst nie rauskriegen, was mit Ihnen los ist. Ich weiß alles über Ihren Aufenthalt in Peru! Das Ganze muss etwas damit zu tun haben, was gegenwärtig mit Ihnen passiert. Und jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen."
Blair lief zu seinem Schreibtisch, nachdem Jim ihn von seinem eisernen Griff gelöst hatte. Der Junge hatte Recht, er musste wissen, was mit ihm los war, denn er wollte die Kontrolle wieder zurück. Etwas, das ihm sehr wichtig war.
Sandburg holte ein altes, bereits vergilbtes, Buch hervor. Das Cover zeugte ebenfalls von seinem Alter.
"Das hier ist eine Monographie von Sir Richard Burton - der Forscher, nicht der Schauspieler. Das ist älter als einhundert Jahre. Dieser Burton ging nun davon aus, dass es in allen Stammeskulturen jemanden gab, den er als Sentinel bezeichnete, jemand, der die Grenzen des Dorfes bewachte!"
"Sie meinen einen Kundschafter?"
"Nein, nein, nein, eher einen Wachtposten. Dieser Wächter beobachtete die Feinde, sah das Wetter voraus und erspähte das Wild. Das Überleben des Stammes hing von ihm ab." Man erkannte, dass Blair in seinem Element war. Jim hörte aufmerksam zu.
"Ah, und was hat das Ganze mit mir zu tun?"
"Der Wächter wird ausgewählt, weil er einen genetischen Vorteil besitzt. Ein sinnliches Bewusstsein, das über das normale Maß hinaus entwickelt werden kann. Es wird durch die Zeit, die er allein in der Wildnis verbringt, noch verfeinert. Zunächst wurde Burtons Monographie belächelt und geriet bald in Vergessenheit..."
Während Jim seinem heutigen Freund zuhörte, schweifte er kurz im Gedanken ab. Was hatte das hier nun mit seinen Problemen zu tun? Er wusste nicht, worauf Esira hinaus wollte, aber fragen wollte er auch nicht, er bekäme doch nur wieder als Antwort, er solle das Geschehen verfolgen.
"...Ich habe hier Hunderte, Aberhunderte von dokumentierten Fällen von einem oder zwei hyperaktiven Sinnesorganen, aber niemanden dabei mit allen fünf. Sie könnten der Richtige sein."
An diesen Satz konnte sich Jim am besten erinnern. Er wusste nicht wieso. Vielleicht war es der Glanz der Hoffnung in Sandburgs Augen, der ihm verriet, dass er Blair irgendwie glauben sollte.
"Ähm, um ehrlich zu sein, ich kann mich an den Dschungel fast überhaupt nicht erinnern."
Zwar hatte er sich im Laufe der Zeit noch an das ein oder andere erinnert, seit diesem Gespräch, aber seine Erinnerungen an die 18 Monate in der Wildnis waren noch immer sehr lückenhaft.
"Sie waren anderthalb Jahre im Busch, sind der einzige Überlebende Ihrer Einheit. Ich meine, ich bin kein Seelendoktor, aber das Ganze klingt doch ziemlich traumatisch. Und Traumata werden gern unterdrückt."
Das klang plausibel.
"Also, wenn das tatsächlich so wäre, warum kommt es gerade jetzt zurück?", hörte er sich selber fragen.
"Ich weiß es nicht, aber Sie brauchen im Moment jemanden, der Ihren Zustand versteht."
‚Moment’ war gut. Jim und Blair waren jetzt schon über vier Jahre zusammen und er wusste, dass er noch immer auf die Hilfe seines Guides angewiesen war. Vielleicht sogar mehr denn je...
"Er weiß von eurem Bund und Schicksal", unterbrach ihn Esira in seinen Überlegungen.
Überrascht über Esiras Aussage starrte er Sandburg an. Sie mochte Recht haben. War sich damals Blair bereits über die folgende Beziehung zwischen ihnen klar? Wusste er zu diesem Zeitpunkt schon von dieser Guide-Sache? Er wusste noch, wie er später davon sprach, dass jeder Sentinel einen Partner bräuchte, der ihn seinen Rücken freihielt.
Er beobachtete, wie sein anderes Ego wütend Blairs Büro verließ. Der Anthropologe rief ihm noch etwas hinter her, aber er hörte nicht auf ihn...
Langsam wurde alles dunkler um ihn herum und wenige Sekunden später fand er sich wieder von Schwärze umgeben, wie zu Anfang, vor diesem Flashback...
Simon legte resigniert den Hörer wieder auf das Telefon. Er hatte jetzt bestimmt schon sieben oder acht Mal versucht Jim zu erreichen, aber es ging weder im Loft noch auf seinem Handy jemand dran.
Langsam begann er sich wirklich Sorgen zu machen. Was wäre, wenn er Probleme mit seinen Sinnen bekommen würde? Ohne Blair... wer weiß, was alles passieren könnte!
Im Krankenhaus befand sich der Sentinel auch nicht, das hatte er direkt zu Anfang gecheckt. Man hatte ihm gesagt, er sei zwar heute schon einmal da gewesen, aber vor über fünf Stunden schon gegangen.
Das bedeutete, das Jim mittlerweile seit über sechs Stunden praktisch als vermisst galt.
Ungeduldig wartete er auf einen Anruf von Rafe und Brown, die er zu Ellisons Wohnung geschickt hatte, um nachzusehen, ob er vielleicht auch einfach nicht an das Telefon ging oder um Hinweise auf den Verbleib seines Detectives zu finden...
Nach einigen langen Minuten des Wartens klingelte endlich das Telefon.
"Banks."
"Sir, Rafe am Apparat. Jim ist nicht hier." Eine knappe, aber dennoch aussagekräftige Auskunft.
Simon schloss langsam seine Augen. "Haben Sie etwas finden können, das auf seinen Aufenthaltsort hindeuten könnte?"
"Allerdings", erwiderte Rafe. "Wir haben eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter gefunden, direkt nach Ihrer."
Der Captain hörte, wie jemand den Apparat zurückspulte.
Rafe hielt sein Handy an den Anrufbeantworter damit sein Chef auch alles verstehen konnte. "Hallo Mr. Ellison. Ich habe die Antwort auf Ihre Fragen. Treffen Sie mich heute um 13 Uhr im Portside - Park an dem Kunstwerk am westlichen Ende." Der Detective hielt sein Handy wieder ans Ohr. "Sieht so aus, als wäre Ellison dahingegangen, Sir."
Im Gedanken stimmte Banks im zu. Die Zeitangabe stimmte mit Jims Krankenhausaufenthalt überein. Er musste direkt danach dorthin gefahren sein. "Ok, Detective. Ich treffe Sie beide dort in zehn Minuten."
Rafe bestätigte und legte auf. Simon stand auf und schnappte sich zügig seine Jacke.
In was war Jim da wieder hineingeschlittert...?
"Was wollen Sie von mir?" Der Sentinel blickte sich um, aber es war nur Esira zu sehen.
"Die Frage ist nicht, was ich von dir möchte, sondern, was möchtest du? Was möchte Blair?"
Jim schüttelte verwirrt den Kopf. "Ich verstehe nicht."
"Du wirst", war alles, was sie darauf erwiderte. Nur wenige Sekunden später befand er sich wieder in seiner Vergangenheit...
Im Gedanken verloren schnappte sie sich ihre schwere Tasche und stieg in den Zug ein. Sie verstand bis heute nicht, warum die Bahn in den Staaten so wenig Bedeutung fand. Die Amerikaner legten großen Wert auf ihre Freiheit, klar, aber wer keinen Wagen hatte, der musste ja irgendwie von A nach B kommen.
