Disclaimer siehe Fanfiction-Seite.
Diese Story war nie wirklich als ein Teil dieser Serie geplant. Durch einige Umstände kam es dennoch hierzu. Vielleicht ist sie nicht so sehr Mystery, wie der erste Teil, aber sie passt dennoch in diese Serie. Sie geisterte mir lange im Kopf herum, bevor ich endlich damit richtig beginnen konnte. Denn zuvor schrieb ich noch "Nightmare" für meine liebe Mailfreundin Chance zum Geburtstag. Sie war es auch, die diese Story hier beta gelesen hat. Und wie gewohnt hat sie ihre Arbeit meisterhaft bewältigt. Danke, Chance!
Es gibt nur einen kleinen Spoiler für "Der tödliche Jaguar" (Sentinel Too). Ich empfehle es dennoch dringenst, vor dieser Fanfiction, den ersten Teil dieser Story-Serie, "Flashbacks und Visionen", zu lesen.
Noch gerade zur Information: Alex Barnes richtiger Name ist Alicia Bannister - damit keine Verwirrungen auftreten.
Aufgrund einer Szene besteht hier eine Altersbeschränkung. Du solltest mindestens 12 Jahre alt sein, wenn du das hier lesen möchtest. Bitte nicht lesen, wenn du jünger bist! Danke!
Dann viel Spaß beim Lesen! Und bitte, bitte, bitte! schreibt einer kleinen, armen Autorin, wie es euch gefallen hat, ja? DANKE!
Teil 2 der Serie
Flashbacks und Visionen
von Fraggle
Beta-Read von Chance
April bis Juni 2000
Jim Ellison verließ das leere Krankenzimmer. Noch vor wenigen Minuten lag hier sein Partner Blair Sandburg, der eine Schusswunde an der Schulter auskurierte. Erst gerade wurde dieser entlassen. Zwar musste er noch weiterhin eine Armbinde tragen, aber auf die wüde er schon bald verzichten können. Jetzt war der junge Anthropologe unterwegs zur Hospitalküche um noch schnell den kleinen Hunger zu stillen. Jim grinste. Er kannte den wahren Grund für Blairs kleinen Kantinenbesuch genau: Er pflegte sich immer von den "besonders netten" Schwestern "persönlich" zu verabschieden. Dieses Mal war es wohl eine Bedienstete aus der Küche, die es ihm angetan hatte.
Jim musste plötzlich wieder an Alex Barnes denken - wie sie seinen Guide entführte und am Brunnen vor der Universität erschießen wollte. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte dabei Erfolg gehabt. Bis heute ist der Verbleib der Sentinel unbekannt - sie wurde im ganzen Staat gesucht. Aber Jim glaubte nicht wirklich, dass sie sich noch im Lande befand.
Schnurstracks zielte der Sentinel ein weiteres Krankenzimmer an. Er klopfte kurz und öffnete die Tür ohne eine Reaktion von Innen abzuwarten. Er lugte durch den Türschlitz und lächelte, als er das junge Mädchen sah, das zu ihm aufblickte.
"Guten Morgen, Irene!", begrüßte er sie herzlich - wie eigentlich jeden Morgen, seit sie und Blair hier unter Behandlung waren.
"Morgen, Jim", erwiderte sie und legte ein Buch, in dem sie zuvor vertieft war, beiseite. "Wie geht es Sandburg? Er ist sicher froh wieder nach Hause zu können?"
"Gut. Er ist gerade in der Kantine, sich etwas Essbares besorgen." Jim grinste vielsagend.
Irene konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie kannte Blair vielleicht noch nicht lange, doch es war nicht schwer zu erraten, was oder vielmehr wer ihn dorthin zog.
Jim zauberte einen kleinen Strauß Tulpen hinter seinem Rücken hervor. "Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht." Er übergab schmunzelnd die Blumen.
"Wow! Die sind wunderschön, ehrlich! Vielen Dank!" Verlegen blickte sie sich nach einer Vase um. "Ich werde gleich eine Schwester rufen, die sie mir dann ins Wasser stellen kann."
"Die Ärzte behaupten, du könntest nächste Woche ebenfalls wieder nach Hause", wechselte Jim nach einer kurzen Pause das Thema. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Krankenbett.
"Ja. Es wird auch Zeit. Noch ein paar Wochen hier drin und ich drehe durch. Ich hasse Krankenhäuser."
"Dann habe ich vielleicht eine gute Nachricht für dich: Mir ist heute Morgen zu Ohren gekommen, dass deine Cousine Jeanny hier her unterwegs ist um dich zu besuchen."
Die Freude war Irenes Gesicht direkt anzusehen. "Jeanny, ehrlich? Das ist super! Aber die kommt den ganzen, weiten Weg von Florida bis hier her nur um mich mal im Krankenhaus zu besuchen?" Ungläubig hob sie eine Augenbraue. Da musste doch mehr dahinter stecken.
"Tja. Also, wenn ich sie richtig verstanden habe, möchte sie einige Wochen hier im schönen Cascade verbringen. Ich glaube, sie sprach von sechs Wochen oder so..."
"Sechs Wochen?", unterbrach Irene ihn. "Wow, bis dahin bin ich ja wieder auf den Füßen und ich kann ihr dann die ganze Stadt zeigen! Das ist ja wundervoll!" In ihrer Überschwänglichkeit umarmte sie Jim.
"Hey, hey! Schön langsam, ja? Ich habe rein gar nichts damit zu tun. Deine Cousine hat bei uns im Police Department angerufen und sich erkundigt, wie es dir geht und was passiert sei. Sie muss wohl irgendwo darüber gelesen haben oder so. Als sie hörte, wie ernst es war, muss sie direkt alles arrangiert haben um so schnell wie möglich hier her kommen zu können." Jim löste sich aus Irenes Griff.
"Und wann ist 'so schnell wie möglich'?", fragte sie neugierig.
"Sie wollte den nächsten Flieger nehmen, um neun Uhr morgens Ortszeit. Das heißt, sie dürfte in zwei bis drei Stunden hier erscheinen."
"Das ist ja super! Aber..."
Irene wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Direkt darauf trat Blair mit einem Grinsen von einem Ohr zum nächsten herein.
"Hey Sandburg, Hunger gestillt?", fragte Jim verschmitzt.
"Hallo. Schön Sie wiederzusehen", begrüßte auch Irene ihn.
"Hi!", gab er sichtlich gut gelaunt zurück und wandte sich daraufhin an seinen Partner: "So könnte man es nennen." Triumphierend hob er einen kleinen Zettel hoch.
"Oh nein, Häuptling, sagen sie bloß, Sie haben ihre Telefonnummer ergattern können?" Jim rollte mit den Augen. Das war ja mal wieder typisch für Sandburg.
"Was ist, Jim? Sind Sie neidisch?", konterte Blair. Sein Blick schweifte nun zum Bett, wo er erst jetzt die Blumen registrierte.
"Hey! Jim, sagen Sie bloß, die kommen von Ihnen?" Er deutete auf die Tulpen.
"Haben Sie ein Problem damit, Häuptling?", fragte Jim herausfordernd.
Blair lachte, aber behielt eine passende Antwort erst einmal für sich.
"Ok, ich denke, wir müssen los. Sonst sammelt Romeo hier womöglich noch weitere Telefonnummern unschuldiger Krankenschwestern!" Er warf Blair einen schiefen Blick zu.
"Oh, ähm, sicher. Vielen Dank für die Blumen, Jim." Irene bemerkte, wie unangenehm Jim die ganze Situation war.
"Jim. Bevor ich es vergesse: Könntest du mir einen Gefallen tun?" Die beiden Partner waren schon fast aus dem Raum.
Der Detective wandte sich wieder an sie. "Sicher, was denn?"
"Hm, wenn es dir möglich wäre, könntest du vielleicht dafür sorgen, dass meine Cousine am Flughafen abgeholt wird?", fragte sie vorsichtig.
"Klar, kein Problem. Ich werde sie persönlich einsammeln."
"Habe ich gerade richtig gehört? Irenes Cousine? Wie alt ist die denn?", hakte Blair grinsend nach. Neugierig betrat er noch einmal das Zimmer.
"Ich glaub es nicht!" Jim zog ihn mit sich aus den Raum, aber nicht ohne sich noch kurz bei Irene zu verabschieden.
"Hey, man wird doch mal fragen dürfen!", tat Blair unschuldig und versuchte ein verräterisches Lächeln zu unterdrücken. "Wie alt sie denn nun und wie heißt sie, hm?"
Der Sentinel schüttelte den Kopf. War er auch mal so schlimm? Wohl kaum...
"Ich glaube, Sie sollten sich wieder mal bei Ihrem Psychiater melden, Häuptling." Mit diesen Worten ging Jim auf den Aufzug zu und ließ einen ahnungslosen Blair zurück.
