Irene bemerkte den neugierigen Blick des jungen Mannes neben sich. "Blair..."
"Sie sind eine Sentinel, nicht wahr?", unterbrach er sie und starrte sie weiter an.
Das Mädchen blinzelte einige Male und schluckte. Aber eigentlich wunderte es sie nicht wirklich, dass er zu so einer Schlussfolgerung kam.
"Nun... ich hatte gehofft, Jim würde es Ihnen erzählen, er wollte es, aber..."
"Oh man", fiel er ihr erneut ins Wort. "Sie sind wirklich...? Wow, das ist unglaublich! Und jetzt fühlen Sie sich zu Jim... sagen wir hingezogen?"
Irene schüttelte vehement den Kopf. "Nein. Ich bin keine Sentinel und das, was Sie als 'hingezogen' bezeichnen, das ist mehr freundschaftlich. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll: Ich fühle mich in seiner Gegenwart geborgen, sicher."
"Wenn Sie keine Sentinel sind, wie konnten Sie dann den unscheinbaren Spalt in der Hütte sehen und..." Er hielt abrupt inne, als er sah, dass Irene hastig aufstand. "Was ist?"
"Er ist hier", flüsterte sie und blickte sich um.
"Was? Ich sehe nichts..." Für einige Sekunden war es still - zu still...
"Vorsicht!" Aber es war zu spät, Irene musste mit ansehen, wie ein Mann aus dem Dickicht gesprungen kam und Blair mit einem Mal niederschlug. Daraufhin näherte er sich dem Mädchen.
"Was wollen Sie von mir?" Sie entfernte sich rückwärts von dem Mann, aber rannte nicht weg. Sie wusste, dass sie keine echte Chance hatte, sie war müde und geschwächt und sie wollte ihm keinen Grund zu unnötiger Gewalt geben.
"Du weißt genau, was ich möchte. Und du möchtest es doch auch." Er schnappte ruckartig nach ihr und riss sie zu Boden. Irene versuchte sich zu wehren, aber hatte keine Chance. Er begann ihr Flanellhemd, das sie noch immer von Blair trug, aufzuknöpfen.
Sie schubste ihn weg und versuchte aufzustehen, aber er hielt sie kräftig bei sich. "Du machst es uns unnötig schwer, meine Kleine." Er hielt ihr Kinn fest und setzte zu einem Kuss an.
"Was haben Sie mit Jeanny gemacht?" Sie wandte sich ab.
Der Mann lachte und fasste erneut nach ihrem Kinn. "Sie wusste auch nicht, was gut für sie ist."
Er näherte sich Irene und küsste sie auf ihre Lippen. Angewidert riss diese ihre Augen auf und versuchte ihn wegzudrücken. Währenddessen knöpfte er mit der freien Hand das Hemd weiter auf...
Jim betrachtete die Akte vor sich. Immer und immer wieder hatte er sie durchforstet, in der Hoffnung, einen Anhaltspunkt zu finden.
"Ich glaube, ich habe etwas gefunden." Triumphierend reichte Joel ihm ein Schriftstück. Ellison las aufmerksam, was darauf stand. Es war die Akte eines Martin Austin, der schon vor über zehn Jahren nach der gleichen Methode junge Frauen vergewaltigte.
"Es sieht so aus, als sei das entweder ein Nachahmer oder eben unser Mann." Taggert zeigte auf ein Foto, dass in der Akte lag. Es zeigte einen kräftigen Mann mit langen blonden Haaren, die er hinten zusammengebunden trug.
"Sehr gute Arbeit, Joel." Er bemerkte, wie sich Megan neugierig näherte.
"Etwas Neues?", fragte sie gespannt und blickte auf die Unterlage.
"Joel hat einen Fall gefunden, der unserem scheinbar bis aufs Haar gleicht." Der Sentinel blätterte weiter durch die Akte und betrachtete dann eine Seite genauer.
"Haben Sie sich das schon genauer angeschaut?", wandte er sich wieder an Joel.
"Nein, als ich merkte, dass es unserem Fall so ähnelte habe ich es direkt zu Ihnen gebracht. Ist etwas nicht in Ordnung?" Er lief um den Tisch und stellte sich neben Jim um ebenfalls in die Unterlage Einblick zu erhalten.
"Allerdings. Damals wurden die Vergewaltigungen in Milltown durchgeführt."
"Milltown? Und was ist daran so besonderes?" Taggert wechselte einen Blick mit Megan, die ebenfalls keinen Zusammenhang erkannte.
"Irene kommt aus Milltown. Natürlich kann das nur Zufall sein, aber ich glaube nicht an Zufälle." Er blätterte auf die nächste Seite. "Was ist das?" Er zeigte auf die Unterschrift.
"Hm, die Verhaftung wurde von einem Brandon Peterson unterzeichnet..." Megan fuhr hoch. "Peterson? Ist das etwa..."
"Das lässt sich herausbekommen." Jim tippte etwas in seinen Computer ein. "Brandon Peterson, Mordkommission Milltown." Er überflog ein paar weitere Daten. "Hier: Tochter Irene Peterson. Verdammt! Es war tatsächlich Irenes Vater, der ihn eingelocht hatte."
"Schauen Sie mal nach, wo dieser Martin Austin eingeliefert wurde." Megan blickte ungeduldig auf den Bildschirm. Kurze Zeit später erschien die gesuchte Information.
"Nur neun Jahre?" Ungläubig wandte sie sich ab und blinzelte zu Jim. "Der Mistkerl saß nur neun Jahre?"
"Er wurde vor drei Monaten aus dem Cascader Gefängnis entlassen. Das ist unser Mann."
"Aber wieso vergriff er sich an genau diesen Mädchen?", fragte Joel.
Jim wandte sich vom Computer ab. "Vielleicht hatte er gar nicht von vornherein vor Irene ebenfalls zu entführen. Er erkannte wahrscheinlich erst die Verbindung, als er sich Jeanny Peterson vorknüpfte."
"Das erklärt zumindest, wieso er das Mädchen plötzlich auf ganz andere Weise entführte", überlegte Megan weiter. "Vielleicht hatte er schon vor zehn Jahren ein Auge auf sie geworfen."
"Möglich", murmelte Jim und stand auf. "Ok. Joel? Sie werden versuchen, weiter etwas über Austin herauszubekommen. Und Sie kommen mit, Megan." Er nahm sich die Akte und steuerte das Büro des Captains an. Endlich hatten sie einen Anhaltspunkt.
Krampfhaft versuchte sie sich von dem Griff des kräftigeren Mannes zu lösen, aber ohne Erfolg. Ihre Sicht wurde nach und nach schlechter, sie erkannte nur noch spärlich ihre Umgebung.
Plötzlich hörte sie einen dumpfen Schlag und ihr Peiniger wandte sich von ihr ab. Hinter ihm erkannte sie Blair, der mit einem dicken Ast ein weiteres Mal auf den Mann einschlug. Dieser stürzte zu Boden und blieb bewusstlos liegen.
Blair ließ den Knüppel fallen und stürzte zu Irene. "Alles in Ordnung?" Er blickte in ihre geschockten Augen. Mit zittrigen Händen begann sie sich ihr Hemd wieder zuzuknöpfen.
"Irene?" Besorgt rückte er näher.
"Ja, ich denke schon." Sie starrte auf den bewusstlosen Mann. "Danke", flüsterte sie.
"Dieses Schwein!" Blair vergewisserte sich, dass sie nicht schwerer verletzt war. "Können Sie laufen?"
Irene nickte. "Was ist mit ihm?" Sie starrte auf den bewusstlosen Mann. Seine blonden langen Haare verdeckten sein hässliches Gesicht.
"Wir sollten ihn auf keinen Fall entwischen lassen." Wenn sie ihn wenigstens fesseln könnten, aber ihre eigenen Fesseln waren zerschnitten und sie hatten sonst keine anderen brauchbaren Gegenstände.
"Am besten wir laufen zurück zur Hütte. Vielleicht ist dort in der Nähe eine Straße oder der Kerl hat dort irgendwo sein Auto stehen. Sind Sie sicher, dass Sie so laufen können?" Blair zog sich sein Hemd aus und warf es ihr über. Untendrunter hatte er noch ein langärmliges Shirt an.
"Ja, danke", flüsterte sie nur.
Blair überlegte ihren nächsten Schritt. Es wäre nur logisch, den Mörder mitzunehmen, aber mit seiner wunden Schulter konnte er ihn unmöglich den ganzen Weg alleine zurückschleifen und Irene schien nicht in der Lage ihm zu helfen. Ihnen blieb nichts anderes übrig als zu versuchen, vor dem Mörder da zu sein. "Wir werden erst noch kurz hier bleiben."
Er lief zum Bewusstlosen und erkannte erfreut, dass er Turnschuhe mit Schnürsenkeln trug. Er löste die Bänder und benutzte sie um ihn zum einen seine Hände und zum anderen seine Beine zu fesseln. Er würde nicht lange brauchen sie zu lösen, aber es würde ihnen Zeit verschaffen.