Trotzdem war der Zug gut besetzt, es war Hauptverkehrszeit. Sie setzte sich zu einer älteren Dame und stellte die Tasche neben sich auf den Sitz ab. Eigentlich hatte sie nicht viel Gepäck dabei, schließlich war ihr Aufenthalt in Seattle nicht geplant.
Seufzend starrte sie aus dem Fenster und betrachtete den wunderschönen Indian Summer. Im Gedanken musste sie feststellen, dass ihre Aufenthalte in Seattle nie vorgesehen waren...
Wie ein kleines Kind freute sie sich auf ihr Ziel. Cascade war eine schöne Stadt, da bestand kein Zweifel. Sie liebte die Skyline, die schönen Ruhepunkte in den Parks und am Wasser. Aber besonders freute sie sich auf die Menschen dort.
Irene strich eine ihrer langen, brünetten Haarsträhnen beiseite. Besorgt blickte sie auf ihr Gepäck neben sich. Sie hatte ein unwohles Gefühl, wenn sie daran dachte Jim wiederzusehen. Aber es musste sein. Außerdem mochte sie ihn wirklich sehr. Er war wie ein großer Bruder, fast wie ein Vater zu ihr, eben halt ein sehr guter Freund. Und sie brauchte jetzt einen guten Freund, das sagten ihr auch die Ärzte.
"Am besten, du fährst zu Freunden, die du sehr schätzt, jemanden, dem du vertraust. Gibt es da jemanden?"
Doktor Eddington hatte sie von oben herab angeschaut. Irene hatte seine Besorgnis in seinen Augen gesehen, aber sie wusste auch, dass er sie nicht ewig unter Beobachtung und seiner Kontrolle halten konnte. Er war netter als ihre vorigen Ärzte, wenn auch wesentlich älter, er könnte beinahe ihr Großvater sein. Vielleicht mochte sie ihn deshalb so sehr.
"Ich kenne da jemanden, ja."
Charles Eddington hatte daraufhin langsam die Augen geschlossen.
"Dieser Cop, mit den besonderen Fähigkeiten? Der mit den - wie nanntest du es - hyperaktiven Sinnen?"
Prüfend hatte er in ihre grünen Augen geblickt.
"Dr. Eddington, ich sagte Ihnen doch bereits, das war nur ein Traum. Bei der Hypnose bringt man manchmal unkontrolliert Zusammenhänge durcheinander. Es werden Realität und Traumwelt vermischt. Das waren Ihre Worte."
Sie mochte es nicht, wenn er immer wieder auf dieses Thema einging. Als sie vor ein paar Monaten in der Psychiatrie eingeliefert wurde, war sie nicht besonders gesprächig und hatte sich völlig in ihr Schneckenhäuschen zurückgezogen. Sie war noch immer sehr verstört und eingeschüchtert, aber die Ärzte waren der Meinung, eine stationäre Behandlung wäre nicht mehr nötig, es reiche eine wöchentliche Visite bei einem örtlichen Kollegen.
Man hatte sie kurzerhand einfach hypnotisiert und sie somit zum Sprechen bewegt. Sie hatte keinen Einfluss darauf, was und wie viel sie sagte. Genaugenommen konnte sie sich noch nicht einmal an das Verfahren erinnern.
Dafür durfte sie sich schon mehrmals die zugehörigen Aufzeichnungen anhören. Sie musste immer und immer wieder beteuern, dass sie lediglich von einem Traum - einem Albtraum - gesprochen hatte. Lediglich die Sache mit Jeannys Entführung und Mord wäre wahr gewesen. Aber sie hatte das Gefühl, keiner glaubte ihr das so recht - so merkwürdig sich die Story von einem Sentinel auch anhörte.
Die bunten Farben der Herbstblätter glitten an ihr vorüber wie ein Film. Für einen Moment war es ihr, als liefe ihr gesamtes Leben an ihr vorbei. Es war einer dieser Momente, wo man an allem zweifelte - an sich, an die Entscheidungen, die man getroffen hatte...
Wie aus dem nichts überkam sie plötzlich eine Erinnerung oder eine Art Eingebung, die sie scheinbar zuvor verdrängt hatte:
Sie war im Dschungel, mindestens zehn Jahre jünger. Ihre Kleidung war farblich getarnt, ihre kurzen Haare unter einem Cap verborgen. Auf ihrem Rücken trug sie einen Rucksack. Sie stand vor einem Tempel, der von einem vorzivilisierten Volk stammen musste. Sie sah nur noch, wie sie langsam die Stufen hinauf zum Eingang des Gemäuers lief...
Irene schüttelte vehement den Kopf, denn diese Bilder machten ihr Angst. Es schien alles so real, als hätte sie es tatsächlich einmal erlebt. Krampfhaft versuchte sie sich auf etwas anderes zu konzentrieren und hoffte, Jim würde sie auf andere Gedanken bringen...
Jim war verwirrt. "Esira, wieso dies alles hier? Was soll mir damit klar werden?"
"Du hast noch immer nicht verstanden? Welche Rollen hat dein Freund hier eingenommen?"
Der Sentinel überlegte kurz und blickte auf die Szene, die sich so eben vor ihnen abgespielt hatte. Blair hatte ihn mittels guten Zuredens aus einem Zone-out herausgeholt. "Er hat mir bei meinen Sentinel-Fähigkeiten geholfen."
Nickend fügte sie hinzu: "Richtig, er ist dein Guide." Sie machte eine Pause und blickte ihn erwartungsvoll an.
"Und?" Jim verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.
"Und? Er ist mehr als dein Guide. Ok, du bist ein Sentinel und er ist ein Guide. Aber er hat mehr Aufgaben, als dich nur zu führen. So, wie du ihn beschützt, beschützt er auch dich."
Mit einem Mal veränderte sich schlagartig die Umgebung und Jim wurde Zeuge des ersten Zwischenfalls mit Blair. Er zonete gerade - und mitten auf der Straße. Daher hatte er den schweren Containerwagen, der auf ihn zuraste, weder gesehen, noch gehört...
Blair war aber da und riss ihn mit auf den Boden. Zuerst verstand er nicht, was um ihn passierte, als der Wagen über sie hinweg fuhr. Als sie aber wieder gesund und munter aufstanden und Jim begriff, was gerade vorgefallen war, hatte er ein ebenso merkwürdiges wie auch verwirrendes Gefühl. Ein eigentlich fremder Mensch, den er erst noch angeschrieen und sogar gegen einen Schrank gestoßen hatte, hatte ihm das Leben gerettet. Er vertraute diesem Mann plötzlich.
Er hatte das Gefühl, sie würde etwas verbinden. Er hatte es sich erst nicht eingestehen wollen, aber rückblickend wusste er, dass es dieser Moment war, wo er das Schicksal, das sie ereilen würde, erahnte. Dass er - unbewusst - gemerkt hatte, dass sie zusammengehören - Sentinel und Guide...
Sie befanden sich teilnahmslos im Loft. Es war Blairs Musik von den australischen Aborigines zu hören. Blair lief im Wohnzimmer immer auf und ab. Vor ihm war ein Tuch, auf dem er sich zuvor gekniet hatte um zu meditieren. Aber zur Zeit war dem jungen Guide scheinbar gar nicht danach... "Warum war ich nur so dumm? Warum war ich nur so dumm und hab sie dort mithineingezogen?"
Jim musste erst kurz überlegen, aber wusste dann, worum es ging: Er befand sich in der Zeit kurz nach Janets Tod, Blairs alte Freundin. Es hatte alles damit angefangen, dass einige von Jims altem Indianerstamm nach Cascade kam um sich bei den Verantwortlichen für die Zerstörung ihres Lebensraumes zu rächen. Währenddessen hatte er Probleme mit seinen Sinnen - denn sie waren gänzlich verschwunden.