Jim tippte ungeduldig mit seinen Fingern auf dem Lenkrad und warte ungeduldig auf Blair. Das Flugzeug würde schon in einer halben Stunde landen und er hatte Irene versprochen sich um Jeanny zu kümmern. Er hatte keine Ahnung, wie er sie überhaupt erkennen sollte. Er wusste ja nur ihren Namen, nicht einmal ihr Alter oder Aussehen.
Blair wollte unbedingt mit. Er war den ganzen Tag schon auf Achse und huschte quirlig von einem Ende des Lofts zum anderem. Da seine rechte Schulter verletzt war, konnte er weder schreiben, arbeiten, noch sonst irgendetwas Produktives machen. Sein ganzes Tageswerk beschränkte sich scheinbar nur darauf Jim zum Wahnsinn zu treiben.
Endlich stieg der junge Anthropologe auf der Beifahrerseite ein. Sofort startete Jim den Motor seines Fords und fuhr los.
Nach ein paar Minuten im Stau und einigen Nerven weniger stiegen die beiden auf dem Flugplatzgelände aus. Zügig liefen Sie zu der Haupthalle. Zuerst mussten sie jedoch noch herausfinden, wo das Flugzeug überhaupt landen würde. Jim las bereits aus vielen Metern Entfernung an der Anzeigetafel in der großen Halle des Gebäudes, dass sie zum Trakt B mussten und zog Blair mit sich. Dieser folgte ihm anstandslos.
Dort angekommen visierte der Detective direkt die Informationsstelle vor Ort an. "Entschuldigung, wann wird voraussichtlich hier der Flug von Florida eintreffen?"
Eine junge Dame lächelte ihn an und säuselte ihm zu, dass der Jumbo wohl leider eine halbe Stunde Verspätung hätte, aber er könne solange Platz nehmen. Sie deutete auf eine Reihe von Sitzplätzen.
Jim seufzte. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn der Flieger ihm den Gefallen getan hätte und pünktlich angekommen wäre. Er drehte sich zu Blair um und erklärte ihm, dass sie wohl ein wenig warten müssten. Kaum hatten sie Platz genommen, rutschte Blair nervös auf seinem Stuhl hin und her.
"Häuptling, bitte! Meine Nerven liegen sowieso schon blank. Sie kommt, wenn sie kommt, nicht früher und auch nicht später. Wäre sehr nett, wenn Sie bis dahin ruhig sitzen bleiben könnten."
Verlegen begab sich Blair ruhig in eine angenehme Position, aber zu Jim gerichtet. "Ok, ich wollte es mir ja verkneifen, Jim, aber ich kann einfach nicht anders." Blair blickte Jim tief in die Augen. Dieser starrte ihn erstaunt an.
"Was denn, müssen Sie mal für kleine Anthropologen? Die Toilette ist gleich dort drüben, ich werde Sie sicher nicht aufhalten!" Er musterte sein Gegenüber leicht amüsiert.
"Ach, lassen Sie den Quatsch, Jim. Nein, ich meine es ernst." Blair blickte dennoch seinen Partner mit einem breitem Grinsen an. "Glauben Sie nicht, dass Irene ein wenig zu jung für Sie ist?"
Jims Unterkiefer klappte nach unten. Er glaubte nicht, was er da hörte. Mit so etwas hatte er jetzt ganz sicher nicht gerechnet. "Häuptling, wollen Sie damit vielleicht etwas andeuten?", fragte er schließlich nach einer kurzen Pause, sichtlich verwirrt.
"Jim, es sieht doch selbst ein Blinder mit Krückstock, dass Sie Gefallen an dem Mädchen gefunden haben. Und dann heute Morgen noch die Blumen! Glauben Sie allen Ernstes, dass so etwas einfach an mir vorbeigeht?"
Jim wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Das war ja wohl unerhört! Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Sandburg, nur weil ich jemandem Blumen geschenkt habe, muss ich doch nicht gleich etwas von dieser Person wollen. Sie können mir nicht erzählen, Sie hätten noch nie jemandem Blumen mit ins Krankenhaus gebracht!" Seine Stimme klang verärgert.
"Hey, ich weiß doch was ich gesehen habe. Es waren nicht nur diese Tulpen. Jim, ich habe Sie schon lange nicht mehr so erlebt. Simon hat mir auch erzählt, dass..."
"Ho, ho, ho, Häuptling, einen Moment mal. Sie haben Simon von Ihren kleinen Fantasien erzählt?", unterbrach er den Jungen wütend. Diesmal war er zu weit gegangen.
"Nein, das war gar nicht nötig. Simon hat mir selbst davon erzählt. Er war überrascht, wie entspannt und gut gelaunt Sie in ihrer Gegenwart sind."
Jim hob mahnend seine Hand. "Es reicht, Junior. Sie müssen nicht immer von sich auf andere schließen, Ok? Ich möchte nichts von Irene und sie möchte nichts von mir und damit basta." Er warf Blair noch einen düsteren Blick zu um seine Aussage zu untermauern.
Blair war klar, dass damit die Sache erst einmal gegessen war. Er kannte diesen Blick. Aber bei nächster Gelegenheit würde er wieder darauf zu sprechen kommen, und wenn er Irene selbst ansprechen müsste. Irgendetwas war da im Busch und er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Partner ihm dieses ‚Etwas’ vorenthielt.
Die nächsten zwanzig Minuten schwiegen sich die beiden nur an. Jim musste noch immer verärgert über Blairs Bemerkung nachdenken und darüber, dass sogar Simon da mit drin steckte. Währenddessen überlegte Blair, was sein Freund an diesem Mädchen in so kurzer Zeit Besonderes gefunden hatte.
"Schau mal, wen wir dir mitgebracht haben, Irene." Jim kam freudestrahlend in das Krankenzimmer. Triumphierend führte er Jeanny herein, die sich direkt auf die Patientin stürzte. Stürmisch umarmten sich die beiden Mädchen und Jim grinste innerlich.
Blair stand unbeteiligt schräg hinter ihm und beobachtete den Sentinel genau. Schließlich wollte er endlich wissen, was zwischen Irene und ihm lief. Oder hatte er sich das wirklich nur eingebildet? Nein, auch Simon glaubte etwas erkannt zu haben und das sollte schon etwas heißen. Eigentlich war es Blairs Aufgabe so eine Veränderung im Verhalten seines Sentinels zu erkennen.
Misstrauisch musterte er seinen Freund und glaubte ein leichtes Lächeln zu vernehmen. Jim schien die beiden Mädchen regelrecht anzufixieren. Wirklich beide Mädchen oder vielleicht nur Irene? Das galt es für Blair herauszufinden...
"Kommen Sie Häuptling, wir müssen gehen, Simon erwartet mich in einer knappen Stunde auf dem Department und wir haben noch keinen Happen zu Mittag gegessen. Irene, wir sind dann weg." Er wandte sich dem Ausgang zu. "Oh und Jeanny? Willkommen in Cascade!", fügte er noch schnell hinzu. "Bye - bye!" Gutgelaunt verließ er das Zimmer und wartete draußen auf Blair, der sich ebenfalls noch zügig verabschiedete.
"Vielen Dank, Jim!", flüsterte Irene gerade so laut, dass nur der Sentinel es hören konnte.
Guter Dinge und mit vollem Magen betrat Jim das Büro vom Captain. Er glaubte Bäume ausreißen zu können, nichts könnte seine Laune jetzt noch mindern - dachte er zumindest...
"Jim? Kommen Sie rein, ich muss etwas mit Ihnen besprechen." Simon klang besorgt, seine Haltung und seine Mimik unterstützten diesen Eindruck.
"Was gibt es denn, Sir?", fragte Jim ahnungslos. Aber er wusste, dass es nichts Gutes sein konnte.
"Wir haben es in letzter Zeit wieder vermehrt mit Entführungen zu tun, Jim." Simon machte eine kurze Pause um sich hinzusetzen. "Ich spreche von Vergewaltigung." Er blickte seinem Gegenüber fest in die Augen, aber der Detective verzog keine Mine.
"Wie es aussieht hat unser Täter in letzter Zeit im Abstand von zwei bis drei Wochen regelmäßig seine bisher ausnahmslos weiblichen Opfer entführt. Wenige Tage darauf wurde die Leiche der Frauen an verschiedenen Orten gefunden. Jedes Mal wurde zwar festgestellt, dass es hier um einen Sexualmord ging, aber bisher hatte man diese Fälle nie in Verbindung gebracht, weil es bei zwei Fällen blieb und die Vorgehensweise und Plätze keinerlei ähnlichkeiten aufwiesen."
