Blinzelnd wurde er wach und richtete sich langsam auf. Das weiche Moos unter ihm war ihm ein gutes Bett gewesen. Wie lange hatte er hier gelegen? Wie war er überhaupt hier her gekommen? Ruhig ließ er seinen Blick über die vor ihm liegende Landschaft schweifen.
Er befand sich auf einem Hügel und konnte den gesamten Wald überblicken - wo er auch hinsah, es waren nur Bäume zu erkennen. Aber es war keine heimische Gegend, sondern er befand sich definitiv in den Tropen.
Ehrfürchtig bewunderte er den Horizont. Während die gesamte Umgebung in ein Blau gehüllt war, spielte sich am Himmel eine Farbenpracht ab, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Der Sonnenuntergang wirkte, als würde der Himmel brennen.
Lange Zeit genoss er diesen Anblick. Er wusste nicht wieso, aber er verspürte eine innere Ruhe wie selten zuvor. Müsste ich mir keine Gedanken machen, wie ich hierher kam oder was ich hier soll?
Als die Farben des Naturschauspiels langsam verblassten stand er auf und versuchte noch einmal seine Situation zu überblicken.
"Wie um Himmels Willen bin ich hier her gekommen? Vielleicht ist es einfach nur ein Traum, aber es wirkt so real..." Unbekümmert gab er seinen Gedanken Worte.
Als hätte man ihn gehört, folgte eine Antwort. Eine tiefe Stimme aus dem Nichts erwiderte: "Beobachte und lerne, junger Schamane."
Er glaubte diese Stimme kennen zu müssen, aber konnte sie nicht einordnen. Und wie hatte man ihn genannt, 'junger Schamane’? Er suchte nach einem Hinweis, wer sich hinter dieser Aussage verbarg, und lief einige Meter tiefer in den Dschungel.
Plötzlich kreuzte ein Wolf seinen Weg und instinktiv folgte er dem Tier...
Jim wälzte sich in seinem Bett immer wieder hin und her. So sehr er auch wollte, er konnte nicht mehr schlafen. Erneut warf er einen Blick auf seinen Wecker und seufzte. Er hatte gerade mal etwas über drei Stunden geschlafen. Die Vision, die er dabei hatte, beschäftigte ihn seit dem. Dieses Mal war sie völlig anders gewesen.
Der Sentinel rieb sich seine Augen, als könne er so die eben gewonnen Eindrücke wegwischen, und stand auf. Er zog sich seine Jeans, die er auch schon zuvor trug, über und suchte sich ein frisches Shirt heraus. Fertig angezogen lief er die Stufen zur unteren Etage hinunter. Er schlenderte in Blairs Zimmer und starrte auf das leere Bett. Wo sollte er beginnen zu suchen, wenn er eigentlich nicht wusste, wonach?
Wie ein Blitz kam ihm ein hilfreicher Gedanke: Er erinnerte sich Parfum oder Ähnliches gerochen zu haben, als er mit Blair nach dem Arztbesuch wieder nach Hause kam. Es war ein merkwürdiger Geruch, den er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es auch gar kein Parfum, aber es war ein Hinweis. Vorsichtig versuchte er die Fährte dieses Duftes aufzunehmen aber es waren inzwischen zu viele fremde Personen im Loft gewesen, er konnte den Geruch nicht mehr aus der Vielzahl der anderen herausfiltern.
Er erinnerte sich, wie er das erste Mal mit Blair zusammengearbeitet hatte. Damals roch er an einer Wollmütze ein Shampoo und Sandburg und er liefen von einer Parfümerie zur nächsten um diesen Duft zu identifizieren.
Entschlossen eilte Jim zur Eingangstür und schnappte sich zuvor seine Jacke. Draußen stand ein Beamter zur Bewachung des Lofts. Der Detective erklärte ihm, er müsse dringend etwas erledigen und der Officer nickte nur kurz. Dennoch versäumte Jim es nicht, die Wohnung ordentlich zu verschließen, auch wenn das den Einbrecher das letzte Mal nicht aufgehalten hatte.