Er setzte sich langsam neben das Mädchen. Sein Kopf schmerzte schon zuvor, jetzt aber war es die Hölle. Vermutlich hatte er eine Gehirnerschütterung oder ähnliches, aber es half nichts, er musste durchhalten, wie auch Irene.
Nach wenigen Minuten machten sie sich auf den Weg. Blair lief voraus und Irene versuchte ihm so gut es ging zu folgen. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihr schwindeliger und ihre Sicht wurde ebenfalls immer schlimmer.
"Wir haben das Gespräch von vorhin noch nicht beendet." Irene hoffte, damit von ihren starken Kopfschmerzen, die sie hatte, abzulenken.
"Wir müssen nicht jetzt darüber reden." Blair wollte das Mädchen so gut schonen, wie es ging. Er konnte den Vorfall nicht ungeschehen machen, aber er sprach sich dennoch ständig die Schuld zu.
"Doch, jetzt." Irene verschränkte ihre Arme, ihr war noch immer kalt. "Wo waren wir stehen geblieben?"
"Sie hatten mir gesagt, dass Sie keine Sentinel seien und dass Sie sich nicht zu Jim 'hingezogen' fühlen."
"Richtig", murmelte sie und blickte dem jungen Guide fest in die Augen. "Ich weiß, dass das Auslegungssache ist, aber ich bin keine Sentinel."
"Wie meinen Sie das?" Blair kam neugierig näher.
"Sie lagen mit Ihren Vermutungen gar nicht so falsch. Ich weiß, was meine Halbschwester Alicia ist, sie hatte mir von Ihnen erzählt, was sie von Ihnen über die Sentinel erfahren hat, was ein Sentinel überhaupt ist."
"Ja, ich hatte ihr klar gemacht, dass sie bestimmte Fähigkeiten hat und wo die ihren Ursprung haben."
Irene nickte zustimmend. "Ich kam nach Washington, nachdem sie dort in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Sie erzählte mir davon und seit dem weiß ich, was ich bin oder viel mehr nicht bin..."
"Ich glaube, ich verstehe nicht."
"Blair, ich habe einen geschärften Hör-, Seh- und Geschmackssinn. Aber nur eben diese drei Sinne sind bei mir so ausgeprägt. Ich bin also keine richtige Sentinel."
Für ein paar Sekunden war es still.
"Ich habe bereits Hunderte von Fällen studiert und aufgezeichnet, wo Menschen nur ein oder zwei Sinne geschärft hatten, aber mit drei... Vielleicht lassen sich die anderen beiden noch ausbauen, Jim wusste auch zuerst nur von..."
"Nein", unterbracht Irene ihn, "ich habe es immer und immer wieder versucht. Die anderen Sinne sind und bleiben normal."
"Vielleicht können wir daran arbeiten. Ich meine, ich habe Erfahrungen auf diesem Gebiet."
"Das bringt nichts. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das wirklich möchte." Irene senkte ihren Blick.
"Irene, das habe ich auch schon ihrer Schwester gesagt: Was Sie haben ist keine Belastung, nichts, wessen Sie sich schämen oder Angst haben müssen. Sie haben eine Gabe, wie auch Ihre Schwester und Jim sie haben."
"Ich habe sehr wohl gesehen, was diese Gabe aus meiner Schwester gemacht hat", erwiderte das Mädchen.
"Alex, ich meine Alicia, ist nicht ihrer geschärften Sinne wegen kriminell geworden." Blair erkannte schon, dass es nicht leicht sein würde, Irene zu überzeugen, dass ihre Fähigkeiten kein Fluch waren. Aber das war es bei Alex und Jim auch nicht gewesen...
"Ich meine doch nicht ihre Gesetzeswidrigkeiten. Ich spreche von ihrer... ihrer Desorientierung, ihrer Probleme, seit dem sie in diesem heiligen Wasser lag oder was das auch immer war."
Blair seufzte, darauf wollte sie also hinaus. "Das war allein Alicias Entscheidung. Es ist schwer zu erklären... Sie hat sich für den falschen Weg entschieden. Jim dagegen tat genau das Richtige."
"Und woher will ich wissen, dass ich es auch richtig mache? Wenn nicht, ende ich dann wie meine Schwester?" Man hörte klar ihre Angst, die sich hinter diesen Worten verbarg.
"Irene, ich kann Ihnen mit Ihren Sentinel-Fähigkeiten helfen, aber ich kann Ihnen nicht Ihre Entscheidung abnehmen, ob Sie eine Sentinel sein wollen oder nicht. Ihre Sinne lassen sich nicht einfach abschalten, Sie werden so oder so mit ihnen leben müssen. Sie können sich nur selbst einen Gefallen tun und kooperieren."
"Ja, es sieht so aus, als sei mein Schicksal schon besiegelt", flüsterte sie und hoffte, dass sie bald an der Hütte angekommen würden. Sie hatte keine Lust mehr, diese Unterhaltung fortzusetzen, nicht hier und jetzt.
Blair erwiderte auf ihre Worte nichts mehr. Er ließ ihr etwas Zeit darüber nachzudenken.
"Sind Sie sicher, dass wir hier entlang müssen?" Blairs Kopfschmerzen quälten ihn. Sie liefen erst höchstens zehn Minuten.
"Wieso ich, ich dachte, Sie führen uns?" Irene hielt inne.
"Sie sind die Sentinel. Müssten Sie nicht so etwas wie eine Spur oder so erkennen?" Blair war verwirrt, er kannte Jims Eigenschaften, für ihn wäre es leicht gewesen...
"Ich folge Ihnen doch ständig nur, aber wenn Sie es genauer wissen wollen: Nein, ich kann keine Spur erkennen, ich bin froh, wenn ich in dieser verdammten Dunkelheit überhaupt noch etwas erkenne!" Irene setzte sich wieder beleidigt in Bewegung.
In Blairs Ohren klingelte es. Eine Sentinel erkannte nichts in der Dunkelheit? "Wollen Sie damit sagen, dass Ihr geschärfter Augensinn nicht funktioniert?" Blair rückte auf und hielt das Mädchen zurück.
Bedrückt blickte sie zu ihm auf. "Genaugenommen sehe ich fast gar nichts mehr. Ich habe höllische Kopfschmerzen und ich habe manchmal das Gefühl, die ganze Welt drehe sich um mich."
Der Guide überlegte kurz: Die Kopfschmerzen und Schwindelfälle könnten von dem Schlag, den sie bekommen hatte, herrühren. Ihm erging es da nicht viel anders. Aber der Verlust der Sicht ließ sich dadurch nicht erklären. Vielleicht waren es diese schwierigen Umstände. Wahrscheinlich waren Ihre Sinne überlastet. Er wusste ja noch nicht einmal, ob sie diese überhaupt schon mal so lange und konzentriert benutzt hatte.
"Schließen Sie Ihre Augen."
"Was?" Verwirrt blickte Irene den jungen Guide an.
"Schließen Sie Ihre Augen. Sie werden sehen."
"Gut. Und jetzt hören Sie genau auf meine Stimme. Versuchen Sie sich auf sie zu konzentrieren. Gut. Und jetzt atmen Sie ganz langsam ein... wieder aus..."
"Ist das hier eine Yoga-Sitzung? Wir haben keine Zeit für so etwas!"
"Hey, ganz ruhig. Sie werden sehen, das lässt Ihre Kopfschmerzen verschwinden. Und Sie werden gleich wieder besser sehen können. Wir brauchen Ihren geschärften Augensinn um zur Hütte zurückzufinden. Hören Sie auf meine Stimme. Ok, und jetzt versuchen Sie sich zu entspannen. Ihre Sinne drehen Sie leicht runter." Blair sprach in sanfter Stimme, wie er das immer bei Jim tat.
"Runterdrehen?" Irene hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte, sie war keine Maschine, die man einfach aus und anschalten konnte.
"Ja, stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihre Sinne langsam mit Hilfe einer Art Bedienung runterdrehen."
Energisch schüttelte Irene den Kopf. "Das klappt nicht!" Sie krümmte sich und setzte sich hin. Nach ein paar Sekunden schien es wieder besser zu gehen und sie stand vorsichtig auf.
"Ich verstehe das nicht. Sie dürfen nicht dagegen ankämpfen..." Er hielt abrupt inne. "Was haben Sie da?" Er deutete auf eine kleine seitliche Wunde am Hals des Mädchens. Er konnte es nur schwach aufgrund des Mondlichtes erkennen.
"Was denn?" Sie rieb sich an der angegebenen Stelle. Direkt spürte sie, was Blair meinte.
"Fühlt sich an wie eine Art Einstichloch einer Spritze oder so etwas in der Art." Verwirrt blickte sie zu dem jungen Anthropologen hinauf. "Was soll das bedeuten?"
"Sie wissen also nicht, was das ist? Vielleicht noch aus dem Krankenhaus?"
"Nein, nicht an dieser Stelle." Unbewusst rieb sie sich wieder. "Vielleicht... vielleicht war es dieser Mann."