"Aber jetzt wurde ein drittes Opfer gefunden?", hakte Jim nach. Er wirkte nicht mehr so fröhlich, wie vor wenigen Minuten. Vergewaltigung von Frauen war ein ernstes und vor allem sehr tragisches Thema. Nach Jims Ansicht war es direkt das schlimmste Verbrechen nach der Kindesmisshandlung.
"Richtig." Simon reichte ihm eine Akte, in der einige Fotos und Daten der Opfer enthalten waren. Betrübt begann der Detective in den Unterlagen herumzublättern.
"Das ist alles, was wir bisher zu diesem Fall haben. Zuvor waren unterschiedliche Ermittler im Einsatz, die Namen sind vermerkt, Sie können jeder Zeit mit ihnen reden, falls Sie Fragen haben."
"Simon, wieso ich?", hakte Jim verwundert nach. "Das hätte auch jeder andere dieser Detectives machen können, die zuvor schon am Fall dran waren und mehr Erfahrung haben als ich..."
Banks seufzte, er wusste, dass er Jim nichts vormachen konnte. "Die Presse steht bereits in den Startlöchern, Jim. Wir müssen schnellstens handeln, der Polizei-Chef rennt mir bereits die Türe ein. Und Sie sind halt der Beste für diesen Job. Sobald Sandburg wieder soweit ist, sollte er Ihnen zur Hand gehen. Sie werden jede Hilfe brauchen. Außerdem hat mich auch Megan darum gebeten, sie in diesen Fall miteinzubeziehen. Ich befürchte, Sie werden mit ihr zusammenarbeiten müssen. Sie meinte, Sie habe bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet." Erneut seufzte Simon und fügte hinzu: "Außerdem befürchten wir, dass sich unser Täter innerhalb der nächsten Tagen ein weiteres Opfer aussuchen wird."
Jim nickte, er wusste, dass dies die Ermittlungen nicht gerade erleichtern würde. Wenn einmal die Presse aufgescheucht war, konnte man sie nur schlecht wieder im Zaum halten. Er durfte das schon oft genug selbst mitmachen. Außerdem sah er Blair schon kreidebleich vor einer misshandelten Frauenleiche. Der Junge würde wahrscheinlich wieder Probleme haben, die Eindrücke zu verarbeiten. Aber es half nichts, er wusste nur zu gut, dass er auf die Hilfe seines Guides angewiesen war.
"Ich schnappe diesen Kerl, Simon. Ich verspreche es." Er verließ das Büro und begab sich, in die Unterlagen vertieft, zu seinem Schreibtisch.
"Hey Jim, schon gehört, wir haben wieder das Vergnügen."
Der Sentinel blickte auf und sah Megan vor sich, die breit grinste.
"Connor, ich glaube kaum, dass dieser Fall ein Vergnügen wird", erwiderte er und setzte sich auf seinen Stuhl.
"Sie müssen auch gleich alles so wörtlich nehmen, hm? Ich weiß sehr wohl, dass Vergewaltigung kein Spaß ist. Wenn ich dieses Schwein in die Finger bekomme, wird er sich wünschen, er wäre nie geboren!"
Jim brauchte seine Kollegin nicht anzuschauen um zu erkennen, dass es Megan sehr ernst war. Er vertiefte sich weiter in die Akte.
Ich habe schon mit den vorigen Ermittlern gesprochen, die wissen auch nicht viel mehr, als das, was in den Berichten steht", fühte sie jetzt etwas ruhiger ihre Ausführungen fort.>
"Gut, dann suchen wir Ihnen jetzt erst einmal ein neues Make-up." Jim machte sich auf den Weg und Megan folgte ihm stirnrunzelnd.
Die beiden Detectives verließen den kleinen Kosmetikladen. Jim war bei Durchsicht der Akte aufgefallen, dass jedes Opfer einen sehr teuren Lippenstift der gleichen Marke und Farbe bei sich geführt hatte.
Das war jetzt schon der siebte Laden, den sie untersucht hatten. Bisher gab es erst zwei Geschäfte, die den schwer erhältlichen Lippenstift führten. Diese beiden Läden hatten aber keine Auffälligkeiten beobachtet oder sogar einen Mann, der diese Marke gekauft hätte. Genaugenommen hatte schon lange kein Kunde mehr diese Sorte gekauft.
Es standen noch vier weitere Läden hier in Cascade an. Bisher war das Kosmetika der einzige Anhaltspunkt, den die beiden Ermittler hatten. Seufzend setzte Jim sich in seinen Wagen und Megan stieg auf der anderen Seite ein.
"Was ist, wenn es gar nicht der Mörder war, der die Lippenstifte gekauft hatte, sondern die Mädchen selbst? Vielleicht sucht sich der Täter seine Opfer danach aus, kann doch sein?"
Jim nickte nachdenklich, daran hatte er noch nicht gedacht. "Das würde bedeuten, er beobachtet die Mädchen aus der Nähe des Ladens um sie dann gezielt zu entführen und zu vergewaltigen. Finden wir den Laden, finden wir vielleicht auch den Vergewaltiger." Er startete den Wagen und fuhr zum nächsten Geschäft, das in Frage kam.
Cascader Krankenhaus - 14:17 Uhr
"Ich hole mir einen Donut, möchtest du auch einen?", fragte Jeanny grinsend ihre Cousine, nachdem sie von einem Mittagessen in der Stadt zurückkam. Während der Mittagszeit waren Besucher nicht erlaubt.
"Danke, aber ich vermute, das wäre nicht ganz im Sinne der ärzte hier."
"Hey, wer sagt denn, dass die etwas davon mitbekommen müssen?" Jeanny zwinkerte ihr zu und verschwand aus dem Zimmer. Irene atmete auf. Sie war froh, dass Jeanny hier war. Dieses triste ‚Dahinsiechen’ im Krankenhaus hatte sie satt. Die Ärzte meinten, sie könnte vielleicht schon heute die ersten Gehversuche unternehmen. Dann würde sich auch herausstellen, wann sie entlassen werden könnte, aber wohl nicht vor übermorgen.
Unterdessen bahnte sich Jeanny ihren Weg zur Kantine. Alle waren mit den Aufräumarbeiten nach dem Mittagessen beschäftigt. Ein Mann in weißem Kittel und langen blonden Haaren rempelte sie an, so dass sie umknickte und beinahe stürzte.
"Oh, tut mir leid, alles in Ordnung?", fragte er besorgt. Er legte fürsorglich seinen Arm auf ihre Schulter um sie zu stützen.
"Hm, ja, alles Ok, wirklich." Beschwichtigend hob sie ihren Arm und löste sich von seinem Griff. "Nichts passiert, ehrlich."
"Tut mir schrecklich leid. Ich weiß auch nicht, wo ich wieder meine Gedanken hatte, sorry!"
Sie grinste ihn nur kurz an und nickte. Schließlich lief sie weiter zur Küche ohne sich umzuschauen. Am Tresen bat sie um zwei Donuts und bekam noch genau die letzten beiden. Freudestrahlend kam sie wieder ins Krankenzimmer ihrer älteren Cousine.
"Hey, Irene, da bin ich wieder. Stell dir vor, ich habe genau die letzten zwei Donuts bekommen, die sie hatten." Sie reichte der Patientin eines der Gebäcke und biss herzhaft in das ihre.
"So, und jetzt erzähl' mir mal von den beiden Cops, die mich am Flugplatz abgeholt haben", forderte Jeanny sie lächelnd auf.
"Oh nein, Jeanny, du wirst doch nicht etwa...?"
"Wieso nicht, dieser junge Cop mit den langen Haaren ist doch recht niedlich", sie grinste von einem Ohr zum nächsten.
"Der Kerl heißt Blair Sandburg und ist gar kein Cop. Außerdem wäre er wohl auch nichts für dich. Er ist zu alt." Irene verdrehte die Augen, das war ja mal wieder typisch für ihre kleine Cousine, dass sie sich in den erstbesten Kerl verguckte.
"Also ich finde ihn niedlich und die paar Jahre machen mir überhaupt nix aus", gab Jeanny trotzig von sich.
"Ihm vielleicht aber", erwiderte Irene.
"Ach, du willst ihn nur für dich haben, das ist es doch!", neckte Jeanny.
"Ja klar, und wovon träumst du nachts?" Lachend biss sie von ihrem Donut ab.
Ein Klopfen unterbrach die beiden.
"Herein", antwortete Irene amüsiert. Sie staunte nicht schlecht, als Blair den Raum betrat.
"Hey Ladies. Wie geht's?" Er schaute in die Runde. Die Mädchen blickten sich gleichzeitig an und prusteten vor Lachen. Wenn man vom Teufel sprach!
"Habe ich irgendetwas Falsches gesagt?" Blair war sichtlich verwirrt.