Janet hatte ihnen wichtige Informationen geliefert, um die Inhaber der Firma Cyclops wegen Verletzung des Umweltschutzgesetzes zu überführen. Für diese Daten musste sie sterben. Dem Sentinel war nie bewusst, wie große Vorwürfe sich Sandburg wegen Janet gemacht hatte...
Ein Klopfen und Poltern an der Tür unterbrach Blair in seinem Selbstmitleid. "Hallo?" Vorsichtig öffnete der Anthropologe. Vor ihm erschien Incacha, der verletzt auf dem Boden saß. "Oh mein Gott! Auch das noch!" Flink holte er sein Handy heraus und rief erst einen Notarzt an, daraufhin Jim, dass er herkommen solle. Schließlich schaffte er es, den Schamanen auf das Sofa zu befördern.
Kurze Zeit später kam Jim hereingestürmt und eilte zu den beiden.
"Ich habe den Notarzt gerufen...", war alles, was Blair vorerst herausbrachte.
"Enqueri." Incachas Stimme war nur noch ein schmerzhaftes Flüstern.
"Incacha", war Jims Antwort.
Der Schamane sprach auf indianisch zu dem Sentinel, dieser übersetzte. Zuerst ging es nur um den damaligen Fall, den sie bezüglich Cyclops bearbeiteten...
"Ich soll um seinen Stamm zu retten, wieder der Sentinel werden. Das verlangt er von mir", dolmetschte Jim wieder einen Satz seines alten Gefährten.
Blair stimmte nickend zu: "Gut, das wird aber auch Zeit."
Incacha fasste nach Blairs Arm. Dieser zuckte erschrocken zusammen. "Hey, Hey!" Panisch versuchte er sich von dem Griff des Schamanen zu befreien. Dieser sprach zu ihm in seiner Muttersprache und wieder übersetzte Jim ihm.
"Er verleiht Ihnen die Kraft des Schamanen."
"Was? Wozu?" Man bemerkte Blairs Unbehagen, diese ganze Szene schien ihm sehr grotesk.
Jim erklärte seinem Guide wieder Incachas Antwort: "Sie sollen mich zu meinem animalischen Geist führen."
"Jim, bitte fragen Sie ihn, wie ich das machen soll!" Verwirrt starrte er auf den Indianer vor sich.
Mehrere Male versuchte der Sentinel auf seinen alten Lehrmeister einzureden, ihn zu fragen. Aber bevor der Schamane eine Antwort darauf geben konnte, starb er vor ihren Augen...
"Sir? Keine Spur von Jim." Rafe trat näher an seinen Vorgesetzten heran. Sie suchten bereits über eine Stunde, aber es gab weder an diesem merkwürdigen Kunstwerk noch irgendwo anders einen Hinweis auf Jims Verbleib.
Simon nickte. "Dann brechen Sie hier ab. Ich möchte, dass..." Aber er konnte seine Satz nicht mehr zu ende aussprechen. Brown kam mit einem älteren Mann in Begleitung herbei.
"Captain, den hier habe ich auf einer naheliegenden Sitzbank gefunden." Henri wandte sich an den Mann, der zweifellos zu viel getrunken hatte.
"Erzählen Sie Captain Banks, was Sie auch mir erzählt haben."
Etwas lallend, aber dennoch verständlich begann der Betrunkene zu schildern, was er glaubte, gesehen zu haben. Er sprach von einem Mann, der sich hier an dem Gebilde mit einer Frau getroffen hatte. Sie sprachen kurz miteinander und waren dann durch das Tor gegangen und verschwanden in einem grellen Licht.
Simon verdrehte die Augen. So einen Humbug konnte auch nur ein besoffener Kerl ihm auftischen. Er fragte sich, warum Brown ihn überhaupt damit belästigte. "Danke, Sir. Sie waren uns eine große Hilfe." Er klopfte dem Mann auf die Schulter und winkte Brown und Rafe herbei, die ihn einige Meter weiter begleiteten, um sich ungestört unterhalten zu können. "Brown, glauben Sie etwa das Zeugs, das er da von sich gibt? Sie wollen mir wohl einen Bären aufbinden!" Verärgert musterte er seinen Detective.
"Sir, es ist bisher unser einziger Hinweis. Vielleicht kann er uns eine etwaige Beschreibung der Frau geben. Und wer weiß, vielleicht kommt er im nüchternem Zustand wieder zu Verstand."
Immer noch zögernd willigte Simon ein, den Kerl mit aufs Revier zu nehmen. Brown hatte Recht, es war ihr bisher einziger Hinweis. Jim war bereits seit über sechs Stunden verschwunden, das war eine verdammt lange Zeit, in der sie keine Fortschritte gemacht hatten. Der Anhaltspunkt mit der mysteriösen Frau auf dem Anrufbeantworter hatte sich bisher als eine Sackgasse herausgestellt...
Es wurde wieder dunkel um Esira und Jim und die soeben noch mal miterlebte Szene sorgte für angespannte Stimmung. Der Sentinel war in seine Gedanken vertieft.
Schließlich unterbrach Esira das Schweigen: "Dein Freund Blair ist auch ein Schamane." Aus ihrem Munde klang es wie eine Selbstverständlichkeit.
"Und was hat das jetzt zu bedeuten? Was hat das alles mit Blairs Koma und meinen Albträumen zu tun?" Jim wurde langsam ungeduldig. Er wusste nicht, wie lange er sich schon mit ihr in diesem komischen Zwischenraum befand oder wie man das hier nennen wollte. Er schätzte auf etwa drei bis vier Stunden... Er wusste nur eines: Seine Sinne ließen nach und dafür machten sich bei ihm Kopfschmerzen breit.
"Hast du gerade nicht zugehört? Dein Freund ist auf den Weg des Schamanen, ihm wurde von einem anderen Schamanen seine Kraft übertragen." Esira sah, dass ihr Gegenüber mit dieser Aussage nicht viel anfangen konnte. "Du hast doch 18 Monate bei einem Indianerstamm gelebt, dein Lehrmeister war sogar ein Schamane. Weißt du nicht, was das bedeutet?" Da keine Reaktion seitens des Sentinels kam, sondern stattdessen nur ein verlegener Blick zur Seite, begann sie näher ins Detail zu gehen:
"Die Arbeit eines Schamanen ist sehr vielseitig und bei vielen alten Stammeskulturen verankert. Er praktiziert eine Art Magie, so wirkt es zumindest auf Außenstehende. Spirituelle Heilung, Träume interpretieren, verirrte Personen und verloren gegangene Gegenstände aufspüren, Seelen vom Tode zu ihren vorgesehenen Plätzen in der anderen Welt führen, Dämonen aus verdorbenen Seelen austreiben... Das sind unter anderem alles Aufgaben, die der Schamane zu bewältigen hat."
"Wollen Sie mir damit sagen, dass Sandburg sich demnächst wie ein indianischer Medizinmann aufführen wird?" Jim musste sich unweigerlich Blair in einem Schamanengewand immer um einen Martapfahl tanzend vorstellen.
"Wenn dein Guide seine Rolle nicht akzeptiert, wird er bald gar nichts mehr machen."
"Wie meinen Sie das nun schon wieder?"
"Du hast ja gerade gesehen, was vorgefallen ist. Unterschätze nicht den Ruf eines Schamanen. Es ist tatsächlich lebensgefährlich diesen abzuweisen. Wenn er eindeutig zu einem Schamanen bestimmt ist und sich dagegen wehrt, endet es für ihn tödlich."
Plötzlich wurde Jim alles nach und nach klar: Seine Träume sollten ihn davor warnen. "Aber Incacha lag im Sterben."