"Wenn das der Fall ist, hat er Ihnen irgendetwas eingespritzt." Direkt untersuchte sich Blair ebenfalls, aber er konnte nichts finden.
"Lassen Sie mich mal." Irene tastete seine Halsgegend ab, aber fand nichts.
Wie ein Blitz fuhr es durch Blairs Gedanken. "Deswegen haben Sie diese Schwierigkeiten mit ihren Sinnen, Sie kommen mit den Chemikalien, die man Ihnen verabreicht hat, nicht zurecht."
Irene nickte. Sie wusste zwar nicht so genau, wovon er sprach, aber sie würde alles dafür tun, hier so schnell wie möglich wieder rauszukommen. Es würde nicht lange dauern, bis der Mörder wieder aufwachte... Sie fragte sich, was es gewesen war, was man ihr verabreicht hatte? Gift? Was auch immer es war, es vernebelte nicht nur ihre Sicht, sondern auch ihre Gedanken. Sie konnte kaum noch klar denken. "Glauben Sie, er wollte mich vergiften?", flüsterte sie so leise, dass er es kaum hören konnte.
"Wollen Sie wirklich wissen, was ich glaube? Ich denke, er hat Ihnen eine Art Rauschmittel eingespritzt, damit Sie... willenloser sind." Er sprach die letzten Worte nur noch sehr leise aus. Allein die Vorstellung davon versetzte ihm einen Schauer über dem Rücken. "Zumindest passt das zu Ihren Beschwerden."
Er machte eine kurze Pause und überlegte. Hier konnten sie nicht bleiben, der Vergewaltiger würde sie schon bald einholen. Sie mussten weiter versuchen die Hütte zu erreichen, aber ohne Irenes geschärftem Augensinn dürfte es mehr ein ‚Herumirren’ werden. Und er wusste nicht, wie lange das Mädchen noch Herr ihrer anderen Sinne sein würde. Solange sie wenigstens ihren Hörsinn hatte, konnte sie den Mörder schon von weitem hören. Aber er hatte keine Ahnung, wie sich die Droge, oder was es auch immer war, noch weiter auswirken würde.
"Wir müssen weiter", flüsterte Irene.
"Sind Sie sicher, dass Sie so weiter können?"
"Habe ich denn eine Wahl?" Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Man erkannte, dass er ebenfalls mit großen Schmerzen zu kämpfen haben musste. "Solange Sie mich führen dürfte es klappen."
Blair nickte. Er wusste selbst, dass sie nicht hier bleiben konnten, sie wären eine zu leichte Beute für den Täter. "Ok, ich übernehme die Führung." Er legte behutsam seinen Arm auf Irenes Rücken und führte sie vorsichtig durch die Dunkelheit.
Mit quietschenden Reifen bog Jim in den Waldweg ab. Mit Hilfe der Informationen der Austin-Akte hatten er eine kleine Hütte ausfindig gemacht, in der der Mörder laut den damaligen Ermittlungen schon früher seine Vergewaltigungen durchgeführt haben sollte.
Sein Handy klingelte, das auf dem Beifahrersitz lag. "Ellison", antwortete er knapp und wartete darauf, dass sich jemand auf der anderen Seite meldete.
"Hier Joel", kam es von aus der Leitung. "Wir haben etwas Neues von Austin: Er hat hier in Cascade ein weiteres kleines Zimmer unter falschem Namen gemietet. Wir sind gerade bei der Durchsuchung und hier wimmelt es nur so von Beweisen. Im Kühlschrank befindet sich irgendeine selbstzusammengebraute Flüssigkeit, wahrscheinlich das Betäubungsmittel; das muss erst das Labor für uns feststellen. Aber das Beunruhigendste sind diese... diese ganzen Bilder mit den Daten und..." Seine Stimme driftete ab und Jim hörte durch die Leitung, wie er etwas durchwühlte.
"Was, Joel? Was für Bilder und Daten?"
"Bilder der Mädchen, die er ermordet hat und darunter die Todesdaten... Oh mein Gott!"
Dem Sentinel lief ein Schauer über den Rücken, er ahnte, was Joel gefunden hatte. Langsam brachte er den Wagen zum Halten, der Waldweg war nicht weiter befahrbar.
"Jim? Hier sind auch Bilder von Jeanny und Irene Peterson zu sehen", meldete sich Taggert wieder nach einer kurzen Pause. Am Klang seiner Stimme war zu erkennen, dass es sich mehr als nur um die Fotos handelte.
Jim schloss vorahnend die Augen. "Und welches Datum steht unter diesen Fotos?"
Er hörte, wie Joel am anderem Ende leise seufzte. "Unter dem von Jeanny steht das gestrige und bei Irene... da steht das heutige." Die letzten Worte flüsterte er nur noch. "Tut mir leid, Jim", drückte er bedauernd sein Mitleid aus.
Der Sentinel schüttelte den Kopf. Irene war noch nicht tot, das durfte nicht sein! Er lugte kurz auf seine Armbanduhr - der Tag war erst knapp drei Stunden alt. Austin musste das Datum schon im Voraus eingetragen haben - oder? Und was war mit Blair?
"Jim, sind Sie noch dran?"
"Hm, ja."
"Hier ist noch mehr, nicht nur Fotos..." Joel holte tief Luft. "Hier ist so etwas wie eine Art Tagebuch." Jim konnte hören, wie Taggert darin blätterte. "Es bezieht sich wohl unter anderem auf die versetzten Spritzen. Jeanny hat er laut diesen Eintragungen Freitag Mittag im Krankenhaus erwischt und Irene..." Er stockte. "Irene gestern Abend, nachdem er sie mit Sandburg entführt hat. Hier steht aber nicht Sandburgs Name, sondern er ist hier als ihr Freund ausgewiesen."
Jim versuchte langsam seine Gedanken zu sammeln. Wenn Irene tatsächlich einen Schuss dieser Droge, oder was das auch immer war, erhalten hatte, würde sie wahrscheinlich bereits Probleme haben und Blair war als Freund des Mädchens ein gefundenes Fressen des Psychopathen.
"Ok Joel, ich bin jetzt nur noch etwa hundert Meter von der Hütte entfernt. Wenn ich mich in einer halben Stunde noch nicht wieder gemeldet habe, schicken Sie Verstärkung hier her."
"Megan hat schon gefragt, wo Sie seien. Ich befürchte, die wird nicht so lange warten können, wenn sie erst mal raus hat, wo Sie sind..."
"Schon gut, Hauptsache ich habe ein wenig Zeit, die Sache hier auf meine Weise durchzuziehen. Wir hören wieder voneinander."
Jim legte auf und stieg aus dem Wagen. Er schnappt sich seine Dienstwaffe. Wenige Meter weiter erblickte er einen silbernen Geländewagen. Vorsichtig pirschte er sich heran, aber es war niemand in Sicht und auch niemand zu hören.
Der Sentinel lugte in das Innere des Jeeps. Er brauchte keine Beweise dafür zu finden, dass dies das Auto Austins war, es kam niemand anderes als Besitzer in Frage...
"Ich befürchte, wir sind in die falsche Richtung gelaufen", flüsterte Irene erschöpft. Sie waren schon viel zu lange unterwegs.
"Und ich befürchte, Sie haben sogar Recht." Blair blickte sich erneut um. Sie wurden immer langsamer und er wusste, dass das Mädchen erschöpft war, er selbst hätte auch gerne eine Pause gemacht, aber mit dem Mörder an ihren Fersen konnten sie sich keinen zusätzlichen Zeiteinbußen erlauben.
Irene blieb stehen. "Blair, ich weiß, dass wir keine Zeit dafür haben, aber ich brauche wirklich mal eine kurze Rast, nur kurz." Sie blickte den jungen Mann flehend an.
Blair senkte seinen Blick. Sein Kopf würde ihn noch umbringen, wenn das nicht der Mörder schaffen würde...
"Ok, aber wirklich nur kurz. Wir können beide eine kleine Pause vertragen."
Das Mädchen nickte und sie setzten sich auf den kalten Boden.
"Oh nein", murmelte sie nach ein paar Sekunden.
Blair schreckte auf. "Was?"
"Es fängt an zu regnen." Kaum hatte sie es ausgesprochen bekam auch der junge Anthropologe einen dicken Tropfen ab. Das hatte ihnen jetzt noch gefehlt. Sie froren so schon beide und waren geschwächt.
Er schielte zum Mädchen hinüber. Sie konnte sehr gut ihre Gedanken und Gefühle für sich behalten, aber Blair war klar, dass sie noch von den Annäherungsversuchen des Vergewaltigers geschockt sein musste. Er überlegte, ob er Jim von allem erzählen sollte, denn er ging nicht davon aus, dass Irene das selbst übernehmen würde. Aber spätestens der Polizeibericht würde alles zu Tage bringen. Er hoffte nur, dass sie beide nicht auch noch vor Gericht aussagen mussten.