"Nein, Sandburg. Tut uns leid, das war ein Insider!", erwiderte Irene und versuchte dabei ernst zu bleiben. "Hm, wollten Sie etwas Bestimmtes?"
"Ähm, ja, ich wollte Sie mal sprechen - allein." Er betonte das letzte Wort auffällig. Jeanny schaute zu Irene hinab und war ein wenig enttäuscht, jetzt war der süße Kerl mal hier und schon musste sie den Raum verlassen.
"Ist in Ordnung, ich werde in der Zeit einen kleinen Spaziergang machen oder so." Etwas besseres fiel ihr nicht ein. Irene kicherte leise.
"Danke, wird nicht lange dauern." Blair setzte sich auf den Stuhl, der jetzt neben dem Bett freigeworden war.
"Wie geht es Ihnen?", begann er. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
"Gut, und Ihnen Mr. Sandburg?", sie deutete auf die Armbinde.
"Oh, der Verband kommt schon morgen ab. Und es heißt Blair, Ok?", antwortete er gewohnt charmant.
"Ok, Blair, reden wir nicht um den heißen Brei, wieso sind Sie hier, hm?"
Der junge Anthropologe rang nach Worten. "Also, es geht eigentlich um Jim", er machte eine kurze Pause und betrachtete Irene, aber von ihr kam keine Reaktion. "Genau genommen geht es um Jim und Sie, Irene."
"Um Jim und mich? Da bin ich aber gespannt!" Amüsiert blickte sie Blair an. Sie ahnte schon, worauf er hinaus wollte.
"Tja, also... Ich habe Jim beobachtet. Er ist in Ihrer Gegenwart so... so anders", er hatte keine Ahnung, wie er es ausdrücken sollte. Merkwürdig, schließlich hatte er sonst immer für alles die passenden Worte.
"Anders?" Irene spielte mit dem jungem Mann. Sie war sich sehr wohl bewusst, was er hören wollte.
"Ja, es ist beinah so, als sei er..."
"...verliebt. Das ist es doch, was Sie sagen wollen, oder?"
Er musterte sie mit großen Augen. Er war überrascht, wie direkt sie auf das Thema einging. "Richtig, so etwas in der Art."
"Hören Sie, Blair. Ich glaube nicht, dass Jim Ihnen etwas Gegenteiliges sagen würde: Wir sind einfach nur gute Freunde, nicht mehr und nicht weniger, Ok? Ich meine, er könnte mein Vater sein!"
"Sie verstehen das nicht, ich kenne Jim. Er ist sonst nicht so... extrem freundlich. Die Weise, wie er Sie ansieht und wie Sie ihn ansehen..."
"Ich glaube, Sie interpretieren da etwas falsch", unterbrach Irene ihn. "Aber wieso fragen Sie ihn nicht selbst?"
"Habe ich schon."
"Und, was hat er gesagt?"
"Dass da nichts zwischen Ihnen wäre", gab er kleinlaut zu. "Aber Jim ist nicht normal, wenn Sie wissen, was ich meine."
"Ich weiß sehr wohl, was Sie meinen. Schon vergessen, meine Halbschwester Alicia ist auch eine Sentinel! Deswegen muss das doch nicht mehr zu bedeuten haben!"
Blair musterte das Mädchen an. Es war sinnlos, sie würde bei ihrem Standpunkt bleiben, aber er spürte, dass da mehr war als einfach nur Freundschaft, er wusste nur nicht, was.
"Ok, wenn Sie es sagen", antwortete er nicht gerade überzeugend und stand auf.
"Blair? Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich als Jims Guide und Freund um Ihren Sentinel Sorgen machen, aber es gibt Sachen, die Zeit benötigen."
Blair runzelte die Stirn, was wollte sie denn jetzt damit sagen? Er entschloss sich, nicht näher darauf einzugehen und ging zur Tür. "Ich wünsche Ihnen noch gute Besserung. Bye!"
Er war so schnell wieder weg, wie er gekommen war.
"Sind Sie sicher?" Jim fragte die Verkäuferin ein weiteres Mal.
"Ja, ich kenne dieses Mädchen, sie hatte diesen Lippenstift, von dem Sie sprachen vor drei, vielleicht auch vier Tagen bei mir gekauft. Die anderen Frauen von den Bildern kenne ich zwar nicht, aber gut möglich, dass sie ebenfalls bei uns diese Marke gekauft hatten. Ich habe hier nur die Schicht nach Mittag. Wir empfehlen diesen Lippenstift unseren Kunden immer besonders gerne, da er eine extra Mischung hat, mit der die Farben länger anhalten."
Jim steckte die Fotos der ermordeten Mädchen wieder ein. "Mit anderen Worten: Sie haben einen Werbevertrag mit dem Hersteller?"
Die junge Frau blickte Megan und dann ihn an. "Ja und wir haben noch weitere Produkte dieser Firma."
Die Detectives nickten, dies hier schien der gesuchte Laden zu sein. Jim schaute kurz auf seine Armbanduhr.
"Ok Connor. Arrangieren Sie alles, dass dieser Laden hier unter Beobachtung bleibt. Ich bin im Krankenhaus. Wenn sich etwas Neues ergibt, geben Sie mir Bescheid."
"Was? Wie soll ich denn von hier wieder zum Department kommen?"
"Fahren Sie mit einem der Officers, Sie sind doch sonst einfallsreicher." Er lief aus dem Laden ohne auf die Proteste der Kollegin zu achten.
Unterdessen unternahm Irene bereits ihre ersten Gehversuche. Sie war zwar noch etwas wackelig auf den Beinen, aber die Ärzte schienen sichtlich mit den Fortschritten der Patientin zufrieden zu sein. Jeanny stand aufmerksam daneben, bereit ihrer Cousine zu helfen, wenn ihre Beine sie nicht mehr halten sollten.
"Ok, Ms. Peterson. Wir sind mit Ihrem Heilungsprozess sehr zufrieden. Wenn nichts dazwischenkommt, dürften Sie schon übermorgen entlassen werden. Dennoch wird dann die nächsten Tage ihr Platz mehr im Bett als auf den Beinen sein." Der Arzt hob mahnend den Zeigefinger um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. Man war sich sehr wohl bewusst, wen man vor sich hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Irene Peterson es übertreiben würde. Bisher hatte sie kaum einen Krankenhausbesuch vollständig beendet. Sobald ihre Füße sie tragen konnten, verschwand sie vorzeitig.
"Keine Angst, Doktor. Ich werde versuchen meine Zeit hier abzusitzen, die zwei Nächte werde ich noch aushalten. Ich werde ja gut umsorgt." Sie schielte dankbar zu ihrer Cousine hinüber.
"Wollen wir es hoffen, Ms. Peterson. Sonst sind Sie schneller wieder hier, als Ihnen lieb ist, mit einer Schusswunde ist nicht zu spaßen. Und nun sollten Sie sich wieder hinlegen, für heute sind Sie genug herumspaziert. Morgen werden wir einen kleinen Rundgang durch das Krankenhaus machen."
Der Arzt verließ das Zimmer, gefolgt von der Krankenschwester. Artig legte sich Irene wieder hin, sie wollte es diesmal ernsthaft durchhalten und mit Jeannys Hilfe würde sie es auch schaffen.
Jeanny stand währenddessen am Fenster und betrachtete die schöne Aussicht. Die Abendsonne strahlte durch die vielen Hochhäuser, deren Fenster das Licht widerspiegelten. "Ich freu mich schon darauf, wenn du wieder auf den Beinen bist, dann können wir endlich die Gegend hier unsicher machen. Hast du mal rausgeschaut? Die Aussicht ist atemberaubend!"
"Atemberaubend? Nun, wenn du es sagst." Irene nahm die Decke beiseite und stand vorsichtig auf. Langsam schlurfte sie zum Fenster und stellte sich neben ihre Cousine und beste Freundin.
"Du hast recht, es verschlägt einem den Atem! Aber warte erst einmal ab, wenn die Sonne untergeht."
Zur gleichen Zeit klopfte es an der Tür und Jim trat herein. "Hey Mädels!", begrüßte er die beiden. Zwei Köpfe schnellten in seine Richtung.
"Irene, du bist schon auf? Sag nicht, ich hab das beste verpasst!" Er lief auf die beiden zu und legte seinen Arm freundschaftlich auf Irenes Schultern. "Tut mir leid, dass ich so spät bin."
"Schon gut, es gab sowieso nicht viel zu sehen. Aber die Ärzte meinten, ich könnte schon übermorgen hier raus!" Sie wandte sich freudestrahlend wieder zum Fenster.
"Hey, das klingt gut!" Er klopfte ihr kurz ermunternd auf die Schulter und sah ebenfalls aus dem Fenster. "Gibt es dort etwas Besonderes zu sehen?" Er scannte die Gegend ab, aber es schien alles so weit ruhig zu sein.