"Glaubst du, das hätte seinen Worten weniger Bedeutung gegeben? Es gibt viele weitere Möglichkeiten, vom Ruf zu erfahren. Dein Freund liegt doch im Krankenhaus, oder? Dies ist ein weiteres Indiz: Wenn die Person eine schwere körperliche und / oder seelische Krankheit durchlebt. Ich kann noch mehr aufzählen: Wenn diese Person einen schweren Drogen- oder Alkoholmissbrauch oder einen Mordanschlag überlebt... Oder wenn die Person eine außerkörperliche Erfahrung nahe dem Tode hatte."
Etwas in Jim klingelte, als er Esiras Ausführungen verfolgte. Blair kam einmal mit einer hohen Dosis der Droge Golden in Berührung und er überlebte auch schon mindestens einen Mordanschlag, angefangen bei David Lash bis hin zu Alex und Martin Austin.
Was ihm aber erst richtig einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, war Esiras letzter Punkt. Er erinnerte sich unweigerlich an diese Horrorszene am Brunnen. Nachdem ihm Incacha erschienen war und er sich zu Blair hinuntergebeugt und ihn berührt hatte, durchfuhr es ihn. Er hatte diese Vision, die ihm lebendiger und reeller vorkam als jede andere. Blair wäre beinahe damals gestorben, eigentlich war er es sogar schon. Jim hatte ihn noch in letzter Sekunde ins Leben zurückgeholt.
"Ich sehe, du weißt, wovon ich spreche." Esira trat seitlich einen Schritt näher an ihn heran, so dass sie ihn fast berührte. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und flüsterte dem Sentinel etwas ins Ohr:
"Dein Guide wird nur zum Schamanen, wenn er es auch möchte, er hat die Wahl. Aber wenn er sich dagegen entscheidet - wie es zur Zeit offensichtlich der Fall ist - wird er früher oder später sterben."
Jim drehte sich zu ihr um, aber musste feststellen, dass sie plötzlich verschwunden war. "Esira? Wo sind Sie? Esira!" Angestrengt versuchte er in der Schwärze um sich etwas zu erkennen, aber er konnte sie nicht ausfindig machen.
"Wie kann ich Blair helfen?" Aber schließlich bemerkte Jim, dass er zuerst ein ganz anderes Problem zu bewältigen hatte: Wie kam er hier wieder raus?
Kaum hatte er sich diese Frage gestellt, erschien ein greller Lichtblitz vor ihm. Zügig lief er darauf zu und verschwand darin.
In wenigen Minuten musste sie aussteigen. Und um ehrlich zu sein war sie auch froh darüber. Noch mehrmals hatte Irene sich im Dschungel gesehen. Sie legte das Buch, das sie zur Ablenkung begonnen hatte, beiseite und packte alles zusammen.
Endlich im Bahnhof angekommen, blickte sie sich um. Es hatte sich nicht viel verändert. Es war alles, wie sie es in Erinnerung hatte. Aber was hatte sie erwartet? Sie war ja keine Jahre weg gewesen, sondern nur einen Sommer. Es kam ihr allerdings wie eine Ewigkeit vor...
Auf dem Weg zum Hotel, wo sie sich vorab ein Zimmer gebucht hatte, schossen ihr wieder Tausende und Abertausende Gedanken durch den Kopf. Sie wollte absichtlich erst in ein Hotel, denn sie mochte Jim und Blair nicht noch eine Belastung darstellen, indem sie dort die erste Zeit wohnen würde. Das hätten die beiden ihr nämlich angeboten, das wusste sie.
Heute Abend würde sie die beiden besuchen, aber zuvor musste sie sich noch um ihren Job kümmern, den sie durch einen Freund ihres Vater erhalten hatte: Kellnerin in einem Lokal. Ihr war die Arbeit zwar nicht ganz geheuer, aber es war ein Anfang. Das Geld, das sie sich angespart hatte, würde für den Übergang erst einmal reichen, so dass sie auch noch etwas Zeit hatte, sich nach einem anderen Job umzuschauen.
Im Hotel angekommen checkte sie ein und begann sich im Zimmer ein wenig einzurichten...
Ihm war bewusst, dass er immer und immer wieder im Kreis lief. An dieser Stelle war er bereits dreimal vorbeigelaufen. Trotzdem stapfte er wütend weiter, denn er sah keine andere Alternative. Vielmehr war die einzige andere Alternative für ihn nicht akzeptabel.
Schließlich erreichte Blair wieder die Stelle, wo der Wolf ihm zuvor zeigen wollte, wie man die Schlucht überqueren konnte. Als der junge Anthropologe aber stattdessen nur wütend und auch ängstlich weggelaufen war, war der Wolf ihm dennoch gefolgt.
Blair erschien es, als sei der Wolf eine Art Beschützer für ihn. Das machte auch Sinn nach seiner Erkenntnis. So, wie der Panther Jim repräsentierte und ihn andererseits auch führte und bewahrte, so musste diese Rolle der Wolf bei ihm einnehmen.
"Na schön." Er blieb stehen und wandte sich mit ausgestreckten Armen an das Tier. "Was willst du von mir. Dass ich mich da runter stürze? Das ist doch verrückt!"
"Nicht verrückt, sondern notwendig, junger Schamane."
Blitzschnell drehte sich Blair um, von woher die Stimme kam. Vor ihm stand Incacha. "Aber wieso? Was soll das Ganze hier?"
Incacha kam näher. "Du hast dich bisher geweigert deine Rolle als Schamane anzunehmen. Das ist deine letzte Chance. Betrachte es als eine Art Prüfung."
Verwirrt blickte Blair hinter sich zur Schlucht. "Ich verstehe nicht. Was soll das bedeuten, ich hätte die Rolle nicht angenommen?"
"Du hast dich geweigert, dein Herz dafür zu öffnen."
Blair kehrte sich wieder zu Incacha um. Ihm war bewusst, wovon der Schamane da sprach, er kannte sich zwar nur teilweise im Schamanismus aus, aber er wusste, dass er anders hätte handeln sollen. Aber wieso hatte er das dann nicht getan? Er dachte sich damals nichts dabei, als Incacha ihn einen Schamanen nannte.
Vielleicht hatte ihn das auch nur so stark verängstigt und überrascht, dass er es unterdrückt hatte. Er wollte die Zeichen nicht wahrhaben, die alle darauf hingewiesen hatten. Sicher hatte er sich schon das ein oder andere Mal Gedanken darum gemacht, aber er kam jedes Mal zu dem Entschluss, dass diese ganze Sache nichts zu bedeuten hatte. Aber dem war scheinbar nicht so...
"Und nun überquere die Kluft, die zwischen dir und dem Leben steht."
Blair kniff die Augen zusammen. "Du meinst, ich bin tot?"
"Ich meine gar nichts, junger Schamane. Gehst du und überwindest deine Angst, wirst du aus dem tiefen Schlaf erwachen, weigerst du dich diese Hürde auf dich zu nehmen, stirbst du."
Vorsichtig näherte sich der Anthropologe dem Rand der Schlucht. "So etwas ist unmöglich", flüsterte er.
"Dann wirst du deinen Sentinel nie wieder sehen." Mit diesen Worten verschwand Incacha vor Blairs hilfesuchenden Augen...
Ein grelles Licht ließ die Nacht zu Tage werden. Ein stiller Beobachter hätte dies als eine Szene aus einem Science Fiction Film interpretiert. Allerdings gab es niemanden, der dieses Schauspiel mit an sah. Wer weiß, was man sich sonst in Zukunft von diesem Ort erzählt hätte...
Ein Mann kam aus dem Kunstwerk gestolpert, das einem Tor glich. Entkräftet stürzte er, raffte sich aber direkt wieder auf.
Mit nur einem Gedanken eilte Jim zum Ausgang des Parks: Er musste Esira finden, denn nur sie schien zu wissen, wie Blair geholfen werden konnte...
Sie war noch ein Teenager, als sie durch das Buschwerk des Dschungels rannte, einem bestimmten Ziel entgegen. Irene erreichte einen prachtvollen Tempel und eilte die Stufen hinauf. Das erste, was sie sah, war ein vergoldeter Saal, dessen Schönheit sie zuerst stocken ließ.