Mit Mordskopfschmerzen und einem lauten Seufzer schmiss Jim seinen Wohnungsschlüssel in den Korb auf dem kleinen Schrank neben dem Eingang und ließ hinter sich die Tür zufallen. Er zog genervt seine Jacke aus und versuchte sich zu konzentrieren, was nun zu machen war. Langsam betrat er den Küchenbereich und wollte sich gerade ein Getränk aus dem Kühlschrank holen, als er im Augenwinkel das Telefon blinken sah. Es gab eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Er konnte sich denken, wer auf das Band gesprochen hatte. Simon wollte ihn nach Ablauf der sechs Stunden Frist über die neuesten Ergebnisse der Untersuchung informieren. Jim überlegte, was er seinem Captain erzählen sollte, schließlich hatte er seine Anweisungen nicht befolgt und war verfrüht auf den Beinen gewesen.
Er schüttelte langsam den Kopf, denn den 'Spaziergang' hätte er sich auch sparen können. In allen fünf Parfümerien der Stadt gab es nicht annähernd diesen bestimmten Duft und auch keine Bestandteile daraus.
Seufzend hörte er die Nachricht des Anrufbeantworters ab...
Tausende Gedanken rasten durch seinen Kopf, als er in die Tiefgarage des Departments abbog. Er hatte Recht behalten - Simon hatte ihm eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, er möge, wenn er Ergebnisse hören wollte, zum Revier kommen.
Aber es war nicht dieser Anruf, der ihn beunruhigte. Nach der Nachricht seines Captains gab es noch eine weitere, die von einer Frau auf das Band gesprochen worden war. Sofort glaubte er eine Art Schwingung aufgenommen zu haben, als er diese tiefe Stimme gehört hatte. Sie klang vertraut, aber er wusste genau, diese Stimme noch nie gehört zu haben. Der melodische Klang hatte beruhigend auf ihn gewirkt.
Allerdings war es nicht nur diese mysteriöse Stimme, die ihn so verwirrte. Mindestens genauso unheimlich waren die Worte: "Hallo Mr. Ellison. Ich habe die Antwort auf Ihre Fragen. Treffen Sie mich heute um 13 Uhr im Portside - Park an dem Kunstwerk am westlichen Ende."
Gedankenverloren parkte er seinen Wagen nahe dem Lift, stieg aus, schloss ab und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Abteilung für Gewaltverbrechen. Ihm fiel nicht auf, dass er dabei beobachtet wurde...
Am Büro des Captains angekommen, klopfte er kurz und trat ein ohne eine Antwort von drinnen abzuwarten. Simon schaute hinter seinem Schreibtisch auf und wies Jim an, sich auf den gegenüberstehenden Tisch zu setzen, was der Detective auch direkt tat.
"Wie geht es Sandburg heute?" Die Frage kam nicht nur aus Höflichkeit, das wusste Jim.
"Ich hatte gerade noch bevor ich hier her fuhr mit dem zuständigen Arzt gesprochen, sein Zustand ist unverändert."
Simon nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. Wenn sich etwas Neues ergeben hätte, hätte Jim ihn bereits unterrichtet. Dennoch machte er sich ständig Sorgen um den jungen Polizeiberater.
"Nun, Sir?"
Banks blickte auf und erkannte, dass Jim ihn erwartungsvoll anstarrte, vermutlich schon eine Weile. Er fasste sich und begann seinem Freund die Ergebnisse aufzutischen, die sie bisher gewinnen konnten. Obwohl man von einem Gewinn sicherlich nicht sprechen konnte...
"Haben Sie denn geschlafen, wie ich angeordnet hatte?" Prüfend musterte er zuvor den Detective.
Jim nickte. "Nun kommen Sie schon Sir." Er wirkte genervt, wollte endlich wissen, was es zu berichten gab.
"Also gut." Simon machte eine kurze Pause und blickte Jim noch einmal kurz an. Besonders ausgeschlafen sah er nicht aus...
Er stand auf und nahm eine Tüte von seinem Schreibtisch in die Hand. "Blairs Laptop ergab keine neuen Erkenntnisse. Thompson meinte sogar, er hätte eine Weile gebraucht, bis er das Passwort herausgefunden hatte - und er ist unser bester Computerspezialist." Simons Mundwinkel kräuselten sich ein wenig.
Auch Jim musste leicht schmunzeln. Thompson war nie auf der Polizeiakademie gewesen, sondern kam als ehemaliger Hacker zu ihnen und galt früher als Profi in seinen Kreisen. "Und die Dateien darauf?"