"Nein Detective, wir genießen nur die Aussicht", antwortete Jeanny. Sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr und seufzte. "Ich befürchte, ich werde mich mal auf den Weg machen müssen, wenn ich noch in einem Hotel einchecken möchte." Sie umarmte kurz ihre Cousine und schüttelte Jims Hand. "Danke Detective noch mal für das Herfahren."
Sie schnappte sich ihre Reisetasche und ging zur Türe. "Ich werde morgen wiederkommen, Irene, sei darauf gefasst!", verabschiedete sie sich amüsiert.
"Warten Sie, ich helfe Ihnen. Ich kenne da ein gutes Hotel ganz hier in der Nähe, ich werde Sie hinfahren." Jim eilte Jeanny zur Seite und nahm ihr die Tasche ab.
"Danke, aber ich vermute, Sie wollen noch etwas Zeit mit Irene verbringen. Ich werde ein Taxi nehmen."
"Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich kann danach noch mal hier her kommen. Nicht wahr, Irene?"
Irene nickte. "Danke noch mal, dass du gekommen bist, Jeanny, ich bin wirklich sehr froh darüber!"
Die beiden verließen den Raum und Irene war alleine. Sie blickte wieder aus dem Fenster und musste innerlich grinsen vor Glück.
Irene blickte von ihrem Buch auf, in das sie sich wieder vertieft hatte, und sah Jim hineinkommen. Sie hatte sich erneut hingelegt, wie die Ärzte es ihr verordnet hatten.
"Habt ihr ein Zimmer für Jeanny gefunden?"
"Ja, ein hübsches kleines Zimmer mit Blick auf das Meer." Er schaute zum Fenster hinüber. Mittlerweile hatte der Himmel sich rot gefärbt und im Meer spiegelte sich das Lichterspiel wider.
"Möchtest du den Sonnenuntergang nicht genießen? Er ist heute besonders schön!" Eigentlich hatte er noch nie ein Auge für so etwas.
Irene stand auf und gesellte sich zum Sentinel. Sie standen viele Minuten lang so am Fenster, regungslos.
"Jim?", begann Irene.
Er blickte zu ihr hinunter. "Ja?"
"Glaubst du nicht, du müsstest Blair mal von allem erzählen?"
Verwundert musterte er sie von oben bis unten. Wusste sie von Blairs Vermutungen?
"Was? Was soll ich ihm erzählen, Irene?" Er tat, als wüsste er von nichts. Er wollte es aus ihrem Munde hören.
"Na, alles. Von mir und von dem, was zwischen uns ist." Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf.
"Ich bin mir nicht sicher, ob er es verstehen würde", antwortete er zögernd und wandte seinen Blick ab.
"Wenn du es ihm nicht erzählst, wird er es sicher nicht verstehen. Aber er wird früher oder später sowieso davon erfahren. Und es ist auch nichts dabei. Du brauchst mich nicht zu beschützen, ich vertraue ihm... weil du ihm vertraust."
"Weißt du, was Blair von uns hält?" Jim ließ seinen Blick wieder auf das Mädchen schweifen.
"Ja, er glaubt, wir wären ein Paar. Und auf den ersten Blick wirken wir doch auch so, oder?" Es kam aus ihrem Munde, als wäre es das Normalste der Welt. Jim beneidete sie darum, wie sie so offen über ihre Gefühle sprach. Er konnte das nicht. Er konnte das noch nie.
"Ich werde bei der nächstbesten Gelegenheit mit ihm darüber sprechen, Ok?"
Sie nickte und wusste, dass es ihm unangenehm sein würde. Aber er kam nicht drum herum. Blair war sein Guide und sicherlich würde er Verständnis zeigen.
"Da sind Sie ja endlich, Jim. Ich begann schon mir Sorgen zu machen!" Blair schnellte von der Couch hoch.
"Immer schön langsam, Häuptling. Ich bin durchaus alt genug, mich nicht bei Ihnen an- und abmelden zu müssen", beschwichtigte Jim leicht amüsiert.
"Sie haben leicht reden! Eigentlich hatten Sie schon vor über einer Stunde Dienstschluss. Ich hatte schon bei Simon durchgeklingelt."
Lächelnd gab Jim seinem Mitbewohner einen Klaps auf die Schulter. "Häuptling, wo werde ich wohl gewesen sein, hm?"
Blair rollte mit den Augen. "Sie waren mal wieder bei Irene, ne? Aber die Besuchszeiten sind doch ebenfalls längst zu Ende!"
"Schon vergessen, ich habe eine kleine Sondererlaubnis!" Er zeigte grinsend seine Marke, die er genau wie seinen Colt dann in die übliche Kommode legte.
"Na gut, aber Sie hätten doch wenigstens Bescheid geben können!" Blair war noch immer sauer. "Und verraten Sie mir nun endlich, was da zwischen Ihnen und Irene läuft, oder was?"
"Sandburg, bitte nicht heute. Ich gehe jetzt unter die Dusche und dann ins Bett und Sie sollten das auch machen." Er schlenderte zum Badezimmer und ignorierte das Schnauben seines Guides.
Cascade Krankenhaus - 09:04 Uhr
"Guten Morgen, Irene. Na, wie geht es dir heute?" Ein sichtlich gut gelaunter Jim Ellison betrat das Krankenzimmer. Er hatte Blair zum Hospital gebracht, dessen Armbinde wurde ihm abgenommen und er wurde noch einmal abschließend untersucht.
"Hey Jim! Du hast nicht zufällig Jeanny gesehen?"
"Was ist das denn für eine Begrüßung?" Er setzte sich neben das Bett und überreichte ihr eine kleine Packung Pralinen. "Damit du heute den letzten Tag hier überstehst", erklärte er und zwinkerte ihr zu.
Lächelnd nahm Irene die Schachtel und bedankte sich.
Nach einer kurzen Pause hakte Jim dennoch nach: "Was ist denn mit Jeanny?"
"Das wüsste ich ja auch gerne mal! Sie wollte um acht Uhr hier sein, aber bisher keine Spur von ihr. Ich habe auch schon im Hotel nachgefragt, aber dort konnte man mir auch nicht weiterhelfen." Nervös friemelte Irene an dem süßem Mitbringsel.
"Sicher hat sie nur irgendwo einen kleinen Abstecher gemacht um zu frühstücken. Nicht jedem bekommt das Essen hier", versuchte er sie zu beruhigen. Das Hotel war hier ganz in der Nähe, sie konnte sich nicht verlaufen haben.
"Hör zu, ich muss jetzt sowieso wieder gehen, die Pflicht ruft. Aber ich werde zuvor beim Hotel vorbeifahren und mich nach ihr erkundigen, Ok?" Er strich ihr leicht durchs Haar. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
"Danke Jim, das ist sehr lieb von dir. Vielleicht mache ich mir auch wieder unnötig Sorgen, nur ist es halt nicht ihre Art."
"Schon gut. Ich kümmere mich darum, versprochen. Und du genieß jetzt deinen letzten Tag hier, morgen wird es wieder ernst." Er stand auf und verließ das Zimmer. Bevor er aber die Türe hinter sich schloss wandte er sich wieder an das Mädchen: "Ich komme in der Mittagspause noch mal vorbei. Bye!"
"Bye!", verabschiedete sich auch Irene. Gedankenverloren betrachtete sie die Schachtel Pralinen auf ihrem Schoß.
"Ja, ich weiß, Connor. Ich bin zu spät." Er hob beschwichtigend die Arme, als er Megan auf sich zukommen sah. "Haben wir schon etwas Neues?" Er zog sich seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe bei seinem Schreibtisch.
"Nein. Wie auch, wenn Sie erst jetzt erscheinen?" Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
"Tut mir leid, Megan, ehrlich. Aber ich musste noch einer Freundin einen Gefallen erweisen." Er drehte sich um und lief in Richtung Simons Büro. "Bleiben Sie, wo Sie sind, ich bin gleich zurück!", rief er ihr noch zu.
Nachdem er angeklopft hatte, öffnete er die Tür und betrat den Raum.
"Oh Jim, welch eine Ehre! Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir hier die Gleitzeit eingeführt haben." Simon paffte wieder einmal einer seiner Zigarren.
"Ich weiß, tut mir leid, Sir." Er setzte sich auf die Kante des Besprechungstisches gegenüber Simons Schreibtisch. "Es ist nur...", er hielt kurz inne. "Sir, ich glaube, wir haben ein Problem."
Irene zögerte kurz, als sie bemerkte, dass jemand in ihrem Zimmer war. Sie kam gerade von diesem sogenannten kleinem Rundgang wieder, der beinhaltete, dass sie den Hauptgang der Station einmal auf und ab laufen sollte. Sie hatte fast ihren Raum erreicht, als sie eine Person darin registrierte. Es war Jim.