Gleich hinter ihr erschien ein Mann, der wie die Ureinwohner Südamerikas gekleidet war.
Er sprach zu ihr in seiner Muttersprache und gab ihr per Handbewegung zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte. Er wandte sich von ihr ab und führte sie durch ein Labyrinth von schmalen Gängen und kleinen Räumen.
Schließlich hielt er inne und trat einen Schritt beiseite, so dass Irene erkennen konnte, was sich in dem etwas größeren Raum befand: Sie sah sieben Behälter, die sich sternförmig um eine auf drei Säulen gestützte Maya-Figur anordneten. Es war eine sitzende Raubkatze, die furchteinflößend fauchte. Vermutlich handelte es sich um einen Jaguar, wie er hier im Dschungel lebte und von den Mayas vergöttert wurde.
Der Länge und Breite nach waren die Behälter groß genug um einen Menschen dort hineinzulegen. Sie waren bis kurz unterm Rand mit einer klaren, aber dennoch tiefschwarzen Flüssigkeit gefüllt. Die Wände des Saales waren übersät mit Symbolen und Hieroglyphen.
Irene wurde direkt bewusst, dass dieser Ort von höchster spirituellen Bedeutung für die Maya gewesen sein musste.
"Was soll ich hier?"
Der Indianer ihr gegenüber erwiderte, sie solle hier warten und ging. Irene war kurz davor ihm zu folgen, aber sie konnte sich nicht der Faszination des Raumes entziehen. Also wartete sie, wie man es ihr aufgetragen hatte und betrachtete dabei interessiert das Innere des Saales...
Verwirrt fuhr Irene in ihrem Bett hoch. Sie konnte sich nicht erklären, was der merkwürdige Traum bedeuten sollte, aber er löste Furcht in ihr aus.
Sie schaute kurz auf ihre Armbanduhr. Eigentlich wollte sie ja nur ein kurzes Nickerchen machen um dann Jim und Blair zu besuchen, aber jetzt war es bereits zwei Uhr nachts. Sie beschloss sich wieder hinzulegen und hoffte, dass der Albtraum von vorhin sich nicht wiederholen würde.
Leise schlich sie sich in das Krankenzimmer des jungen Mannes. Die Wache draußen ließ sich zu schnell ablenken. Ein alter, simpler Trick hatte gereicht um sie gerade so lange von der Tür wegzulocken, dass sie unbeobachtet in den Raum schlüpfen konnte.
Esira trat langsam an das Bett heran, in dem ihre Zielperson lag. Sie setzte sich für einen kurzen Moment auf den Stuhl daneben und betrachtete Blair ausgiebig.
Schließlich stand sie wieder auf. Vorsichtig fasste sie nach seiner Hand und legte sie in die ihre. Mit der anderen Hand glitt sie ihm zärtlich über die Stirn und strich ihm somit eine lange Strähne beiseite. Konzentriert schloss Esira die Augen und versuchte ihre inneren Kräfte zu sammeln für das, was sie jetzt vorhatte...
Verwirrt und orientierungslos stolperte Jim durch die dunklen Straßen der Nacht. Er musste sich wirklich sehr stark konzentrieren um sich noch an den Weg nach Hause zu erinnern. Aber warum war er so spät noch unterwegs? Was hatte er hier gewollt?
Jim spürte, wie seine Beine ihn langsam im Stich ließen. Es wurde immer schwieriger sich aufrecht zu halten. Mit jedem Meter, den er sich mühselig erkämpfte, wurde seine Sicht schlechter, bis er schließlich nur noch um sich herum Schwarz sah.
Kurz darauf hörte er, wie ein Wagen auf ihn zukam. Es klang, als läge er direkt unter einem Zug, so entsetzlich laut war es. Er wollte nach Hilfe rufen, bekam aber keinen Ton heraus.
Ein kräftiger Stoß, der von einem dumpfen Knall begleitet wurde, folgte. Jim spürte, wie ihn etwas Hartes in die Seite rammte und er grob zur Seite geschleudert wurde. Er schlug hart auf und fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit...
Irene schreckte aus ihrem Bett hoch. Sie hatte mal wieder einen Albtraum. Oder war es womöglich keiner? Sie hatte plötzlich den unbändigen Drang sich davon zu vergewissern.
Die sprang aus dem Bett und zog sich so schnell sie konnte etwas drüber, egal wie es aussah. Eilig rannte sie aus ihrem Zimmer und vergaß fast es zuvor abzuschließen. Sie hatte bereits ihr Mobiltelefon zur Hand und wählte die Nummer des Notrufs. Im letzten Moment besann sie sich eines Besseren: Was wäre, wenn es wirklich nur ein Albtraum war? Sie rief stattdessen ein Taxi, während sie die Stufen hinunterlief, weil der Fahrstuhl ihr nicht schnell genug war.
Wenn sie Recht behielt, war Jim in großen Schwierigkeiten...
Blair trat näher an den Abgrund heran und starrte dabei gerade aus. Nur knapp einen Meter vor dem Rand blieb er stehen und zwang sich nicht hinunter zu sehen.
Bei ihm war der Wolf, der ihm die ganze Zeit zur Seite stand. Wie lange war er wohl schon hier? Und wo war er überhaupt? Für eine Weile war er der Auffassung, er hätte eine Vision, wie Jim sie ab und zu hatte, dass er nur schlafen würde. Aber Incachas Worte hatten ihn nachdenklich gemacht. Es klang, als befände er sich in einem Tiefschlaf, einer Art Koma. In diesem Fall war es scheinbar für ihn lebenswichtig diese Schlucht zu überqueren, auch wenn sie nur symbolischen Wert hatte.
Das Tier schaute zu ihm auf und Blair glaubte in dessen bernsteinfarbenen Augen sein Spiegelbild erkennen zu können.
Er riskierte einen kurzen Blick nach unten und schluckte. Manchmal fragte er sich, wovor er mehr Angst hatte, vor der Höhe oder vor dem Gedanken, ein Schamane zu werden.
Was war aber schon dabei? Er war vielleicht kein Experte, aber wusste grob, worum es im Schamanismus ging. Was wäre, wenn er den Anforderungen nicht gerecht werden würde?
Wovor Blair aber am meisten Angst hatte, war, dass er nicht wusste, was ihm bevorstand, wenn er tatsächlich ein Schamane werden würde. Er hatte schon oft gelesen, dass der werdende Schamane, nachdem er seinen Weg vollendet hatte, eine völlig neue Persönlichkeit wurde.
Aber um zu wissen, wie weit so etwas ging, musste er es schon selber erfahren. Vielleicht wäre er nicht mehr er selbst, sein Leben ein anderes? Vielleicht könnte er auch nicht mehr Jims Freund und Guide sein?
Während er im Gedanken hin und hergerissen war, was der richtige Weg sein mochte, flog über seinem Kopf schreiend ein Falke vorbei...
Diese Stimme kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er sie einordnen sollte. Sie schien wie von weiter weg. Als sei er in einer Art Traum gefangen und von außen versuchte man ihn zu erreichen.
Irene zog ihre Jacke aus, die sie sich im Hotel schnell übergezogen hatte. Sie faltete sie zügig zu einem Kissen zusammen, hob Jims Kopf ein wenig an und legte das Kleidungsstück vorsichtig darunter.
Der Sentinel fühlte sich irgendwie in seinem Körper gefangen. Er konnte zum Teil wahrnehmen, was um ihm geschah, aber konnte sich nicht bewegen und sich auch nicht bemerkbar machen. Er versuchte sich aufzurichten, aber scheiterte.