Simon schüttelte mit dem Kopf. "Ich habe Thompson genau ausgefragt. Er meinte, es gäbe nur ein paar belanglose Forschungsarbeiten darauf, nichts, was er als besonders wichtig ansehen würde. Ich bat ihn darum, im Angesicht der Privatsphäre die Auswertung der Informationen Ihnen zu überlassen." Mit diesen Worten übergab Banks mit einem breitem Grinsen Jim den Laptop.
"Danke", erwiderte Jim knapp. "Gab es Fingerabdrücke?"
"Nein, in der ganzen Wohnung wurden keine außer der Ihren und Sandburgs entdeckt." Simon hob die Tüte hoch und zeigte so dem Detective den Inhalt. "Dafür hat unser Täter eine Nachricht hinterlassen." Er übergab Jim die Tüte, der verwundert den Inhalt betrachtete: Es war eine Feder eines Raubvogels, eines Adlers oder... oder vielleicht auch eines Falken.
Mit diesem Gedanken flogen die Bilder einer seiner vorigen Visionen an ihm vorbei - der Falke, der über seinem Kopf vorüber flog und einen lauten Schrei losließ. Dieser Vogelschrei kam ihm plötzlich so real vor, so dass er ruckartig Richtung Fenster blickte und nach dem Tier Ausschau hielt.
"Was ist? Haben Sie etwas gesehen?" Simon versuchte zu erkennen, was die Aufmerksamkeit des Sentinels erregt hatte, aber er konnte nichts Außergewöhnliches finden...
"Nein, nur ein Schatten." Jim wandte sich wieder dem Fundstück zu. "Wo lag diese Feder?"
"Wir fanden sie zwischen den Seiten einer aufgeschlagenen Zeitschrift, als wolle man sie als Lesezeichen benutzen. Die Zeitschrift lag auf Ihrem Wohnzimmertisch."
Jim überlegte, warum ihm dieses Detail nicht aufgefallen war aber wusste direkt wieso: Er war zu sehr mit der Problematik des Laptops und Blairs Gesundheitszustand beschäftigt gewesen. Schließlich lagen öfters Zeitschriften auf dem Beistelltisch.
"Vielleicht benutzt Sandburg solche Federn als Lesezeichen?" Simon überreichte Jim eine weitere Tüte, in der sich eine Zeitschrift befand. Sie war aufgeschlagen, wie man sie gefunden hatte.
Der Sentinel schüttelte den Kopf. "Nein, nicht dass ich wüsste." Er drehte die transparente Plastiktüte um und betrachtete sich das Cover der Zeitschrift. Er glaubte sich an sie erinnern zu können, als er sie vor Tagen schon einmal weggeräumt hatte, nachdem Blair sie mal wieder irgendwo liegen gelassen hatte. War es also doch Blairs Feder?
Nein, irgendetwas in ihm besagte eindeutig, dass dies die Feder eines Falken war. Und zwar nicht irgendeines Falken, sondern dem Falken. Der, der ihm in einer seiner Visionen begegnet war.
"Sie ist nicht von Sandburg", bekräftigte Jim noch einmal und klang dabei sehr überzeugt. Nach Simons Geschmack sich etwas zu sicher...
"Und warum können Sie das so mit Bestimmtheit sagen?" Der Captain sah ihn fragend an und Jim wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
"Ich weiß es nicht. Sagen wir Instinkt. Viel wichtiger ist jetzt, wer hat sie warum und weshalb gerade in diese Seite gelegt?" Jim musterte die aufgeschlagenen Doppelseite sehr genau und war in den Gedanken vertieft.
Instinkt - Simon hatte schon oft Jims Instinkten Glauben geschenkt, aber wie so oft hatte er auch seine Zweifel. Er wusste doch irgend etwas, wollte es ihm aber nicht verraten.
"Jim, raus mit der Sprache! Was wissen Sie über die Sache, was ich noch nicht weiß?"
Der Sentinel sah unschuldig zu ihm auf. "Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir."
"Na, zum Beispiel die Sache mit der Feder. Sie haben eben direkt und eindeutig erkennen wollen, dass Blair sie nicht in die Zeitschrift gelegt hat."