"Hey Jim, ihr macht auch immer früher Mittag, wie?" Sie blickte auf die Wanduhr, es war kurz nach zehn Uhr morgens. Sie ahnte Schreckliches. Erschöpft betrat sie den Raum und sah, dass Jim nicht alleine war. Eine Frau begleitete ihn.
"Das ist Inspektor Megan Connor. Sie hilft mir in einem Fall, den ich gerade bearbeite."
Megan hielt Irene zur Begrüßung ihre Hand hin und diese erwiderte die Geste. Die Polizistin bemerkte, wie schwach der Händedruck des Mädchens noch war. Irene war kreidebleich, aber sie konnte nicht erkennen, ob es daran lag, dass sie noch nicht völlig genesen war oder ob sie schon ahnte, weshalb Jim und sie gekommen waren.
"Irene, wir müssen dich ein paar Sachen fragen." Jims Mine war ernst, fast schon niedergeschlagen.
"Es ist wegen Jeanny, nicht war?" Irene senkte ihren Blick und setzte sich langsam hin. Sie fuhr sich durch ihre Haare und starrte den Sentinel an. Er brauchte nicht zu antworten, Irene konnte alles an seinem Gesicht ablesen.
"Richtig, Ms. Peterson. Ihre Cousine gilt zur Zeit als vermisst." Sie schaute zu Jim auf, der wiederum zu seiner Kollegin sah. Für Irene war das Grund genug, das Schlimmste zu befürchten.
"Vermisst? Was meinen Sie mit vermisst? Ich dachte, eine Person wird erst als vermisst gemeldet, wenn sie 24 Stunden verschwunden ist." Irene war verwirrt, die beiden verschwiegen irgendetwas.
Jim fasste sich ein Herz und setzte zu einem Versuch an, Irene alles zu erklären, was sie bisher wussten, oder zumindest glaubten zu wissen. "Irene, nach dem, was wir bisher wissen, ist Jeanny gestern Abend noch mal kurz aus dem Hotel gegangen, kam aber nicht wieder." Hilfesuchend blickte er zu Megan.
"Ms. Peterson, wir haben Grund zur Annahme, dass sie Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist", half Megan aus. Sie versuchte sachlich zu bleiben, dennoch nicht kalt. Sie kniete sich zu Irene. "Wir benötigen Ihre Hilfe um diesen Mistkerl zu erwischen, bevor er Ihrer Cousine etwas antun kann. Wir wissen, dass er sie erst wegsperrt."
Wenn Irenes Gesicht zuvor noch nur ein kleinstes bisschen Farbe hatte, jetzt war es gänzlich entwichen. Sie blickte geschockt in Megans Gesicht. "Wegsperrt? Und dann? Was ist das für ein Kerl?" Ihre zittrige Stimme klang weinerlich.
"Irene, wenn wir richtig liegen, dann ist sie an jemanden geraten, der Frauen verschleppt und dann...", seine Worte blieben ihm im Halse stecken. "Er missbraucht sie und bringt sie dann um", sprach er leise weiter ohne das Mädchen anzusehen.
Irene saß einfach nur da und starrte auf den Boden. Nein, das konnte nicht sein, bitte nicht. Lass es nicht wahr sein! Sie spürte, wie eine warme Träne ihre Wange hinunterfloss.
"Ms. Peterson, wir können uns vorstellen, wie Sie sich fühlen, aber wir müssen Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen." Megan reichte ihr ein sauberes Taschentuch. Irene nahm es und schluchzte leise. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte einfach nicht wahr sein, das alles war nur ein böser Traum, aus dem sie gleich erwachen würde...
Schweigend warteten Jim, Megan und Blair in Simons Büro am Besprechungstisch. Die Stimmung war merkbar getrübt. Jim und Megan hatten Blair kurz in den Fall eingewiesen. Eigentlich hätte er erst morgen anfangen sollen zu arbeiten, aber er bestand darauf aufgrund der Lage zu helfen. Und momentan konnte ihnen jede Hilfe recht sein. Es musste jetzt sehr schnell gehandelt werden. Jede Sekunde zählte - Sekunden, die Jeanny das Leben kosten könnten.
Jim musste immer und immer wieder an Irene denken, wie sie leise weinend die Fragen beantwortete, die Megan und er ihr gestellt hatten. Er war froh, dass Megan dabei gewesen war. Sie war direkt und sachlich aber dennoch die ganze Zeit einfühlsam bei der Sache. Sie hatten von ihr erfahren, dass Jeanny gestern Mittag in einem kleinem Schnellimbiss nahe des verdächtigen Ladens gegessen hatte.
"Was ist mit den Fundorten der Leichen, hat man da nicht etwas gefunden?", versuchte Blair die trostlose Stille zu unterbrechen.
"Nein, es gab keinerlei Anhaltspunkte und da es jedes Mal andere Stellen waren, konnten wir auch keine Basis ausmachen und auch noch kein erkennbares Muster", antwortete Megan. Sie schielte zu Jim hinüber. Er schien mit seinen Gedanken überall zu sein, nur nicht hier.
Endlich betrat Simon das Zimmer. "Ok Gentlemen, was haben wir denn?" Er ging zum Stuhl am Kopf des Tisches. "Oh und Lady, entschuldigen Sie, Connor." Er setzte sich und nahm die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er blätterte kurz darin herum und betrachtete dann die langen Gesichter seiner Mitarbeiter.
"Schon eine Spur von dem Mädchen?"
"Nein, Sir", antwortete Jim ohne aufzuschauen.
"Wieso sind Sie sich so sicher, dass unser Täter die Kleine hat?", hakte Simon nach und zog ein Bild von Jeanny aus den Unterlagen hervor, das sie von Irene zur Fahndung erhalten hatten.
"Deswegen." Jim hob eine durchsichtige Plastiktüte hoch, in der ein roter Lippenstift war. Er überreichte sie seinem Captain, der niedergeschlagen den Fund musterte.
"Oh nein." Simon schüttelte den Kopf. Er hatte gehofft, der Täter würde nicht vor Anfang nächster Woche sein nächstes Opfer aussuchen.
Jim nahm die Tüte wieder an sich. Er musste noch untersucht werden, aber für ihm war klar, dass nur Jeannys Fingerabdrücke drauf sein würden, wie bei den anderen.
"Ok, Detectives. Haben wir irgendwelche anderen Anhaltspunkte?" Simon wollte nicht glauben, dass das schon alles war.
"Zur Zeit nicht, Sir, tut mir leid." Jim wirkte sichtlich bedrückt.
Das Telefon auf Banks Schreibtisch klingelte. Seufzend schritt Simon zum Gerät und nahm ab.
"Banks?" Für eine Weile war es ruhig. Alle starrten gespannt auf den Captain.
"Was? Sind Sie sich sicher? - Na schön, danke Doktor." Er legte auf und blickte besorgt zu den anderen hinüber.
"Das war Dr. Wallace. Irene Peterson scheint verschwunden zu sein, sie ist im ganzem Krankenhaus nicht aufzufinden."
Jim vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Bitte nicht! Das hatte jetzt noch gefehlt...
Blair lief im Loft auf und ab. Jim hatte ihn hier abgesetzt, als er und Megan auf den Weg zum Krankenhaus waren. "Falls Irene anruft", meinte Jim. Aber Blair wusste, weshalb: Sein Mitbewohner wollte ihn schonen.
Er blieb vor der großen Tür zum Balkon stehen. Draußen war alles in Grau gehalten und es regnete schon stundenlang. Kleine Wasserperlen flossen das Glas hinab.
Ein Klopfen ließ ihn aufschrecken. Es war nicht laut, sogar recht zaghaft. Für einen Moment überlegte Blair, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hätte. Aber da war es wieder - erneut klopfte es.
Langsam schritt der junge Anthropologe zur Tür. Er lugte durch den Spion. Sofort entriegelte er die Türe. "Irene! Mein Gott, was machen Sie denn hier!" Er trat beiseite und das Mädchen kam langsam hinein. Sie war völlig durchnässt und es triefte von ihrem grünen Krankenhauskittel, den sie noch trug. Ihre Augen waren rot und verweint.
"Kommen Sie, ich hole Ihnen eine Decke und trockene Klamotten." Er schloss eilig die Türe und führte das Mädchen zur Couch. "Mein Gott, Sie zittern ja am ganzem Körper."
Er wirbelte zur Küche und setzte einen Tee auf, bevor er kurz in seinem Raum verschwand und von sich eine trockene Jeans und ein Flanell-Hemd brachte.
"Am besten, Sie ziehen sich erst einmal etwas Trockenes über. Ich koche Ihnen in der Zeit einen heißen Tee. Sie werden sehen, gleich geht es Ihnen wieder besser."