"Blair?" Er wurde aus seinen Gedanken gerissen und bemerkte, dass zwischenzeitlich Irene wieder stand. Ihre Stimme klang beunruhigend ängstlich.
"Was denn?" Er richtete sich ebenfalls auf und versuchte den Blick des Mädchens zu verfolgen, sie blickte in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.
"Ich habe gerade etwas gehört", flüsterte sie und trat einige Schritte zurück. "Er ist hier irgendwo." Sie blickte panisch in alle Richtungen.
"Hey, ganz ruhig, Irene. Aus welcher Richtung kamen die Geräusche?" Der junge Guide hielt sie am Arm und versuchte sie zu beruhigen, so gut es ging.
"Ich... Ich weiß nicht!"
"Versuchen Sie sich zu konzentrieren." Blair versuchte ruhig zu bleiben, aber auch er konnte nicht anders und bekam es langsam mit der Angst zu tun. Die Vorstellung, dass dieser Kerl schon wieder hier wäre... Er schüttelte den Kopf.
"Ok, wir gehen hier entlang." Er sah, dass Irene die Orientierung verloren hatte, genaugenommen hatte sie ihre Sinne nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Panik verstärkte diesen Zustand. Er zog sie mit sich und lief in die gleiche Richtung, die sie zuvor schon gelaufen waren.
Ständig blickte er wieder hinter sich, dann schaute er Irene an: Sie war körperlich und psychisch ein Wrack. Vielleicht hatte sie sich die Geräsche auch nur eingebildet...
Megan stellte den Polizeiwagen direkt neben Jims blauen Ford ab. Sie holte ihre Pistole hervor und eine kleine Karte, die sie sich von diesem Gelände besorgt hatte. Aufmerksam studierte sie den Weg, den sie zur Hütte nehmen musste und schlug einen kleinen Pfad ein, von dem sie glaubte, es sei der Richtige.
Im Augenwinkel erblickte sie plötzlich einen silbernen Jeep und lief mit angehaltener Waffe darauf zu. Nachdem sie abgesichert hatte, dass niemand in der Nähe war, schaute sie hinein. Der Wagen war nicht abgeschlossen und sie öffnete die Tür. Auf dem Beifahrersitz lag eine leere Packung. Darin befand sich zuvor der Lippenstift, den alle vorigen Opfer immer trugen. Mittlerweile wussten sie aus der alten Akte, dass der Täter nicht zufällig diese Marke bevorzugte: Seine damalige Geliebte kaufte früher das exquisite Make-up. Nach dem psychiatrischem Gutachten damals, sollte Austin seine große Liebe Claudia umgebracht haben, als diese nicht mehr so wollte, wie er es gerne gehabt hätte. Seit dem war er scheinbar darauf aus, alle junge Frauen, die etwa das Alter seiner Claudia hatten und ebenfalls diesen Lippenstift kauften, zu vergewaltigen und zu ermorden.
Megan überlegte kurz. Die Spurensicherung würde diesen Beweis schon sicherstellen, das war jetzt nicht ihre Aufgabe. Sie blickte auf die Rückbank und entdeckte einen kleinen ringähnlichen Gegenstand. Sie nahm sich eine Plastiktüte aus ihrer Jackentasche und hob ihn damit vorsichtig hoch um ihn mit ihrer Taschenlampe anzuleuchten. Es war tatsächlich eine Art Ring, aber der vermeintliche Edelstein entpuppte sich als einen kleinen Behälter, in dem der Rest einer Flüssigkeit war. Der winzige Behälter lief nach vorne Spitz zu und es war offensichtlich, wofür dieser 'Ring' gedacht war: Austin spritzte so seinen Opfern das Betäubungs- oder Rauschmittel ein, ohne dass sie es bemerkten.
Sie blickte sich kurz um. So, wie sie Jim kannte, war er wieder im Alleingang zu der Hütte unterwegs. Er war ihr in diesem Bezug sehr ähnlich. Sicher hatte er schon Verstärkung angefordert, aber diese würde erst Minuten später hier eintreffen, dann aber wenigstens die Beweise sicherstellen.
Sie schloss die Tür zum Jeep und lief wieder den Pfad entlang, den sie zuvor schon eingeschlagen hatte.
Martin Austin lugte vorsichtig von hinterm Busch hervor. Seine Augen erfassten das junge Paar, dass sich keuchend gegen einen Baum lehnte. Er hörte, wie der junge Mann - Blair, wie er bereits herausgefunden hatte - dem Mädchen gut zuredete. Er starrte sie mit seinen stahlblauen Augen an. Peterson - die Tochter des Mannes, der ihn von seinen Mädchen abhielt. Irene war auch so ein Mädchen.
Nein, eigentlich war sie nicht so wie die anderen, er hatte sie willkürlich ausgesucht, sie aus ihrer Wohnung herausgeholt - sie und ihren kleinen langhaarigen Flower-Power-Freak. Wenn er mit Irene fertig wäre, würde er sich auch mit ihm abgeben müssen, aber das lag noch in weiter Ferne, erst musste er abwarten.
Ungeduldig blickte er auf seine goldene Armbanduhr. Er hatte viele davon - goldene, silberne, bunte - alle von seinen Mädchen, als Trophäen gesammelt, es waren Erinnerungsstücke.
Martin lächelte breit. Die Bullen würden ihn nicht noch einmal erwischen, diesmal nicht. Er wusste, was ihm zustand und die Mädchen würden es ihm geben. Diese Irene war besonders widerspenstig, das Gift hätte schon längst wirken sollen, aber noch immer leistete sie Widerstand.
Er strich sich einige blonde Haare aus seinem Gesicht. Er konnte warten, so wie auch ein Geier auf seine Beute wartete - er kreiste über ihr und stürzte sich beim ersten Anzeichen von Schwäche auf sie.
Martin liebte seine Mädchen und sie liebten ihn, davon war er überzeugt. Zusammen gehörte ihnen die Ewigkeit. Claudia war für immer bei ihm, so wie die sieben anderen Frauen, die er liebte und zu Tode verehrte. Für ihn waren sie keine Opfer, wie die Polizei und die Presse es falsch darstellten - alles Lügen. Er sorgte nur dafür, dass sie für immer zusammen sein konnten. Aber keiner hatte diesen Sinn dafür, wie er ihn hatte.
Austin schaute auf, die beiden setzten sich wieder in Bewegung, nachdem dieser Blair ihr ein paar nette Worte zugeflüstert hatte. Er hatte nichts davon verstanden, aber das war nicht wichtig, nicht notwendig. Wer auch immer dieser Mann an der Seite seiner Irene war, er würde eine Sonderbehandlung erhalten. Noch keines seiner Mädchen hatte es jemals gewagt, einen Mann neben ihm zu haben und er duldete keine Konkurrenz.
Leise schlich er dem vermeintlichen Pärchen nach und freute sich bereits auf den Moment der Abrechnung...
Mit vorgehaltener Waffe trat Jim die Tür zur kleinen verkommenen Holzhütte auf, aber er musste feststellen, dass das Gebäude verlassen war. Es war weder eine Spur von Blair und Irene, noch von Austin zu sehen. Resigniert versuchte er mit Hilfe seines geschärften Augensinns ein paar Hinweise zu finden, die bestätigten, dass sie überhaupt hier gewesen waren.
Er entdeckte an der Tür Risse, die darauf hindeuteten, dass jemand von Innen dagegen kräftig geschlagen oder vielleicht getreten haben musste. Die Hütte war ansonsten leer. Es führten mehrere Spuren aus dem Haus in den Wald. Diese hatten sich mittlerweile in kleine Pfützen verwandelt, die sich weiter mit dem anhaltenden Regen füllten. Den Größen und Formen zufolge könnte es sich um Blairs und Irenes Schuhabdrücke handeln. Die dritten Abdrücke waren wahrscheinlich von dem Mörder.
Jim versuchte im Kopf den Hergang des Geschehens zu konstruieren: Vermutlich hielt Austin die beiden hier gefangen, sie konnten entfliehen und Austin folgte ihnen.
Er erkannte, dass die Spuren bereits über eine Stunde alt waren und es konnte in der Zwischenzeit alles mögliche im Wald passiert sein.
Der Sentinel versuchte mit Hilfe seines Gehörs den ihm vertrauten Herzschlag ausfindig zu machen, aber konnte ihn nicht erfassen. Es bereitete ihm Kopfschmerzen, wenn er an Blairs nicht besonders guten Orientierungssinn dachte. Die Dunkelheit stellte ein weiteres Hindernis dar. Irene müsste das zwar nichts ausmachen, aber sie dürfte mit dem Rauschmittel, oder was das auch immer war, genug zu tun haben. Gut möglich, dass sie diese Droge vollständig außer Gefecht setzen würde.
Jim scannte noch einmal abschließend die Gegend ab und folgte dann den Spuren im nassweichen Waldboden.
"Blair?" Irenes gedämpfte Stimme durchfuhr die Nacht.
"Ja?" Blair hielt kurz inne, er lief kurz vor ihr, noch immer ohne den geringsten Schimmer, wohin er sie überhaupt führte.