Wie sollte er da nun wieder rauskommen? Jim wollte Simon nicht belügen und andererseits wusste er, wenn er ihm eine ehrliche Antwort geben würde, gäbe der Captain sich nicht damit ab. Er würde seinen 'Fantasien' keinen Glauben schenken.
"Es hat etwas mit der Sentinel - Sache zu tun. Ich kann es Ihnen nicht erklären aber ich weiß, dass der Einbrecher diese Feder mit Absicht in diese Seite gelegt hat." Er drehte die Doppelseite der eingepackten Zeitschrift zu Simon, so dass er die Überschrift des Artikels lesen konnte. In rotbrauner Schrift war groß zu lesen: "Der Ruf der Wildnis". Es war ein Bericht über das Schamanentum. Und schon alleine bei diesem Wort klingelte es in Jims Ohren.
Incacha, sein ehemaliger und leider toter Lehrmeister, nannte Blair kurz vor seinem Tod einen Schamanen. Genaugenommen sagte er, Sandburg wäre auf dem 'Weg des Schamanen'. Beide hatten zu dieser Zeit den Worten nicht viel Beachtung geschenkt und sie gerieten schnell in Vergessenheit. Aber in Betracht dieses gegenwärtigen Zusammenhanges lief dem Sentinel ein Schauer über den Rücken.
"Schön und was hat das nun mit dem Einbrecher oder Blair zu tun?" Simon verstand nicht, wo die Verbindung lag. Kein Wunder - wie so Vieles in diesem Zusammenhang hatten Blair und Jim ihm dieses Ereignis mit Incacha verschwiegen. Simon war einfach nicht der Typ dazu, er glaubte nur an Handfestes und Jim wusste, dass für den Captain oftmals nur Ergebnisse zählten. Deshalb hatten sie davon abgesehen, denn Banks hätte sie beide für verrückt erklärt.
Ohne sein Gesicht zu verziehen gab der Sentinel an, er wüsste es nicht. Das war eine Lüge, aber er konnte jetzt auch nicht riskieren, dass Simon ihm dazwischenfunkte.
"Nun gut, finden Sie es heraus und geben Sie mir Bescheid, sobald Sie etwas Neues haben." Der Captain setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und Jim verließ zügig das Büro.
Aus sicherer Entfernung hatte eine Person diese Konversation beobachtet. Nachdem das Gespräch beendet wurde, verschwand sie in den Fahrstuhl...
Noch immer folgte er leichten Schrittes dem Wolf und fragte sich, was er hier eigentlich machte. Es war eigentlich weniger das Tier, das ihn faszinierte - Blair hörte nur auf seinen Instinkt und der besagte: Folge dem Wolf.
Aber eigentlich wunderte er sich, ob es Zufall war, dass gerade ein Wolf ihm in seinem Traum erschien. Er erinnerte sich an seine erste und einzige Vision zurück, diese, wo er zwischen Leben und Tod schwebte. Wo Jim ihm als Panthers erschien und kam um ihn - er war ein Wolf - aus dieser 'Zwischenwelt' herauszuholen. Er hatte damals einen schwarzen Jaguar auf sich zueilen gesehen. Und bevor er wahrhaben konnte, wer oder was das war, war er auf diesen zugerannt und hatte zu einem Sprung angesetzt. Das andere Raubtier hatte es ihm gleich getan. Aber anstatt in der Luft zusammenzustoßen hatten sie sich in einem Lichtblitz vereint. Und alles, woran er sich dann noch erinnern konnte, war, dass er daraufhin Wasser gespuckt hatte. Er hatte die Augen einen Spalt geöffnet und sah seinen Sentinel - überschattet von der Kontur eines Panthers. Er hatte es Jim nie erzählt - auch nicht, wie viel ihm dieses Erlebnis bedeutet hatte...
Nach einer Weile erreichten Blair und der Wolf eine Lichtung, die zu einem Abgrund führte. Das Tier lief leichtfüßig zum Rand der Klippe und blickte sich um, als es bemerkte, dass sein Begleiter ihm nicht nachkam.