"Pscht, ganz ruhig Jim, du darfst dich jetzt nicht bewegen." Das Mädchen strich ihm sanft über die Schläfe. Daraufhin kontrollierte sie die Uhr. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, bis der Krankenwagen endlich eintreffen würde.
Sie bemerkte Jims kalte Hände und den Schweiß auf seiner Stirn. Besorgt blickte sie ihn an. Überall sah sie Blut. Irene wusste nicht, wie lange er hier schon so lag, aber er hatte so oder so viel Blut verloren und musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus.
Mit der einen Hand drückte sie auf die klaffende Wunde, während sie versuchte ihren Pullover auszuziehen und ihn damit zuzudecken. Untendrunter trug Irene noch das Nachthemd.
"Jim? Du musst jetzt durchhalten. Der Notarzt ist gleich da, es kann nicht mehr lange dauern. Bleib einfach nur bei mir, Ok?" Mit Tränen in den Augen strich sie ihm zärtlich über die Schläfe. Als Sentinel würde er wahrscheinlich Probleme mit seinen Sinnen haben und die Kälte nicht kontrollieren können.
Vorsichtig zog sie ihn näher an sich heran und hörte, wie sein Herzschlag immer schwächer wurde...
"Captain Banks, Cascade PD. Ich möchte zu Detective Ellison.” Simon zeigte der Frau hinter dem Rezeptionstresen kurz sein Abzeichen.
"Einen Moment, Sir." Sie prüfte ihre Unterlagen und wandte sich dann wieder an Simon. "Er wird zur Stunde noch operiert, im Raum 305. Sie können so lange im Wartesaal Platz nehmen.
Banks bedankte sich und eilte zum Fahrstuhl. Im dritten Stockwerk angekommen stürmte er zum angegebenen Raum und erblickte auch gleich eine Ärztin, die resigniert aus diesem Zimmer kam.
"Ich bin Captain Banks, befindet sich dort ein Detective James Ellison drinnen?"
Die Ärztin, ihr Namensschild besagte Sarah Jordans, schaute zu ihm auf. "Kann ich Sie in meinem Büro sprechen?" Sie führte ihn in ein kleines Zimmer und bot ihm ihr gegenüber einen Platz an.
"Sie möchten sicher wissen, was vorgefallen ist und wie es ihrem Detective geht? Nun, nach dem, was wir bisher wissen, wurde Ellison von einem Auto angefahren. Der Fahrer beging Fahrerflucht. Der Detective hat sehr viel Blut verloren und einige Quetschungen. Erst gerade konnten wir die inneren Blutungen stoppen. Außerdem erlitt er eine leichte Unterkühlung."
Simon atmete auf, es schien, als hätten die Ärzte alles unter Kontrolle. Aber wieso hatte Doktor Jordans dann diesen merkwürdigen Unterton in ihrer Stimme?
"Sir, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein", begann sie von neuem. Dieser Satz hörte sich so endgültig an... "Ich habe bereits viele Officers von Ihnen verarztet und auch Detective Ellison ist mir nicht ganz fremd. So viel ich beurteilen kann, sind Sie mit ihm befreundet?"
Simon nickte nur stumm.
"Mr. Ellison kam schon lebensgefährlich verletzt hier an: Zwei gebrochene Rippen, mehrere Prellungen und Schürfwunden. Und vor allem aber innere Blutungen und ein hoher Blutverlust. Da wir die Blutungen alle stoppen konnten und er noch rechtzeitig eine Blutfusion von uns erhielt, müsste er über den Berg sein. Wir haben ihn stabilisiert und auch alle Anweisungen befolgt, die im Bezug auf die Medikamente bei ihm zu beachten sind."
Simon klebte regelrecht an ihren Lippen. Seine Anspannung musste man im ganzen Raum spüren können. "Aber?", flüsterte er und wollte nicht wirklich die Antwort hören.
Dr. Jordans senkte den Blick. "Aber er spricht nicht auf unsere Behandlung an. Trotz allen Bemühungen geht es ihm von Minute zu Minute schlechter. Und um ehrlich zu sein, ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich habe bereits mehrere sehr gute Ärzte um Rat gefragt, aber die konnten mir da auch nicht weiterhelfen."
Mit großen Augen starrte Simon die Ärztin vor sich an. "Und das heißt?"
Sie wartete ein paar Sekunden, bis sie etwas erwiderte. "Sir, wir geben Mr. Ellison noch etwa zwölf Stunden, maximal 24."
Er ließ sich nach hinten in den Stuhl fallen und schloss langsam die Augen, während er versuchte das eben gehörte zu verarbeiten...
Eine kalte Brise Wind wirbelte seine langen, kastanienbraune Haare durcheinander. Er strich sich eine Strähne aus seinem Gesicht, während er noch immer am Abgrund stand. Wie versteinert stand er da und überlegte, was zu machen sei. Der Wolf neben ihm schaute vorwurfsvoll zu ihm auf. Aber Blair konnte das einfach nicht...
Er hörte über sich einen Schrei eines Falken und schreckte auf. Das Tier flog auf einen der Felsen in seiner Nähe und er traute seinen Augen nicht, als er sah, wie allmählich aus dem Vogel eine Frau mittleren Alters wurde.
"Wer sind Sie?" Er verstand, warum Incacha in seiner ‚Vision’ vorkam, aber diese fremde Person...?
"Mein Name ist Esira und ich bin hier um dir zu helfen." Ihre Stimme, die Art und Weise, wie sie sich bewegte... Sie trug ein langes indianisches Gewand und für Blair war direkt klar, dass sie eine Schamanin sein musste.
Sie kam langsam auf ihn zu und stellte sich neben ihn an den Rand des Abgrunds. "Du musst diese Hürde überwinden, Blair."
So sympathisch sie ihm auch vorkam, die Tatsache, dass sie ihn bei seinem Namen nannte, kam ihm dann doch merkwürdig vor. Aber wie könnte sie überhaupt mit ihm Kontakt aufnehmen?
"Ich sehe, du hast viele Fragen, junger Schamane, aber wir haben kaum Zeit..."
"Wieso? Muss ich sonst sterben? Bin ich in einer Art Koma?"
Esira nickte. "Ja, aber es ist noch ein weiteres Problem aufgetreten..." Sie sah die Schlucht hinunter. "Dein Sentinel braucht dich."
Der Tonfall, wie sie es sagte, machte Blair hellhörig. Vergessen waren die Bedenken, woher diese Frau kam und woher sie das alles wusste. Schließlich war es doch nur eine Art Traum. Oder?
"Jim? Was ist mit Jim?"
Langsam wandte sich Esira wieder an Blair und blickte ihn traurig mit ihren dunklen Augen an. "Es gab einen Unfall. Es tut mir leid, Blair." Mitfühlend senkte sie ihren Kopf.
Alles drehte sich um ihn. Es schossen ihm Tränen in die Augen und ein Kloß in seinem Hals hinderte ihn zu fragen, was er dringend wissen musste. Ob sein Sentinel, sein Partner und vor allem sein Freund noch lebte.
Erst als Esira sich wieder an Sandburg wandte gab sie ihm die Antwort, denn sie erkannte, was sich in ihm abspielte. "Ich kenne nicht die Umstände, wie es dazu kommen konnte, aber er ist sehr schwer verletzt. Ich hörte einige Ärzte sagen, er habe nur noch einige Stunden."
Die Tränen flossen jetzt frei an Blairs Wangen hinunter. Jim hatte nur noch einige Stunden... Was würde er dafür tun, diese Stunden an seiner Seite zu verbringen? Er starrte wieder in den Abgrund und plötzlich kam er sich absolut dämlich vor. Sein bester Freund Jim lag im Sterben und er konnte noch nicht einmal im Traum seine Höhenangst überwinden.
"Du musst dich bereit erklären diesen Abgrund zu überwinden, so wie du deine Angst vor dem Schamanendasein überwinden musst."