"Wir haben doch sowieso keine Chance, wieso warten wir nicht einfach auf diesen Kerl, anstatt nur noch mehr durch die Gegend zu irren." Sie musste ständig an ihre Cousine denken: Wie erging es Jeanny zur Zeit? Lebte sie überhaupt noch? Allein der Gedanke daran, löste in ihr ein Gefühl der Resignation aus, einer unendlichen Hilflosigkeit, der sie völlig ausgeliefert war.
Der junge Guide blickte dem Mädchen direkt in die Augen, diese schaute aber weg, versuchte seinen Blicken auszuweichen. "Irene, Sie werden jetzt doch wohl nicht aufgeben?" Er hob ihr Kinn leicht an. "Schauen Sie mich an." Irene reagierte nicht. "Schauen Sie mich an."
Langsam schweifte der Blick des Mädchens auf den jungen Mann vor ihr. Blair erkannte Furcht, Resignation und Bedauern in ihren Augen.
"Irene, ich verspreche Ihnen, dass wir hier wieder rauskommen. Dieser Mistkerl wird Ihnen nicht noch einmal zu nahe kommen und Ihre Sinne werden auch wieder normal. Hören Sie? Das ist ein Versprechen." Die junge Frau nickte kurz und senkte wieder ihren Blick. Blair nahm sie vorsichtig in den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Kurz darauf hörte er, wie Irene leise schluchzte.
Er versuchte dem Mädchen so gut es ging Mut zuzureden, dass sie standhaft bleiben und weiterlaufen sollten, aber er selbst fragte sich immer wieder, ob es nicht auch aussichtslos war. Die Hütte hätten sie schon seit langem erreichen müssen und das Waldgebiet war hier unendlich groß. Vielleicht liefen sie auch schon die ganze Zeit hier im Kreis herum. Er fragte sich außerdem, ob dieser Kerl wirklich noch hinter ihnen her war...
Nur wenige Meter weiter im Gestrüpp positionierte sich Austin und wägte ab, ob er nun eingreifen oder weiter warten sollte. Was auch immer falsch gelaufen war, das Gift schien bei dem Mädchen nicht so zu wirken, wie er es sich erhofft hatte. Sie war zwar schwach, aber es reichte nicht aus - sie leistete noch immer regen Widerstand. Vorsichtig pirschte er sich heran und beschloss: Jetzt oder nie!
Megan erreichte die kleine Holzhütte und hörte von weitem Sirenengeheul - die Verstärkung erreichte gerade den Waldvorsprung. Sie würden erst noch die Beweise aus dem Wagen sicherstellen und dann schließlich ebenfalls hier erscheinen.
Sie brauchte nicht lange um zu erkennen, dass niemand im Gebäude war. Auch sie sah die Spuren im Wald. Megan hielt einen Moment inne und überlegte: Jim würde diesen Spuren gefolgt sein. Sollte sie das auch tun oder sollte sie lieber einen anderen Weg einschlagen?
Sie kramte ihre Karte hervor und betrachtete die markierten Stellen. Eine davon war diese Hütte, eine weitere eine Lichtung, bei der Austin Claudia umgebracht haben sollte. Sie war nur etwa vier Meilen von hier entfernt.
Kurzentschlossen lief sie querfeldein in die Richtung, in der sich diese Lichtung befinden sollte.
Zur selben Zeit joggte Jim den Spuren nach, die er weiter verfolgte. Zwischendurch stockte er immer wieder um die vom Regen verwischten Abdrücke neu zu orten. Schließlich gelangte er an eine Stelle, wo sich viele Abdrücke befanden. Es sah so aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Er fand die zerscheuerten Handfesseln von Blair und Irene, fühlte nach - aber sie waren bereits kalt. Hier musste der Mörder sie eingeholt haben. Ein Schauer überkam ihn, als er versuchte, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt haben musste. Er dachte an den leeren Karton des Lippenstifts, den er im Wagen gefunden hatte und an diesen Ring, mit dem Austin zumindest Irene etwas gespritzt haben musste. Auch Blair?
Er scannte die Gegend ab und erkannte einige Meter weiter mehr Spuren, die scheinbar von Blair und Irene stammten. Er folgte diesen wieder im Laufschritt.
"Blair?" Irenes Stimme klang schwach, zittrig.
"Ja?" Der junge Mann löste sich etwas aus der Umarmung und blickte leicht zu ihr hinunter, sie war kaum kleiner als er. Der Regen prasselte noch immer ungeschützt auf die beiden herab. "Ich bin müde."
"Ich weiß", erwiderte Blair. "Aber Sie müssen durchhalten."
"Nein, Sie verstehen nicht, ich..." Sie sackte leicht zusammen, als sie spürte, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen.
"Irene!" Blair stützte sie.
"Tut mir leid", flüsterte sie nur noch und wurde bewusstlos.
"Verdammt." Er setzte das Mädchen auf den Boden und versuchte sie zu wecken, aber es half nichts.
"Endlich ist sie mein."
Blair drehte sich abrupt um. Vor ihm stand der Mann, der ihn zuvor schon zwei Mal niedergeschlagen hatte. Er stand auf und schrie ihm wütend ins Gesicht: "Was haben Sie mit ihr gemacht?"
Der größere Mann lachte laut und gehässig. "Sie haben verloren! Das ist jetzt mein Mädchen! Wir sind für immer zusammen - für immer!"
Blair überkam eine böse Vorahnung. Er fühlte nach Irenes Puls, er war nur noch schwach. "Das Gift, das Sie ihr gegeben hatten, war das tödlich?" Blair schritt näher an den Mörder heran, er kochte vor Wut. Er blickte dem Mörder in die Augen und erkannte im gleichen Augenblick, dass er richtig lag.
"Sie sind ganz schön vorlaut, Kleiner. Aber ihrem losem Mundwerk werde ich mich auch noch widmen."
Austin packte nach Blairs Hals und hob ihn daran einige Zentimeter hoch. Der junge Anthropologe hatte mit solch einer plötzlichen Handlung nicht gerechnet und schnappte nach Luft. Er versuchte sich von dem Griff zu lösen, aber der ausbleibende Sauerstoff schwächte ihn noch mehr, als er es sowieso schon war.
"Lassen Sie mich los!", krächzte er und spürte, wie sich seine Lungen zusammenzogen.
"Wie Sie meinen", erwiderte Austin und warf ihn auf den feuchten Boden.
Blair schlug hart auf. Er schnappte nach Luft und hielt sich seinen schmerzenden Hals. Kurze Zeit später wurde alles Schwarz um ihn...
Jim erspähte von weitem einen regungslosen Körper. Hastig lief er darauf zu. Er kniete sich neben seinen jungen Guide, kontrollierte direkt seinen Puls und fühlte sich bestätigt: Er lebte. Der Sentinel untersuchte ihn kurz nach Verletzungen. Er hatte eine Kopfwunde und sein Hals wies Quetschungen auf. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken und schlug ihm sanft auf die Wange. "Häuptling? Hey, wachen Sie auf!"
Ein leises Murren war die Antwort.
"Häuptling, nun machen Sie schon die Augen auf."
Wenige Sekunden später verwandelte sich das Murren in ein Stöhnen und Blair hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Er blinzelte ein wenig und öffnete langsam die Augen. Es begann bereits zu dämmern. Wie lange lag er schon hier?
Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber er bekam nicht mehr als ein Krächzen heraus, welches schon zu höllischen Halsschmerzen führte.
"Pscht. Sie dürfen nicht reden. War das der Vergewaltiger?"
Blair nickte.
"Wo ist Irene?"
Blair durchfuhr es wie ein Blitz - Irene! Sein Kopf schnellte zur Seite, zu der Stelle, wo er Irene abgesetzt hatte, als sie ohnmächtig wurde. Im gleichen Moment bereute er auch schon diese zu schnelle Bewegung und stöhnte vor Schmerzen.
Jim verfolgte seinen Blick. "War sie zuletzt hier?" Er zeigte auf die entsprechende Stelle.
Blair nickte leicht und versuchte sich aufzurichten. "Gift", krächzte er leise.
"Sie meinen das Betäubungsmittel, dass dieser Kerl benutzt?"
Der junge Guide schüttelte den Kopf, soweit er das ohne weitere Schmerzen machen konnte. "Tödlich", flüsterte er bedrückt und stellte sich wankend hin.
Der Sentinel stützte ihn. "Tödlich?", fragte er ungläubig. Das konnte nicht sein, die anderen Mädchen hatte er auch zuvor nicht vergiftet, sondern sie gewalttätig umgebracht.
Erneut nickte Blair und sah zu seinem Freund auf - in seine hellblaue Augen. Er konnte sich vorstellen, was jetzt in seinem Kopf vor sich ging.
Jim schüttelte den Kopf, er konnte es nicht glauben, Irene lebte - sie musste einfach!