"Wenn du glaubst, ich würde da vorne hinkommen, kannst du lange warten!" Blair stellte sich kurz auf seine Zehenspitzen um abzuwägen, wie tief und breit die Schlucht vor ihnen war. Aber er wandte direkt wieder seinen Blick ab. Welche Ausmaße sie auch hatte, für Blairs Höhenangst reichte es alle mal...
Der Wolf betrachtete ihn mit großen, bernsteinfarbenen Augen, als wolle er damit sagen: 'Nun komm schon, es gibt keinen anderen Weg.'
Blair überlegte. Er suchte in beiden Richtungen der Schlucht nach einem Weg sie zu überqueren, denn er wusste - tief in seinem Inneren - diese Hürde galt es zu meistern. Achselzuckend blickte er das Tier an. "Tut mir leid, aber wir müssen es an einer anderen Stelle versuchen." Er suchte sich spontan eine Richtung aus, setzte sich in Bewegung und fügte scherzhaft hinzu: "Denn wir können beide nicht fliegen, mein Freund."
Der Wolf sah ihm nach und kläffte. Blair drehte sich wieder zu ihm um. Das Tier trat näher an den Abgrund heran und setzte einen Fuß über die Klippe.
Blairs Herz raste. "Nicht!"
Aber es war zu spät, das Tier setzte die zweite Vorderpfote vor die andere und zur Verwunderung des jungen Wissenschaftlers schienen die Beine auf einem festem Untergrund zu stehen. Als sei dort eine Art unsichtbare Brücke.
Neugierig trat er einige Meter heran, achtete aber darauf, dass es bezüglich seiner Höhenangst keine Probleme gab. In der Zwischenzeit stand der Wolf gänzlich in der Luft. So sehr Blair sich auch anstrengte, er sah keinen Untergrund, auf dem das Tier Halt gefunden hätte. Der Wolf schien buchstäblich zu schweben.
Überrascht fragte er das Tier, wie es das anstelle, aber es gab keine Antwort. Seit wann können Wölfe auch sprechen, Blair! Aber sie können ja auch nicht in der Luft schweben...
Erneut schaute sein Begleiter ihn auffordernd an.
"Oh nein, auf gar keinen Fall! Da bringen mich keine zehn Pferde hin!" Mit abweisender Armbewegung schritt Blair zurück - auf das sichere Festland zu. Dieser Anblick des regelrecht fliegenden Tieres gab seiner Angst vor Höhen neues Futter. Er wurde kreidebleich und begann einen Weg entlang der Schlucht einzuschlagen. Er hörte noch mehrmals den Wolf, der ihn so versuchte, wieder zurückzuordern. Aber Blair konnte das nicht. Wieso auch gerade eine Schlucht? Alles, nur das nicht! Verängstigt aber auch verärgert stapfte er immer der Nase nach...
Konzentriert beugte sich Jim über die Zeitschrift, die man bei ihnen in der Wohnung mit der Feder zwischen den Seiten entdeckt hatte. Aber eigentlich konnte er sich nicht so recht darauf konzentrieren. Ständig kamen Mitarbeiter an seinem Schreibtisch vorbei und fragten ihn, wie es Sandburg ginge.
Aber das war es eigentlich nicht, was ihn so ablenkte. Auf der Doppelseite des Artikels war unterhalb der Überschrift ein großes Bild eines heulenden Wolfes. Sofort erinnerte ihn das an die heutige Vision.
Sie war völlig anders als die vorigen gewesen.
Während er darüber nachdachte, flogen in ihm noch einmal die Ereignisse im Gedanken vorbei:
Dieses Mal war er nicht aktiv beteiligt, sondern mehr wie ein stiller Beobachter. Er sah alles wie hinter einer Glasscheibe. Um ihn herum war sonst nur Schwärze.
Ihm fiel sofort der Wolf auf. Aber diesmal schien er anders. Er war nicht mehr so geschwächt, wie in den früheren Träumen.
Das Verwirrenste war, dass er auch Blair in dieser Vision sah. Auch er war nicht geschwächt oder sah verletzt aus. Er beobachtete sie eine Weile, wie sie zusammen in der Ferne durch den Dschungel liefen.
Er versuchte zu ihnen durchzudringen. Er rief nach ihnen, winkte - aber Blair bemerkte ihn nicht, als wäre er nicht da.