Benommen nickte er nur kurz und spürte, wie der Wolf sich vorsichtig an sein Bein anschmiegte, als wolle er ihn so ermuntern auf die Frau zu hören. "Was muss ich tun?" Er drehte sich zu Esira um, aber sie war verschwunden. Es war nur noch ein Schrei eines Falken aus der Ferne zu hören. Er sah zu den Wolf neben sich hinab, aber auch der war mit einem Mal weg. In diesem Moment fühlte sich Blair so einsam wie nie zuvor...
Dieses ewige Warten, die endlosen Minuten. Minuten, die für Jim seine letzten waren... Irene kämpfte erneut gegen ihre Tränen an, als sie wieder im Wartesaal vor Jims Zimmer Platz genommen hatte. Die Ärzte statteten ihm mal wieder einen Besuch ab und berieten sich, was sie noch unternehmen konnten. Zu Anfang hatte sie die Konversation von drinnen noch verfolgt, aber schnell bemerkte sie, dass sie nur ihre Zeit verschwendeten. Keiner von ihnen wusste wirklich, wie man ihm so noch helfen konnte. Insgeheim hatten sie ihn sicherlich schon abgeschrieben.
Schließlich konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und schluchzte leise. Hätte sie das alles hier verhindern können? Was wäre gewesen, wenn sie direkt einen Krankenwagen zu der Stelle gerufen hätte, auch wenn es nur auf Verdacht gewesen wäre? Sicher hätte Jim dann nicht so viel Blut verloren, er wäre mehr bei Kräften und...
Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie jemanden kommen hörte. Sie schaute leicht auf. Vor ihr stand Captain Banks. Sie kannte ihn nicht persönlich, aber Jim hatte ihn einige Male erwähnt. Er war gut mit ihm befreundet.
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?", fragte er sanft. Als keine Antwort kam und das Mädchen weiterhin nur vor sich hin starrte, nahm er neben ihr Platz. Eine Weile schwiegen sie sich nur an. Schließlich wurde Simon nervös und man erkannte, dass er etwas loswerden wollte.
"Fragen Sie ruhig." Irene starrte dabei weiterhin ins Leere.
"Woher wussten Sie davon?", fragte Banks nach einer Weile.
Das Mädchen senkte ihren Blick. "Sie werden es mir doch nicht glauben."
Simon blickte um sich und begann mit sanfter Stimme: "Ich habe die merkwürdigsten Dinge gehört..."
"Sie meinen Jims Fähigkeiten?", fiel sie ihm ins Wort.
Verdutzt starrte Simon die junge Frau an. Jim schien sie in sein wohl behütetes Geheimnis eingeweiht zu haben. Er wusste ja, dass die beiden gut befreundet waren, aber dass es so weit ging...
"Er brauchte es mir nicht zu erzählen. Ich habe es gewusst. In dem Moment, als ich ihn das erste Mal sah." Sie blickte dem Captain in die Augen. Man sah, dass sie viel geweint hatte.
Simon wusste auf Anhieb nichts darauf zu antworten und schließlich kam ihm Irene dazwischen: "Sie kennen Jims kleines Geheimnis und Sie sind sein Freund. Ich vertraue Jim." Sie machte einen kurze Pause und schluckte. "Ich habe ebenfalls hyperaktive Sinne, aber sie beschränken sich bei mir auf die Sicht, das Gehör und den Geschmackssinn."
"Sie meinen, Sie sind auch eine Sentinel?"
Irene zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Wenn mich drei erweiterte Sinne auch zu einer machen..."
"Aber woher wussten Sie nun von dem Unfall?" Man konnte regelrecht hören, wie Simon versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen. Irene war Alex’ Halbschwester. Es war also alles gar nicht so abwegig...
"Ich habe davon geträumt. Ich bin erst gestern Nachmittag wieder in Cascade angekommen. Ich träumte also heute Nacht davon und bin dann instinktiv dorthin gefahren."
Das machte Sinn. Als damals das erste Mal Alex aufgetaucht war, hatte Jim zum Teil ebenfalls sagen können, wo sie sich befand, zum Beispiel in Mexiko.
Die Tür zu Jims Zimmer ging auf und Dr. Jordans kam heraus. Ihr Gesichtsausdruck sagte schon alles und als sie die erwartungsvollen Gesichter der beiden Menschen vor ihr sah, schüttelte sie nur bedauernd den Kopf.
Simon ergriff nach ein paar stillen Sekunden das Wort. "Können wir zu ihm?"
"Selbstverständlich. Er ist zur Zeit bewusstlos, aber gut möglich, dass er die nächsten Stunden noch einige Male zu sich kommt." Es klang endgültig, fast so, als hätten die Ärzte ihn nun gänzlich aufgegeben...
Dr. Jordans lief zu ihrem Büro und ließ Simon und Irene an Jims Krankenbett allein zurück.
Mit geschlossenen Augen stand Blair an der Klippe zur der Schlucht, die ihn von Jim trennte.
‚Dein Sentinel braucht dich.’
Er wusste nicht, wie Esira das meinte, aber er spürte tief in seinem Inneren, dass sie Recht hatte. Wenn es aber so etwas wie einen Unfall gab und Jim im Sterben lag, wie sollte dann ausgerechnet er ihm helfen? Eine Frage, auf die er keine Antwort kannte, und dennoch wusste er instinktiv, dass er Jims einzige Hoffnung war.
Fest entschlossen hob er sein rechtes Bein an und trat einen Schritt nach vorne...
Als er schließlich mit dem Fuß auf einen festen Untergrund trat, blickte er verwundert nach unten. Direkt wurde ihm schwindelig, als er die bodenlose Tiefe unter sich sah, aber er wankte nicht. Er konnte so etwas wie eine blassweiße und durchscheinende, aber dennoch klar erkennbare Fläche unter seinem Fuß erkennen. Es war, als stände er auf einer unsichtbaren Brücke, die nur bei Betreten an der jeweiligen Stelle zu sehen war...
Blair zog sein zweites Bein nach und bemerkte erleichtert, dass er auch hier auf einen festen Untergrund trat.
Mit jedem Schritt wurde er sich sicherer und kam der rettenden Seite näher...
"Hallo, ich bin Dr. Jordans, Dr. Chucks Vertretung. Was ist passiert?" Sarah eilte zu Sandburgs Bett und überprüfte die Werte und wandte sich dann an die Schwester.
"Nach dem, was ich beurteilen kann, scheint Mr. Sandburg aus seinem Koma zu erwachen. Ich glaube ihn sogar gerade etwas murmeln gehört zu haben..."
Die Ärztin nickte. Tatsächlich hatten sich Blairs Werte verbessert. Sein Fieber musste seit der letzten Stippvisite vor drei Stunden um mindestens zwei bis drei Grad gesunken sein.
Nur noch wenige Meter, dann hätte er es geschafft. Es war zwar nach wie vor Horror für ihn, denn die Höhenangst ließ sich nicht so einfach abstellen, aber letzten Endes war er erstaunt, wie einfach es trotzdem war...
"Mr. Sandburg, hören Sie mich?" Dr. Jordans rüttelte leicht an ihrem Patienten. Den Werten zufolge war er nicht mehr in einem sogenannten Koma, es ähnelte mehr einer einfachen Tiefschlafphase, wie sie jeder Mensch nachts durchlebte. Dennoch konnte sie ihn nicht wecken...
Der letzte Schritt und er würde diesen schrecklichen Ort endlich verlassen können. Mit einem kleinen aber sicheren Sprung erreichte er die andere Seite der Schlucht.
~ Es passierte nichts. ~
Erwartungsvoll blickte sich Blair um.