Martin legte den leblosen Körper auf den feuchten Boden. Er betrachtete Irene genau - sein Mädchen, seine Prinzessin. Sie gehörte jetzt ihm und keiner konnte sie ihm wieder nehmen! Er kniete neben der jungen Frau und berührte sie sanft an der Wange. Ihr Gesicht war fahl, ihre Haut kalt und nass. Er genoss ihre Nähe und lächelte: Sie war stark gewesen, wie auch Claudia damals stark gewesen war, aber auch diesmal hatte er wieder gesiegt.
Austin strich ihr durch das nasse Haar und dachte daran, wie Claudia damals an dieser Stelle lag: Ihr rotes Haar - zersaust. Irenes Haare waren brünett, aber nicht minder schön. Er beugte sich langsam zu ihr hinunter und küsste sie auf die kühlen Lippen. Ein Gefühl der Befriedigung stieg in ihm hoch.
Megan steckte ihr Handy wieder weg. Die Nachricht, die ihr Joel gerade gegeben hatte, war alles andere als nur beunruhigend: Die Spurensicherung hatte die Restflüssigkeit aus dem 'Ring' von Austins Wagen untersucht. Es handelte sich definitiv nicht um die gleiche Flüssigkeit wie die, die zuvor immer benutzt wurde. Es gab zwar, soweit man das bisher ohne genauere Untersuchungen beurteilen konnte, einige übereinstimmende Substanzen, aber das einzige was man bisher mit Sicherheit sagen konnte, war, dass die zweite Mischung aus dem Auto tödlich war.
Sie kämpfte sich weiter durch das Dickicht und war froh, dass es bereits anfing zu dämmern, denn viel länger würde die Batterie ihrer Taschenlampe das nicht mehr mitmachen. Erneut wühlte sie die bereits aufgeweichte Karte heraus. Glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen.
Wieder suchte sie die Lichtung auf der Mappe und versuchte von neuem zu überlegen, wo sie entlang müsste. Gut möglich, dass sie bereits mehrmals im Kreis oder bereits daran vorbei gelaufen war.
Megan dachte über Irene nach: Wenn sie wirklich schon von diesem Gift gespritzt bekommen hatte, müsste sie bereits tot sein, Joel sagte etwas von zwei bis drei Stunden.
Sie dachte an Jim - Taggert meinte, er ginge nicht ans Telefon. Wie würde er reagieren, wenn sich herausstellte, dass Irene tot wäre?
Zügig und mit großen Schritten lief Jim weiter - querfeldein, immer der Nase nach. Blair versuchte ihm zu folgen, hatte aber alle Mühe damit.
"Jim! Hey, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal! Nicht so schnell!", krächzte Blair seinem Freund hinterher.
"Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten nicht mitkommen, aber Sie bestanden darauf. Jetzt beschweren Sie sich nicht!", erwiderte Jim schnippisch.
"Jim, Sie wissen ja noch nicht einmal, wo Sie hinlaufen. Wenn Sie wild drauflos rennen, wird Irene dadurch auch nicht wieder..." Blair beendete seinen Satz nicht, er wollte es nicht aussprechen. Er war sich der innigen Beziehung zwischen dem Mädchen und dem Sentinel bewusst.
"Sagen Sie es ruhig", murrte Jim zähneknirschend.
"Jim..." Blair rückte auf und positionierte sich direkt vor seinem Partner, so dass dieser anhalten musste. "Jim", begann er mit tieferer und sanfter Stimme. "Sie dürfen jetzt nicht ausrasten, wir wissen nicht wirklich, ob sie tot ist. Ich habe zuletzt noch ihren Puls gefühlt, sie lebte noch!" Die letzten Worte flüsterte er nur noch, sein Hals schmerzte höllisch und seine starken Kopfschmerzen bestraften jede ruckartige Bewegung mit einem stechendem Schmerz.
Lebte!" Betonte der Sentinel. "Sie lebte! Sandburg, der Mistkerl hat sie umgebracht und er wird dafür bezahlen müssen." Mit diesen Worten stieß er den jungen Guide beiseite und lief weiter. Im Augenwinkel sah er noch, wie Blair schwankte und nach hinten fiel. Im Reflex drehte sich Jim ruckartig um, aber es war zu spät, der Junge lag bereits erneut auf dem Boden. Direkt kniete sich der Sentinel neben ihn.
"Alles Ok, Sandburg? Verdammt, das wollte ich nicht!" Er konnte es nicht fassen, dass er in seiner Wut dem Jungen tatsächlich etwas angetan hatte.
"Hm, ja, alles in Ordnung", murrte Blair leise.
"Sicher?" Jim begann ihn am Kopf zu untersuchen um zu sehen, ob die alte Wunde wieder aufgeplatzt war.
"Ja, sicher."
"Es tut mir leid, Sandburg, das wollte ich nicht!"
"Schon gut!" Blair hob beschwichtigend seine Arme. "Ist ja nichts passiert. Vielleicht wissen Sie jetzt, warum ich Ihnen ständig versuche klarzumachen, dass Sie sich beruhigen sollen." Er versuchte leicht zu grinsen und stand mit Jims Unterstützung auf.
Der Sentinel nickte. "Sie sollten wirklich hier bleiben. Ich werde Sie dann wieder einsammeln, wenn ich zurück bin."
"Zurück? Wovon Jim? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wo Sie andauernd hinsteuern?"
"Ich folge einfach meinen Instinkten. War es nicht auch das, was Sie mir ständig versuchen beizubringen?" Jim vergewisserte sich noch einmal, dass es seinem Partner soweit gut ging.
"Äh ja, schon richtig, aber..." Blair überlegte kurz. "Ich komme mit, Sie wissen ja, ich bin Ihr 'Backup'!" Er grinste leicht und blickte seinem besorgten Freund direkt ins Gesicht.
Dieser lächelte zurück und nickte zustimmend. "Ok, aber unter einer Bedingung: Wenn wir auf Austin stoßen, halten Sie sich zurück, verstanden?"
"Mit Vergnügen", krächzte Blair.
Jim gab dem Jungen einen Klaps und sie setzten ihren Fußmarsch fort.
Martin wühlte aus einem Haufen Laub einen Spaten heraus. Hätte er gewusst, dass der Boden heute durch den Regen so aufgeweicht sein würde, hätte er lediglich eine Schaufel mitgebracht, aber hiermit würde er auch schon zurecht kommen.
Er begann neben dem imaginären Grab seiner geliebten Claudia zu graben.
Wenige Minuten später hatte er bereits ein Loch ausgehoben, das zwar nur etwa einen halben Meter tief war, aber in der Länge für Irene völlig ausreichte.
Den Spaten stellte er auf Seite und widmete sich wieder seinem Opfer. "Dir wird eine besondere Ehre zuteil. Ich vergrabe noch lange nicht alle meine Mädchen - bisher nur Claudia." Er zeigte auf eine Stelle nahe des frischausgehobenen Loches.
"Du wirst dich prima mit ihr verstehen. Sie ist dir sehr ähnlich." Mit diesen Worten nahm er ihren leblosen Körper und legte ihn in das Grab.
"Cascade Police - Keine Bewegung!" Jims Stimme schallte durch den halben Wald. Er zielte mit seiner Dienstwaffe auf den Vergewaltiger.
"Sie kleines Großmaul schon wieder!", erwiderte Austin, als er Blair schräg hinter Jim stehen sah. Für den Detective war das nur Anlass, sich direkt schützend vor seinem Partner zu barrikadieren. "Halten Sie die Hände hoch und kommen Sie von dem Mädchen weg!"
Martin grinste. "Wir beide sind jetzt für immer zusammen und ihr werdet sie mir nicht mehr wegnehmen können!"
Der Sentinel versuchte von Irene einen Herzschlag ausfindig zu machen - aber es war nichts zu hören. Panik übermannte ihn. Er näherte sich langsam dem Mörder und holte seine Handschellen hervor. Er hörte noch immer kein Lebenszeichen von ihr, sah sie auch nicht atmen.
Austin nutzte diesen Moment und schlug Jim die Pistole aus der Hand. Ehe er es sich versah bekam der Detective noch einen kräftigen Schlag ins Gesicht und stürzte.
Martin beugte sich nach unten zu dem Revolver, den Jim fallengelassen hatte.
Ein Schuss war zu hören.
Austin zuckte zurück und blickte auf: Nur wenige Meter von ihm entfernt stand Megan, die mit einem Schuss kurz vor Martins Hand verhindert hatte, dass dieser noch zwei weitere Opfer auf dem Gewissen hatte. Blair war in der Zwischenzeit herbeigeeilt und versuchte jetzt dem Sentinel aufzuhelfen.
Der Mörder schnappte sich ihn kurzerhand, schwang ihn herum und benutzte ihn als lebendiges Schutzschild. Seinen Arm hielt er fest um Blairs bereits geschundenen Hals. Der Junge stöhnte vor Schmerzen und versuchte sich vergeblich aus dem Griff des kräftigeren Mannes zu lösen.