Irene begab sich schweigend in das Badezimmer um sich umzuziehen. Blair hörte sie nur ab und zu schluchzen. Er nutzte die Zeit und rief Jim an um ihm zu sagen, dass Irene hier wäre.
Kurze Zeit später kam das Mädchen wieder ins Wohnzimmer, noch immer zitternd und geschockt. Blair war direkt mit einer Tasse chinesischem Tee zur Stelle. "Hier, danach fühlen Sie sich besser."
"Danke", flüsterte Irene und nahm das heiße Getränk. Sie setzte sich wieder auf die Couch und schlürfte an ihrem Tee.
"Ich habe Jim verständigt, er ist schon auf dem Weg."
"Danke", erwiderte Irene erneut und blickte Blair mit großen Augen an.
"Kein Problem." Er setzte sich auf die andere Couch gegenüber und schaute verlegen zu Boden.
Eine Zeit lang herrschte Stille im Loft.
Plötzlich wandte Irene sich zur Tür. Nur wenige Sekunden später kam Jim herein.
"Irene! Was machst du für Sachen!" Er rannte zum Mädchen. "Bist du soweit Ok?"
"Ja, danke", antwortete Irene.
Jim gesellte sich zu ihr und musterte sie von oben bis unten. Sie zitterte noch immer am ganzem Leib, aber sonst schien sie soweit tatsächlich in Ordnung zu sein.
"Was sollte das alles, hm?", stellte er sie zur Rede und strich ihr eine Strähne ihres nassen Haares aus dem Gesicht. Sie wich zurück und ging auf seine Frage nicht ein.
"Etwas Neues von Jeanny?", fragte sie schließlich und blickte tief in ihre Tasse.
Jim schwieg und blickte zu Blair hinüber, der teilnahmslos dabeisaß.
"Leider noch nicht, aber wir sind dem Schweinehund dicht auf den Versen, ich spüre es!" Wut stieg in ihm hoch. Für einige Minuten war es totenstill in der Wohnung.
"Wo haben Sie denn Megan gelassen?", unterbrach Blair das Schweigen.
"Sie sitzt unten im Wagen. Wir müssen gleich wieder los." Er blinzelte zu Irene hinüber. Sie zeigte keine Reaktion. "Am besten Sandburg bringt dich wieder ins Krankenhaus", bemerkte er und wandte sich zum Gehen.
"Nein", sagte das Mädchen trocken und bestimmt. "Ich werde sicher nicht wieder ins Krankenhaus gehen."
"Aber Irene, du solltest wirklich besser..."
Abrupt fuhr sie hoch und blickte dem Sentinel fest in die Augen. Er konnte ihr Herz laut pochen hören. "Ich werde nicht wieder dorthin fahren." Sie wandte sich ab und lief zur Tür.
"Irene, wo willst du hin?" Jim sprang hinterher und hielt sie zurück.
"Egal, nur nicht wieder ins Krankenhaus." Ihre Stimme vibrierte. Vorsichtig nahm der Sentinel sie in den Arm.
"Ok, du bleibst hier, mit Sandburg", flüsterte er ihr zu.
Sie nickte leicht.
"Ich muss los. Wir melden uns, so bald wir etwas Neues haben."
Er löste sich sanft von ihrer Umarmung und blickte ihr abschließend tief in die Augen, bevor er dann das Loft verließ.
Spurensicherung des CPD - 17:31 Uhr
"Jim, jetzt betrachten Sie die Leiche der jungen Hillary schon über eine halbe Stunde und haben immer noch nichts gefunden. Vielleicht sollten wir hier mal abbrechen." Ungeduldig strich Megan sich durch ihr gelocktes Haar. So lange sie schon von Jims Fähigkeiten wusste, waren die auch immer hilfreich, aber diesmal schien sich nichts machen zu lassen. Der Täter hatte keine Fehler gemacht, die sie für ihren Vorteil hätten nutzen können.
"Ich weiß, aber da muss etwas sein, Connor. Jeder macht Fehler oder hinterlässt Spuren, jeder." Jim blieb hartnäckig. Er wollte nicht so schnell aufgeben.
"Hören Sie, wir verschwenden hier doch nur unsere Zeit. Ich denke, wir sollten lieber woanders ansetzen. Schauen wir uns noch mal den Fundort der Leiche an, vielleicht..."
"Moment mal, Connor!", unterbracht der Detective sie. "Die Lupe!" Er deutete auf einen kleinen Beistelltisch, auf dem allerlei Gerät lag. Megan wunderte sich, wofür brauchte ein Sentinel eine Lupe?
"Hier!" Sie drückte sie ihm in die Hand.
"Nein, nicht für mich! Hier, schauen Sie, sehen Sie das kleine Einstichloch?" Er zeigte auf eine unscheinbare Stelle am Hals. Megan nahm die Linse und lugte hindurch, wo der vermeintliche Einstich sein sollte. Und tatsächlich, sie erkannte eine kleine rötliche Stelle, die so winzig war, dass sie mit bloßem Auge nur spärlich zu erkennen war.
"Wow, das muss eine extrem dünne Nadel gewesen sein. Doyle? Schauen Sie sich das mal an!" Sie reichte die Lupe dem Fachmann von der Spurensicherung weiter.
"Hm. Sie haben Recht. Aber der Rötung und der Schwellung nach zu urteilen, muss dieser Einstich schon Tage her sein, mindestens drei, wenn nicht vier."
"Das ist unmöglich, das Mädchen wurde erst vor knapp drei Tagen als vermisst gemeldet, sie wurde kurz zuvor noch mehrmals gesehen." Jim rieb sich die Stirn. Der Fund war scheinbar unbrauchbar - oder?
"Haben Sie die Untersuchungsergebnisse der Blutwerte schon?"
"Wir haben nur ein vorläufiges Ergebnis, aber bisher nichts Außergewöhnliches gefunden", antwortete Megan. Sie war wie immer gut informiert. "Wir dürften aber ein genaues Ergebnis in wenigen Stunden erhalten."
"Gut. Doyle, bitte geben Sie uns Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt. Ansonsten sind wir hier so weit fertig."
Doyle nickte nur kurz. Jim ging zur Tür hinaus und wartete im Flur auf Megan.
"Ok, Jim, Sie haben doch schon eine Vorahnung! Was denken Sie, könnte dieser Einstich mit unserem Fall zu tun haben?"
"Er wurde durchaus durch eine Art Nadel hervorgerufen. Vielleicht hat sich das Mädchen nur einen Schuss versetzen wollen, aber es kann doch auch sein, dass der Mörder sie erst auf diese Weise betäubt hat." Jim betrachtete kurz Megan. Setzte dann aber fort: "Allerdings würde das den Zeugenaussagen widersprechen, die fest davon überzeugt sind, Hillary noch vor vier und teilweise drei Tagen gesehen zu haben."
Megan nickte zustimmend. "Das ergibt alles keinen Sinn. Irgendwo muss da aber doch ein Zusammenhang bestehen."
"Ok, Ich schlage vor, wir überprüfen erst einmal, ob bei den anderen Opfern ebenfalls diese Wunden bestehen." Er machte sich auf den Weg zurück zum Büro um die Aufzeichnungen der Spurensicherung der vorigen Leichen zu begutachten.
Nachrichtensprecher im TV: "In den letzten Wochen ist die Zahl der vermissten Personen dramatisch angestiegen. Die jüngste Veröffentlichung der lokalen Polizeibehörde berichtet von einem weiteren tragischen Fall. Es handelt sich um ein 19-jähriges Mädchen, dass zuletzt am Freitag Abend gesehen wurde. Die Polizei schließt die Möglichkeit nicht aus, dass es sich hier um ein Verbrechen handelt..."
Irene stieg unter die Dusche. Das warme Wasser würde ihr jetzt gut tun. Sie versuchte die Berichterstattung im TV zu überhören, aber sie bekam jedes einzelne Wort mit. Sie fühlte sich hilflos und konnte dieses endlose Warten nicht ertragen. Dennoch war sie froh jemanden um sich zu haben. Blair war wirklich sehr nett und zuvorkommend, aber auch er konnte sie nicht wirklich vom Geschehenen ablenken. Sie hörte, wie er den Fernseher ausknipste.
"Ich werde uns etwas zu Essen vorbeibringen lassen, mögen Sie Chinesisch?"
"Ja, danke!" Irene musste ein wenig schmunzeln. Er kümmerte sich einfach nur rührend um sie.
Minuten später kam sie frischgeduscht aus dem Badezimmer. Der junge Anthropologe saß am Esstisch, in sein Laptop vertieft. Als er hörte, wie sie das Zimmer betrat blickte er auf und lächelte.
"Jetzt besser?", fragte er sanft.
Irene antwortete nicht, sondern lief um ihn herum und blickte auf den Computer. "Schamanismus?" Sie musterte Blair ungläubig.