Darauf hatte sich die Vision gänzlich verändert. Von einem Moment zum nächsten war plötzlich die Glasscheibe verschwunden und er stand im Nichts. So sehr er sich auch anstrengte, er erkannte nur Schwärze um sich.
Plötzlich hörte er wieder den Schrei des Falken. Er drehte sich in alle Richtungen, konnte aber den Falken nicht sehen.
Erst einige Sekunden später erschien das prachtvolle Tier. Es flog auf ihn zu und nahm auf einem Ast eines Baumes platz, der plötzlich erschien.
"Wer bist du?", fragte Jim den Falken, seine Stimme hallte.
Anstatt zu antworten breitete das Tier seine Flügel aus und setzte zum Flug an.
Er blickte dem Vogel hinterher und schaute mit einem Mal in die Sonne, auf die der Falke zuflog. Unter Schmerzen schützte er seine Augen vor dem grellen Licht. Mit diesen Eindrücken war die Vision beendet.
Jim blickte von der Zeitung auf und überlegte, was er als nächstes machen sollte. Er hatte gehofft, der Artikel hätte ihm weitergeholfen, aber es stand nichts darin, was er als Hinweis interpretieren würde.
Die Feder entpuppte sich Laut Spurensicherung tatsächlich als die eines Falken. Jim hatte nichts anderes erwartet.
Seufzend warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und beschloss noch schnell im Krankenhaus vorbeizuschauen, bevor er sich dann mit der mysteriösen Frau treffen würde.
Sie parkte den Wagen einige Meter entfernt vom blau-weißen Truck. Im Grunde genommen war es egal, ob sie schon jetzt von ihm entdeckt wurde. Insgeheim hoffte sie sogar darauf...
Er verließ das Auto erst nach einer Weile und schaute sich um, bevor er schließlich zum Haupteingang des General Hospitals lief.
Sie fragte sich, ob er das instinktiv machte oder etwas von ihrer Anwesenheit wusste, sie vielleicht sogar spürte...
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie war stolz darauf, ihn gefunden zu haben. Sie hatte ihn entdeckt, niemand sonst. Ihn und seinen sogenannten Guide. Man hatte sie immer wie eine Ausgestoßene behandelt, ihrer Fähigkeiten wegen belächelt, es als Blödsinn, ja sogar als Schwindel abgestempelt...
Aber heute war der Tag der Wahrheit. Nur zu schade, dass sie es nicht all denen zeigen konnte, die über sie gelacht hatten.
Geduldig wartete sie darauf, dass der Sentinel - ihr Fundstück - wieder aus dem Krankenhaus kommen würde...
Es war mehr eine Qual wie eine Erleichterung, unter diesen Umständen bei seinem Guide zu sein. Zu gern wüsste er, was in ihm wohl vorginge. Manche Leute behaupteten ja, dass Menschen, die im Koma lagen, Stimmen um sie wahrnahmen, vielleicht sogar Berührungen...
Vorsichtig nahm Jim die Hand seines Freundes. Er überlegte, was er sagen sollte. Selbst unter diesen Bedingungen - ihn konnte sonst niemand hören - wollte nicht so recht etwas Sentimentales aus ihm herauskommen. Keine warmen Worte, mit denen er Blair hätte ermuntern können, wieder in die Realität zurückzufinden.
Stattdessen sprach er nur von alltäglichen Begebenheiten, belangloses Zeug, in der Hoffnung, dass es die Stimme war, die zählte, nicht die Worte... Er erzählte davon, dass Brown und Rafe den kniffligen Fall um die Autoschieber geknackt hatten. Alle Beteiligten wurden gefasst, es war eine saubere Verhaftung. Megan hatte gerade ein paar Tage Urlaub und war direkt Zeuge eines Unfalls, der sich später als Überfall entpuppte. Auf dem Police Department war immer etwas los, es gab immer etwas Neues.
Nach fast anderthalb Stunden blickte er auf die Uhr. Traurig musterte er seinen Partner und wunderte sich, was er erwartet hatte. Dass er einfach aus seinem Koma aufwachen würde, weil er seine Stimme hörte? Das war irrational, unlogisch, einfach zu unwahrscheinlich.