~ Noch immer nichts. ~
Hatte man ihm nicht gesagt, er bräuchte lediglich die Schlucht zu überqueren, dann würde er aus seinem Koma erwachen? "Hey, was ist jetzt? Was ist los? Ich habe getan, was man von mir verlangt hat!"
Eine Stimme, die von hinten kam, ließ ihn aufschrecken. Er drehte sich um und sah Incacha vor sich.
"Diese Hürde hast du gemeistert, junger Schamane, und hast somit bewiesen, dass du bereit bist, es mit deinen Ängsten aufzunehmen."
Blair überlegte, was Incacha damit meinte. Bezog er sich auf seine Höhenangst? Ein anderer Gedanke kam in ihn auf: Vielleicht war die Sache mit Jims Unfall und dass er im Sterben lag, nur eine Lüge um ihn zu prüfen?
In der Zwischenzeit setzte Incacha fort: "Nun gilt es die eigentliche Entscheidung zu treffen."
"Welche Entscheidung?" Aber in dem Moment, in dem Blair es ausgesprochen hatte, wusste er schon die Antwort.
Anstatt zu antworten verschwand Incacha...
"Holen Sie mir Professor Winston, er müsste noch im Aufenthaltsraum sein. Ich möchte, dass er sich Mr. Sandburg anschaut."
Die Schwester nickte und lief gleich los. Sie brauchte keinen Doktortitel um zu erkennen, dass da etwas nicht stimmte...
Dr. Jordans beorderte in der Zwischenzeit eine zweite Schwester zu sich, die Captain Banks holen sollte.
Schamane. Er und ein Schamane? Verdammt, er hatte unzählige Kulturen studiert unter anderem auch viele indianische und ähnliche, bei denen der Schamanentum von großer Bedeutung war. Aber jetzt sollte er selber ein Teil davon sein? Ok, damit konnte er sich vielleicht noch anfreunden. Aber was wäre, wenn er sich wirklich dafür entscheiden sollte? Jemand, der zu einem Schamanen wurde, wurde daraufhin eine völlig neue Persönlichkeit...
Panik übermannte ihn. Was wäre, wenn er gleich erwachen würde und von seinem jetzigen Leben nichts mehr wüsste? Wie könnte er dann seinem Sentinel noch eine Hilfe sein?
Vielleicht war er ihm nur dann eine Hilfe, wenn er sich gegen sein Schamanendasein entschied...
"Dr. Jordans, was ist passiert?" Zügig aber dennoch ruhig kam Professor Winston in das Krankenzimmer.
"Der Patient schien gerade zu erwachen, Sir. Die Werte waren alle wieder normal, er ließ sich aber dennoch nicht wecken."
Winston überprüfte die Anzeigen der Maschinen. "Aber er liegt doch nach wie vor im Koma."
"Nun Professor, dass ist er tatsächlich erst seit ein paar Sekunden wieder der Fall. Ich verstehe das auch nicht..."
"Incacha? Ich habe mich entschieden! Ich möchte ein Leben ohne Schamanendasein." Blair rief es so laut er konnte. Schließlich erschien auch der Schamane.
"Bist du dir auch sicher?"
Blair nickte. "Völlig sicher. Ich glaube, ich bin meinem Sentinel eine größere Hilfe, wenn ich mich dagegen entscheide. Jim benötigt einen Guide und keinen Schamanen."
Die medizinischen Geräte begannen bedenklich zu blinken und zu piepsen. "Dr. Jordans?"
Achselzuckend starrte Sarah den Professor an. "Alle seine Werte verschlechtern sich. Sein Puls wird unregelmäßig, für den Notfall müssen wir es mit Elektroschock versuchen."
"Du irrst dich, so bist du deinem Sentinel keine Hilfe und auch nicht dir. Du musst dich entscheiden zwischen den Tod und das Leben."
Blair überlegte. Wenn es stimmte, dass Jim im Sterben lag... Wie wäre ein Leben ohne Jim? Wollte er so ein Leben überhaupt? Er konnte es sich ohne ihn nicht vorstellen... Aber angenommen, er könnte dem Sentinel tatsächlich irgendwie helfen, müsste er diese Chance dann nicht nutzen?
"Du musst dich jetzt entscheiden, junger Schamane..."
Bedächtig schloss Blair seine Augen und blieb so einige Sekunden still stehen. Von weitem hörte er einen Wolf heulen...
"Sir, Herzstillstand!" Sarah schreckte auf, als sie diesen konstanten Piepton hörte. "Ok, her mit dem Elektroschock!" Sie zog Blairs grüne Kutte herunter...
Erwartungsvoll starrte Incacha Blair an. "Nun?"
Sandburg stand noch immer regungslos da. Schließlich nickte er leicht.
"Ich habe mich entschieden Incacha. Ich glaube, ich verstehe jetzt. Ich spüre jetzt, was der richtige Weg ist, meine Bestimmung."
Dr. Jordans setzte das Gerät an Blairs Brust auf. Sie wollte gerade den Befehl für den ersten Impuls geben, als sie hinter sich die Maschinen langsam wieder in regelmäßigen Abschnitten piepsen hörte.
"Stopp!" Sarah legte direkt alles beiseite. In ihrem Augenwinkel erkannte sie, wie neben ihr auch Professor Winston kaum glauben konnte, was da gerade vor sich ging.
Sandburgs Werte stabilisierten sich wieder völlig, das hieß, er befand sich noch nicht einmal mehr im Koma. Die Schwester murmelte etwas von einem kleinen Wunder und lächelte breit. Schließlich begann auch Sarah zu grinsen.
Incacha verschwand in einem grellen Licht. Doch das Licht blieb vor ihm. Er musterte es einige Sekunden. Er fühlte sich davon angezogen.
Schließlich lief er darauf zu und tauchte hinein. Plötzlich war er von diesem hellen Licht umgeben. Er fühlte sich leicht und glaubte zu spüren, wie er langsam hinaufschwebte. Gerade so, als würde er von einem Wasserstrudel hinauf an die Wasseroberfläche befördert. Tatsächlich wurde die Sicht von Sekunde zu Sekunde besser und er erkannte allmählich so etwas wie Konturen von Personen...
Er blinzelte einige Male. Zuerst erschien um ihn herum alles ein wenig verschwommen. Als er dann endlich seine Umgebung scharf erkennen konnte, blickte er in drei Gesichter, die von einem Ohr zum anderen grinsten.
"Wie fühlen Sie sich, Mr. Sandburg?" Die Frau, die ihn das gefragt hatte, schien seine Ärztin zu sein. Sie kam ihm sogar ein wenig bekannt vor.
"Müde." Mehr bekam er erst einmal nicht heraus.
Seine Antwort schien die drei Menschen um ihn herum zu amüsieren, sie lachten ein wenig. Er verstand leider nicht, worum es ging, aber es war egal. Er war immerhin aus dieser komischen Traumwelt raus - oder was auch immer das war.
"Jim?", krächzte er, als die Personen um ihn herum wieder ruhiger wurden.
Während der Mann und die eine Frau, von der er vermutete, dass sie eine Schwester war, überrascht wirkten und scheinbar nicht wussten, worum es ging, ersetzte sich das Lächeln der Ärztin durch eine traurige und niedergeschlagene Mine.
Blair schluckte, er hatte aber auch einen sehr trockenen Hals. Dennoch musste er es jetzt wissen: "Es gab einen Unfall, nicht wahr?" Er machte eine kurze Pause und setzte dann mit zittriger Stimme fort. "Stirbt er?"
Sarah war baff. Woher wusste Sandburg von Ellisons Unfall? Er war gerade erst aus dem Koma erwacht und konnte unmöglich davon erfahren haben. "Woher wissen Sie davon? Detective Ellison liegt noch auf der Intensivstation." Sie senkte ihren Blick. "Wir geben ihm noch etwa fünf Stunden..."
=> Fortsetzung in Kapitel 4 und 5