"Einen Schritt näher und euer Freund ist ebenfalls tot!" Martin entfernte sich langsam von den beiden Detectives. "Die Waffe runter!", schrie er und deutete mit dem Kopf auf Megan. "Und du, Bulle, lauf rückwärts zu deiner Kollegin."
Sie taten beide, was Austin forderte. Der Typ war unberechenbar.
Der Sentinel konnte laut und deutlich den rasenden Herzschlag seines Freundes hören.
"Immer noch keine Spur von den Vermissten?" Simons besorgte Stimme war deutlich aus Browns Handy zu hören.
"Nein Sir, tut mir leid." Henri wünschte sich, er könnte etwas Erfreulicheres berichten, aber nach bereits über zwei Stunden Suche, gab es von Jim, Megan, Blair und den beiden Mädchen keine Spur.
"Versuchen Sie es weiter und halten Sie mich auf dem Laufenden."
Henri nickte, als könnte sein Chef diese Geste sehen. "Ja Sir, darauf können Sie wetten." Er legte auf.
"Hey Rafe!", schrie er zu seinem Kollegen hinüber, "ich glaube, wir sollten..."
Ein Schuss, der aus weiter Entfernung zu hören war, unterbrach ihn. Die beiden blickten sich nur kurz an und rannten sofort in die Richtung, aus der dieser Knall gekommen zu sein schien. Henri wählte direkt die Nummer des Captains an.
"Und was jetzt?" Jim hielt weiter seine Hände hoch. Wenn er dem Mörder klar machen konnte, wie aussichtslos seine Lage war, würde er vielleicht aufgeben und seinen Partner freilassen.
"Jetzt kniet ihr euch beide vor den Baum neben euch."
Jim ahnte, worauf das hinauslief...
"Hören Sie, das bringt doch nichts! Wollen Sie uns alle umlegen? Wissen Sie überhaupt wie viele Jahre Sie für den Mord an einem Polizisten bekommen?" Megan versuchte sich ebenfalls einzuschalten.
Martin lachte kurz auf und hörte wieder abrupt auf. Seine Mine wurde ernst und er verstärkte seinen Griff um Blairs Hals. Dieser schrie kurz vor Schmerzen auf und schnappte abermals nach Luft.
"Ok, Ok!", rief Jim beschwichtigend. Er wusste, dass Blair es so nicht mehr lange aushalten würde. Von weitem hörte er Verstärkung kommen, aber wenn der Mörder nicht bald seinen Griff löste, würden Sie für Blair zu spät kommen. Er kniete sich vor den Baum.
"Was machen Sie da?", zischte Megan.
"Der bringt Blair sonst um!", flüsterte er Connor zu. Sie überlegte kurz und blickte auf ihren jungen Kollegen. Widerwillig ließ sie sich auf die Knie fallen.
"Na also, es geht doch!" Austin grinste triumphierend. "Und jetzt umarmt ihr jeweils den Baum und fesselt eure Hände mit den Handschellen."
"Jim, nicht!", krächzte Blair. Daraufhin verstärkte Martin seinen Griff weiter.
"Wie soll das gehen, wir haben nur ein Paar Handschellen!"
"Dann nehmen wir doch einfach noch deine mit dazu, meine Dame. Du bist doch auch Polizistin. Na los!"
Blair bekam keine Luft mehr, es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis er bewusstlos werden würde.
"Tun Sie's", zischte Jim und warf Megan einen bösen Blick zu. Zögernd nahm sie ihre Handschellen heraus und fesselte sich selbst. Der Sentinel tat ihr gleich. Er drehte seinen Kopf vom Vergewaltiger ab und flüsterte ihr zu, dass Verstärkung unterwegs wäre. Daraufhin wandte er sich wieder Austin zu: "Jetzt lassen Sie ihn los!"
"Wir müssten gleich da sein", sagte Rafe keuchend zu seinem Kollegen, der einige Meter hinter ihm her lief.
"Jep", erwiderte Brown nur und versuchte den Anschluss zu seinem sportlicheren Kollegen nicht zu verlieren. "Sind Sie sicher, dass wir hier entlang müssen?"
Die Richtung des Schusses konnten Sie nur in etwa ausmachen. Um eine genauere Stelle anzupeilen müssten sie noch weitere Schüsse oder ähnliches hören.
"Nein, aber wer auch immer gefeuert hat - das bedeutet, dass zumindest einer unserer Leute in der Klemme sitzt und ich warte nicht auf weitere Schüsse!"
"Schon klar", meinte Brown von hinten. Beide hofften sie, dass sie nicht zu spät kommen würden, was für ein Szenario sie auch immer auffinden würden...
"Jetzt lassen Sie ihn schon los! Wir haben getan, was Sie wollten!" Jim wurde wütend. Er konnte den jetzt immer schwächer werdenden Herzschlag seines Freundes hören.
Plötzlich hörte er etwas, was ihn für einen winzigen Augenblick von Blairs Puls ablenkte. Es war ihm vertraut, etwas, was er glaubte bereits verloren zu haben...
Im gleichen Moment hörte Jim einen dumpfen Schlag und einen Schrei. Er sah seinen Guide zusammensacken. Er blieb auf dem Boden liegen und schnappte nach Luft.
Währenddessen drehte sich Austin verwundert um und war starr vor Schrecken. Jim erkannte, weshalb: Vor ihm stand Irene, die ihm vor wenigen Sekunden mit dem nahestehenden Spaten einen kräftigen Hieb versetzt hatte.
"Du bist doch...", aber er kam nicht dazu, den Satz auszusprechen. Das Mädchen holte erneut aus und schlug dem Mann mit dem Werkzeug kräftig in die Seite. Bewusstlos fiel der Mörder zu Boden, direkt neben Blair, der mit aufgerissenen Augen die Szene beobachtet hatte.
"Irene", flüsterte Jim. Aber wie konnte das sein? Er hatte keinen Herzschlag mehr gehört, sie hatte auch nicht mehr geatmet...
Doch anstatt, dass das Mädchen zu ihnen hinüberlief oder Blair aufhalf, ließ sie den Spaten fallen und blickte verwirrt ins Leere. Es war ihr anzusehen, dass sie unter Schock stand.
"Irene", rief Jim ihr zu.
Aber sie reagierte nicht und stolperte langsam nach hinten. Dann begann sie abrupt zu rennen, als wäre sie noch auf der Flucht und wollte jemandem davonlaufen.
Rafe und Brown erreichten eine größere Lichtung, nachdem sie Jims kräftiger Stimme gefolgt waren. Sie fanden Jim und Megan an einem Baum mit ihren eigenen Handschellen gefesselt. Blair lag hustend und noch immer nach Luft schnappend auf dem Boden. Während Rafe sich um den Jungen kümmerte, befreite Henri die beiden Detectives. Austin lag bewusstlos auf dem Boden. Sie benutzten eine der Handschellen um ihm die Hände zu fesseln.
Jim lief direkt zu seinem Guide. Er hatte zwar vermutlich eine schwere Quetschung seines Kehlkopfes, aber würde wieder in Ordnung kommen. Ein Hubschrauber des Rettungsdienstes war schon unterwegs.
"Gehen Sie schon", krächzte Blair so leise, dass selbst der Sentinel Schwierigkeiten hatte es zu verstehen. Jim wusste, worauf der Junge hinaus wollte, aber er zögerte.
"Wir werden uns um ihn kümmern", verflüchtigte Megan Jims Bedenken und nickte ihm aufmunternd zu.
"Ok", erwiderte der Sentinel, "aber, dass Sie mir schön brav sind im Hubschrauber." Jim stand auf und peilte die Richtung an, die Irene genommen hatte.
"Hubschrauber?", krächzte Blair. "Nein, bitte nicht schon wieder! Jim, Jim!"
Aber er strapazierte seine Stimme umsonst, sein Partner hatte sich bereits an Irenes Fersen geheftet.
Verwirrt und scheinbar ziellos irrte sie durch den Wald. Ziellos? Nein, eigentlich nicht wirklich. Sie wusste nicht wohin ihre Beine sie tragen würden, sie folgte einfach ihrem Instinkt. Vergessen waren ihre Schmerzen, ihre geschwächten Sinne. Irene Peterson rannte zu der Lichtung, die sie im Kopf hatte. Es war ihr, als wäre sie hier schon einmal gewesen, aber sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern. Es kam ihr wie eine starke Deja vú - Erfahrung vor.
Sie hörte, wie Jim ihr folgte, genauso wie er auch sie hören würde. Aber ihr war das egal. Sie beachtete auch nicht seine Rufe, sie lief wie in Trance auf diesen bestimmten Ort zu, der Ort, von dem sie wusste, dass sie ihn finden musste und es auch würde.
"Irene!" Jim rief ein weiteres Mal dem Mädchen hinterher. Vermutlich stand sie immer noch unter Schock, sie hatte keine Ahnung, was sie tat. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst - Angst vor Austin. Aber sie hatte ihn selbst niedergeschlagen...