Er erinnerte sich an die vielen Male, als er sonst immer an Blairs Krankenbett gesessen hatte und darauf wartete, dass der Junge wach wurde. Keiner dieser Tage war mit dem heutigen zu vergleichen. Denn es war in jedem Falle klar, dass er wieder aufwachen würde, dass er langsam seine dunkelblauen Augen öffnete und zu ihm aufschauen würde.
So schlimm auch die Zeit davor war, neben dem Bett zu sitzen und einfach nur darauf zu warten, dass sein Guide erwachte, so schön war eben dieser Moment. In Blairs Augen sah man dann nicht unbedingt den Schmerz, keine Schwäche bezüglich der Verletzung oder ähnliches. Nein, er sah jedes Mal das gleiche in diesen tiefblauen Augen mit dem unschuldigen Blick, der besagte: Ich wusste, dass du hier bist. Ich wusste es und ich weiß es, denn in deiner Gegenwart fühle ich mich geborgen und sicher. Du bist der Ruhepunkt und meine Kraft, von der ich schöpfe.
Jim fragte sich, woher er diese Worte hatte, sie klangen nicht nach ihm. Vermutlich hatte er sie einmal irgendwo gelesen aber erinnerte sich nicht, wo.
Es war egal. Alles war egal, solange sein Guide nicht anwesend war. Ihm war nie bewusst gewesen, wie stark er von ihm abhängig war. Er bemerkte zwar keine Veränderungen mit seinen Sinnen, aber wenn er sie verstärkt benutzte, bekam er bereits Kopfschmerzen. Er wusste nicht, ob es mit der Situation zu tun hatte, in der sich sein Partner befand, aber er vermutete es. Wenn das tatsächlich der Fall war, dann würde es wahrscheinlich mit der Zeit schlimmer werden. Vielleicht würde er sogar ganz seine Kontrolle verlieren...
Er schob diesen schrecklichen Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihm lag. Wenn er noch rechtzeitig diese Frau, die ihm - ihnen beiden - angeblich weiterhelfen konnte, treffen wollte, musste er jetzt los.
Langsam löste er seinen Griff um Blairs scheinbar leblose Hand. Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Schließlich drehte er sich doch noch einmal zu seinem Freund um, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas in sein Ohr. Er berührte es dabei fast.
"Du bist nicht alleine, Blair. Wenn du mich hörst: Kehr zu mir zurück, denn ich brauche dich, Kumpel. Ich brauche dich so sehr wie nichts anderes auf dieser Welt und das weißt du."
Überrascht über sich selbst richtete er sich wieder auf - warf noch einmal einen hoffnungsvollen Blick auf seinen Freund - und verließ schließlich still das Zimmer.
Es war ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne schien ungehindert, da keine Wolke ihre Strahlen abwehrte. Der strahlend blaue Himmel ergab ein beeindruckendes Farbspiel mit den roten bis gelben Blättern der Bäume hier im Portside Park. Im Hintergrund sah man die Skyline von Cascade Downtown und den Fluss. Eine lauwarme Brise durchfuhr die Luft und trug Blütenduft der vielen Blumen, die um diese Jahreszeit noch blühten, mit sich.
Jim konnte diese Idylle nicht genießen. Er musste immer wieder an Blair denken - dieser liebte solche Tage wie diesen. Manchmal, wenn er die Zeit an einem solchen Tage fand ging er spazieren. In einem der Parks hier in Cascade oder an der Küste entlang. Der Sentinel bewunderte ihn dafür ein wenig. Er hatte sich nie für so etwas Zeit genommen und hätte ständig etwas anderes im Sinne. Blair hatte die Gabe, sich per Meditation oder einfach einem kurzem Spaziergang, seinen Kopf freizumachen. Jim beneidete ihn dafür ein wenig...
Er prüfte wieder die Uhrzeit - sie war bereits fast zehn Minuten zu spät. Er fragte sich, wen er antreffen würde. Ihre Stimme auf dem Band hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihn. Zum einen hatte er das Gefühl, als könnte sie ihm tatsächlich weiterhelfen und andererseits sagte eine innere Stimme in ihm, dass er sich vor ihr in Acht nehmen musste. Und das alles nur aufgrund einer Nachricht, einer Stimme, die er gehört hatte? War das noch normal oder begann er jetzt ganz verrückt zu werden?
Nervös lief er immer hin und her, vorbei an dem Kunstwerk, wie die Frau es nannte. Es stellte ein Tor dar, so glaubte Jim, eine Art Portal. Es hatte etwas Altertümliches an sich. Blair hätte ihm jetzt sicher etwas dazu sagen können, aber als Laie konnte er nichts weiter damit anfangen.
Wie er da steht und sich das Tor anschaut. Ob er weiß, was es bedeutet? Ob er weiß, was auf ihn zukommt? Was er gerade denken mag...
Sie näherte sich langsam und lautlos seiner Position. "Detective Ellison." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ihre Stimme klang weich und sanft.
Jim erschrak und drehte sich um. Vor ihm stand eine etwa fünf bis zehn Jahre ältere Frau als er selbst. Sie hatte einige Falten in ihrem Gesicht, die sie aber nicht entstellten - im Gegenteil, es schmeichelte ihren dunklen, fast schwarzen Augen und ihrem gutmütigen Lächeln.
Der Sentinel war erstaunt. Wieso hatte er sie nicht kommen hören?
"Mein Name ist Esira." Sie verbeugte sich etwas vor ihm.
Erst jetzt fiel ihm dieser Duft auf, den er erst noch in sämtlichen Parfümerien gesucht hatte. Er erwiderte ihre Geste, indem er leicht den Kopf senkte. "Sie haben Informationen für mich, die mir weiterhelfen könnten?" Er versuchte dabei sachlich zu bleiben, sich nichts anmerken zu lassen, denn er war auf einmal ziemlich nervös.
Sie schmunzelte und nickte.
"Sie waren es, die in meine Wohnung eingebrochen sind, nicht wahr?"
Wieder nickte sie nur.
"Eigentlich sollte ich sie sofort festnehmen!" Er war im Begriff seine Handschellen zu nehmen und sie ihr umzulegen. Aber er musste hören, was sie zu sagen hatte. "Wieso?" Er ärgerte sich selbst darüber, wie wortkarg er doch war.
"Um ihm zu helfen."
Er wusste sofort, von wem sie sprach. Er verstand aber nicht den Zusammenhang.
Sie bemerkte seinen fragenden Blick. "Dein Freund ist ein besonderer Mensch - wie du. Zusammen seid ihr Sentinel und Guide." Sie machte eine kurze Pause um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen.
Seine Gedanken rasten. Sie musste Blairs Laptop geknackt haben und somit diese Informationen daraus entnommen haben. Das machte sie noch mal so gefährlich. Aber sie sah für Jim nicht gerade wie ein Hacker aus...
Ruhig setzte sie fort: "Ihr seid viel mehr als nur Freunde oder Partner - ihr seid eins." Sie lief um ihn herum auf das Portal zu. "Er ist auch viel mehr, als nur ein ständiger Begleiter und Helfer. Du hast ein Schicksal - er hat sein Schicksal."
Jim bemerkte, dass sie ihn ohne Weiteres duzte, aber er war nicht überrascht. Irgendwie passte das zu ihrem Typ.
"Sie meinen, mein Schicksal sei es, ein Sentinel zu sein und seines, mein Guide zu sein."
Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Du bist ein Sentinel, das ist richtig. Und er ist dein Guide. Aber auch er hat eine Besonderheit an sich."
Langsam senkte Jim den Kopf. "Sie meinen doch nicht etwa die Sache mit dem Schamanen?" Er war über sich selbst überrascht, was er alles mit der eigentlich fremden Frau austauschte. Aber es kam ihm so vor, als wüsste sie sowieso schon alles. Streng genommen wusste sie scheinbar noch mehr...
Esira nickte wieder nur und zeigte auf das Portal. "Komm mit und ich zeige es dir."
Verwirrt starrte Jim auf das Tor. Was wollte sie von ihm? Dass er mit ihr dadurch ging? Was sollte das bringen?
Sie bemerkte seine Unentschlossenheit. "Vertrau mir." Sie nahm vorsichtig seine Hand um ihn nicht zu erschrecken. Er wusste nicht wieso, aber er ließ sie gewähren.
Zusammen bestiegen sie die zwei Stufen zu dem Portal und gingen hindurch. Mit einem Lichtblitz verschwanden sie...
Ende
Wird fortgesetzt in "Der Weg des Schamanen"
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