Der Sentinel rannte schneller. Er fragte sich, wo Irene diese Kraft plötzlich hernahm. überhaupt verstand er nicht, wie es möglich war, dass sie noch lebte. Er hatte sie für tot gehalten. Und sie war es auch gewesen - oder?
Bei diesem Tempo würde er noch ein paar hundert Meter brauchen, bis er sie eingeholt hatte. Er hoffte nur, dass sie nicht einen Fehler begehen würde...
Irene wurde langsamer. Sie musterte ihre Umgebung, als versuche sie sich daran zu erinnern, wo sie hin müsste, aber es gab ja eigentlich nichts, an das sie sich erinnern konnte.
Sie joggte an einem kleinem Tümpel vorbei und sah von weitem, wonach sie gesucht hatte: Eine kleine Lichtung, durch die ein Rinnsal floss. Sie hörte bis hierhin das Plätschern des Wassers.
Sie wurde langsamer. Plötzlich wurde sie unsicher - was würde sie eigentlich dort vorfinden? Panik überkam sie, Angst durchfuhr ihre Gedanken. Da wusste sie, was sie dort aller Wahrscheinlichkeit nach auffinden würde. Aber es half nichts, sie musste es sich ansehen - nur dann würde sie es wirklich glauben.
Jim hörte, wie das Mädchen langsamer wurde.
Gut, dann habe ich eher die Chance sie einzuholen.
Doch im selbem Moment hörte er ihren stark erhöhten Herzschlag.
Das ist nicht gut!
Zügig lief er weiter und erreichte einen kleinen Weiher. Im klaren Wasser sah er auf der anderen Uferseite Irene wiederspiegeln, als sie hinter einem Baum verschwand. Dahinter befand sich eine kleine Lichtung, vermutlich zog es sie dort hin.
Sie betrat langsam das weiche Gras der freien Waldfläche. Die Morgensonne erhellte das kleine Stück Boden. Schritt für Schritt näherte sie sich - den Schock im Gesicht. Sie war starr vor Schrecken, vor Trauer und Wut. Sie blieb einige Zentimeter vor der halb entkleideten Leiche stehen. Jeannys leblos fahle Haut wirkte durch den knallroten Lippenstift, der verwischt war, noch blasser. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie blickten ins Leere. Ihr Mund stand offen, als würde sie schreien. Sie trug nur noch einen Schuh und ihre zum Teil zerrissene Kleidung hatte die Feuchtigkeit des Bodens bereits aufgesogen. Vermutlich hatte der Mörder sie noch ein Stück durch den Wald gezerrt.
Jim näherte sich dem Szenario, dass sich vor ihm auftat: Irene stand starr und wie angewurzelt vor der misshandelten Leiche ihrer Cousine. Er konnte ihr Herz laut in ihrer Brust pochen hören. Dennoch schien sie rein äußerlich total ruhig - sie musste immer noch unter Schock stehen.
Der Sentinel stellte sich schräg hinter das Mädchen. "Irene?", flüsterte er leise und überlegte, ob er sie berühren sollte. Unter Umständen könnte sie dadurch zurückschrecken und ihn als Fremden betrachten.
Wie er nur wenige Sekunden später feststellte, erwiesen sich seine Gedanken als total falsch. Irene drehte sich, ohne eine Mine zu verziehen, zu ihm um. Ihr gesenkter Blick schien ins Leere zu starren, aber ihre Augen waren wässrig.
Vorsichtig nahm er Irene in den Arm und drückte das regungslose Mädchen dennoch fest an sich.
Jim trat mit Wucht gegen den Küchenschrank.
Blair blickte erschrocken auf. Das ging jetzt schon eine Woche so, seitdem Irene erneut - nach Jahren - wieder in die psychiatrische Anstalt eingeliefert wurde. Zuerst wurde sie, wie er, ins Krankenhaus gebracht. Blair hatte Glück im Unglück: Er konnte noch am selben Tag das Hospital wieder verlassen, aber mit entsprechenden Kopf- und Halsschmerzen.
Das Mädchen hatte nicht so viel Glück: Ihre damalige Schusswunde drohte sich wieder zu entzünden, sie hatte eine leichte Unterkühlung und dieses Gift befand sich noch immer in ihrem Organismus.
Bis heute konnte sich niemand erklären, wie Irene diesen Anschlag überlebt hatte, zumal die tödliche Wirkung des Gifts noch einmal definitiv aus dem Labor bestätigt wurde. Jim und Blair konnten es sich nicht anders erklären, als dass es von ihrer andersartigen Reaktion auf Chemikalien aufgrund ihrer Sentinel-Gene, herrührte.
Blair hörte seinen Mitbewohner wieder laut fluchen. Er schimpfte über die psychiatrische Einrichtung. Sie wollten ihn nicht zu Irene lassen. Sie glaubten, dass die Genesung des Mädchens dadurch erschwert werden würde. Sie erhielten noch nicht einmal Auskunft über ihr Befinden. Und das machte den Sentinel wütend. Er wusste, dass er Irene helfen konnte - wenn man ihn nur lassen würde.
"Jim?" Blair fasste sich ein Herz und lief zu seinem Freund hinüber. "Irene wird wieder, sie ist stark. Glauben Sie mir, ich weiß wovon ich spreche."
Der Sentinel schnaubte. "Wenn sie stark wäre, bräuchte sie nicht in diese Anstalt. Sie hätte schon damals nicht dahin gemusst und..."
"Jim!", unterbrach der junge Anthropologe ihn, "Was soll das? Glauben Sie, Irene hilft das in irgendeiner Weise?"
Langsam senkte Jim seinen Blick. Er wusste, dass der Junge Recht hatte, aber... "Es ist nur... Ich fühle mich so hilflos!" Er schüttelte den Kopf. Er hasste dieses Gefühl.
"Ich weiß." Blair trat einen Schritt näher an den kräftigeren Mann heran und sprach sanft weiter: "Aber Sie sollten Irene nicht aufgeben. Sie wird kämpfen, das weiß ich. Und wenn sie wieder aus der Anstalt entlassen wird, benötigt sie jemanden, der ihr zur Seite steht - eine starke, beschützende Hand." Er machte eine kurze Pause um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen.
"Wissen Sie, was Irene zu mir im Wald sagte? Dass Sie sich in Ihrer Gegenwart sicher und geborgen fühle. Sie braucht Sie, Jim. Sie braucht Ihre Stärke, Ihre Besonnenheit."
Jim schwieg. Man sah ihm an, dass er über diese Worte nachdachte, dass er sogar ein wenig gerührt und überrascht war.
Nach einer kurzen Pause nickte er. "Danke", flüsterte er zu seinem Guide und Freund und grinste nach über einer Woche wieder das erste Mal.
Ende
Wird fortgesetzt in "Warnende Träume"
Wie ihr vielleicht schon beim Lesen bemerkt habt, ist diese Fiction das Ergebnis einer Inspiration, die vom gleichnamigen Song des Sängers Falco herrührt. Jeanny war Grundlage für diese Story und gefällt mir nach wie vor. Es läuft mir noch immer jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich es höre:
Jeanny
(by Falco)
Jeanny, komm, come on
Steh auf, bitte
Du wirst ganz nass
Schon spät, komm
Wir müssen weg hier
Raus aus dem Wald
Verstehst du nicht?
Wo ist dein Schuh?
Du hast ihn verloren,
Als ich dir den Weg zeigen musste
Wer hat verloren?
Du, dich?
Ich, mich?
Oder
Oder wir uns?
Jeanny, quit livin' on dreams
Jeanny, life is not what it seems
Such a lonely little girl in a cold, cold world
There's someone who needs you
Jeanny, quit livin' on dreams
Jeanny, life is not what it seems
You're lost in the night
Don't wanna struggle and fight
There's someone who needs you
Es ist kalt
Wir müssen weg hier,
Komm.
Dein Lippenstift ist verwischt
Du hast ihn gekauft und
Und ich habe es gesehen
Zuviel Rot auf deinen Lippen
Und du hast gesagt "mach mich nicht an"
Aber du warst durchschaut.
Augen sagen mehr als Worte
Du brauchst mich doch, hmmmh?
Alle wissen, dass wir zusammen sind
Ab heute
Jetzt hör ich sie!
Sie kommen!
Sie kommen dich zu holen.
Sie werden dich nicht finden.
Niemand wird dich finden!!
Du bist bei mir.
Jeanny, quit livin' on dreams...
Newsflash:
In den letzen Monaten ist die Zahl
Der vermissten Personen dramatisch angestiegen
Die jüngste Veröffentlichung der lokalen Polizei-
Behörde berichtet von einem weiteren tragischen Fall.
Es handelt sich um ein neunzehnjähriges Mädchen,
Das zuletzt vor vierzehn Tagen gesehen wurde.
Die Polizei schließt die Möglichkeit nicht aus, dass es
sich hier um ein Verbrechen handelt.
Jeanny, quit livin' on dreams...
Hat es dir gefallen? Oder vielleicht auch nicht? Ich würde mich sehr über eine Mail mit deiner Meinung freuen! Danke!