Diesem schien das unangenehm und klickte die Homepage dazu weg. "Ja, ich äh... ich brauche das für meinen Unterricht." Das war gelogen, Blair. Aber wie viel kann man ihr anvertrauen? Wir kennen sie noch nicht lange...
Er hatte Nachforschungen für Jims Visionen, die er vor einigen Tagen hatte, anstellen wollen. Der Sentinel hatte ihm bei einem seiner Krankenhausbesuche von der zweiten Vision erzählt, die er hatte, kurz bevor Alex sie im Loft überraschte.
"Tut mir leid, ich wollte mich da nicht einmischen." Sie lief zum Fenster und blieb davor stehen. Still beobachtete sie die Tropfen, die an der Scheibe abperlten, sich sammelten und dann langsam hinunterflossen.
Sie hörte, wie Blair von hinten herbei kam. "Hey, Jim findet Ihre Cousine. Wenn nicht er, wer dann?"
"Ich", flüsterte sie weinerisch und schloss ihre Augen.
"Wie meinen Sie das? Sind Sie deswegen aus dem Krankenhaus entwischt und durch die Gegend geirrt? Um Jeanny zu suchen?" Er schritt näher und stand jetzt direkt neben ihr.
"Ich bin müde. Kann ich mich ein wenig hinlegen?" Sie lief an ihm vorbei und setzte sich auf die Couch.
Der junge Guide drehte sich um. "Was verheimlichen Sie vor mir?"
Irene senkte ihren Blick. "Bitte nicht jetzt, Blair. Ein andermal, Ok?"
"Na gut, ich hole Ihnen eine Decke", erklärte er nach einer kurzen Pause.
"Danke." Sie legte sich auf das Sofa und schlief direkt ein. Kurze Zeit später kam Blair mit einer Decke an. Als er bemerkte, dass sie bereits schlief, deckte er sie vorsichtig zu.
"Ich befürchte, wir werden wirklich die Auswertungen des Labors und der Computerspezialisten abwarten müssen, so kommen wir zumindest nicht weiter." Jim rieb sich genervt die Stirn. Die Fotos der vorigen Leichen waren nicht brauchbar. Das Einstichloch war an einer ungewöhnlichen Stelle, die man natürlich nicht mitfotografiert hatte, oder zumindest nicht in einer entsprechenden Nahaufnahme.
Megan stimmte ihm nickend zu, auch sie war es leid, die Fotos immer und immer wieder durchzuschauen. "Vielleicht hat unser Täter immer eine andere Stelle anvisiert", murmelte sie nachdenklich.
"Ich habe mir alle Fotos genau betrachtet, Connor. Wenn irgendwo die kleinste Wunde gewesen wäre, hätte ich die gesehen."
Verärgert betrachtete er die Fotos, ihnen rannte die Zeit davon...
Ein Klopfen an der Tür weckte sie. Sie schlug ihre Augen auf und betrachtete die Umgebung um sie herum.
Sie hörte, wie jemand leise die Türe öffnete. Blair versucht mich nicht zu wecken.
Plötzlich hörte sie einen dumpfen Knall. Aufgeschreckt fuhr sie hoch und blickte sich um. Ehe sie sich versah, bekam sie einen Schlag auf den Kopf und fiel bewusstlos auf die Couch.
Vorsichtig tastete er sich voran. Er konnte nichts erkennen, um ihn herum herrschte Dunkelheit. Seine Hände waren gefesselt. Sein Kopf schmerzte, dies musste von dem Schlag, den man ihm versetzt hatte, kommen. Er wusste noch, wie er die Türe zum Loft öffnen wollte, in der Erwartung, es wäre das chinesische Essen, dass er für Irene und sich bestellt hatte.
Irene!
"Irene?" Er erreichte eine Wand und versuchte eine andere Richtung. Schließlich stieß er auf einen Körper. "Irene, sind Sie das?" Er rüttelte leicht.
Nach wenigen Sekunden hörte er, wie die Person stöhnte. Es war eine Frauenstimme. "Blair?"
"Ja. Bei Ihnen alles in Ordnung?" Er blieb still sitzen.
"Alles Ok. Meine Hände sind mir gebunden, aber sonst... Und bei Ihnen?"
"Dito." Er hatte gehofft, seine Augen könnten sich nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnen, aber noch immer sah er nichts als diese Schwärze.
Er hörte, wie sich Irene langsam aufrichtete. "Wo sind wir?"
"Ich habe keine Ahnung."
Das Mädchen unternahm einige Schritte. "Hier hinten scheint eine kleine Öffnung zu sein."
"Was, wo?" Blair versuchte seinem Gehör zu folgen. Irene nahm ihn beim Arm und zog ihn zu sich.
"Hier, warten Sie..." Sie versuchte an der öffnung zu drücken, aber es bewegte sich nichts.
"Ich sehe nichts."
"Glauben Sie mir Sandburg, da ist etwas. Helfen Sie mir lieber." Sie warf sich gegen die Wand, in der Hoffnung, sie würde nachgeben.
"Was machen Sie da? Moment, lassen Sie mich mal." Sie ging zur Seite.
Blair nahm etwas Anlauf und warf sich mit Wucht gegen die Wand. ächzend fiel er zu Boden. Seine Schulterverletzung hatte er völlig vergessen.
Die Wand stand noch immer.
"Oh nein, tut mir leid, alles in Ordnung bei Ihnen?" Sie beugte sich zu ihm runter.
"Ja, ja. Schon gut."
"Warten Sie."
"Was denn jetzt wieder?" Er stand auf.
"Da kommt jemand." Sie entfernte sich von der Wand und zerrte Blair mit sich.
"Ich höre nichts", protestierte er und musste fast im gleichen Moment erkennen, dass Irene recht hatte.
Die Wand, die sich als Tür entpuppte, öffnete sich und es waren draußen Bäume zu erkennen. Doch es war durchaus nicht hell draußen, die Nacht lag über dem Wald. Blair konnte deutlich den Mond erkennen.
Ein Mann mittlerer Größe kam herein, er trug eine Taschenlampe bei sich und leuchtete in den Raum. Sie befanden sich scheinbar in einer kleinen Hütte.
Instinktiv lief der junge Polizeiberater los, rannte seinen Entführer um. Dieser hatte ihn scheinbar zu spät bemerkt und stürzte zu Boden.
"Kommen Sie, weg hier!", rief er Irene zu.
Beide verließen sie die Hütte und rannten so schnell sie konnten ins Dickicht.
"Verdammt." Jim legte sein Handy beiseite. Er hatte jetzt schon viermal versucht Blair im Loft und auf seinem Mobiltelefon zu erreichen.
"Vielleicht sind sie doch zum Krankenhaus gefahren und haben das Telefon nur im Auto liegen lassen", versuchte Megan ihn zu beruhigen.
"Nein, da ist etwas passiert, ich kann es regelrecht spüren." Er gab noch mehr Gas und begann bereits sich auszumalen, was alles vorgefallen sein könnte.
Abrupt hielt der blau-weiße Truck vor dem Loft. Beide eilten sie aus den Wagen in das Gebäude und rannten die Stufen zum Loft hinauf, nachdem wieder einmal der Fahrstuhl außer Betrieb war. Megan wollte bereits die Türe öffnen, aber der Sentinel gab ihr per Handbewegung zu erkennen, dass sie noch warten sollte. Er konzentrierte sich auf sein Gehör - es war niemand in der Wohnung.
Schließlich öffnete er die Tür und blickte sich um. Es gab auf den ersten Blick keine Anzeichen für einen Kampf oder ähnliches.
"Sandy? Ms. Peterson?" Megan rannte durch die Wohnung und schaute sich nach den beiden um.
"Es ist niemand hier, Connor."
"Wo sind sie aber dann? Draußen stand noch Sandys Wagen."
Jim versuchte das Loft weiter abzuscannen. "Wenn ich das wüsste..."
"Blair?" Irene rannte weiter hinter Sandburg her.
Dieser blickte sich um. "Was ist?" Er hielt inne.
"Können wir eine Pause machen? Ich kann nicht mehr." Sie ließ sich keuchend auf den Boden fallen und lehnte sich an einen Baum. Der junge Anthropologe hockte sich neben sie.
Verdammt, er hatte vergessen, dass sie erst heute aus den Krankenhaus gekommen war. Wenn es nach den Ärzten gegangen wäre, müsste sie sogar dort noch im Bett liegen. "Tut mir leid, Irene. Aber wir müssen in Bewegung bleiben..."
"Wir haben den Kerl schon vor Minuten abgehängt", unterbrach sie ihn trocken.
Blair kniff seine Augen zusammen und musterte sie misstrauisch. "Woher wollen Sie das wissen?"
"Wir sollten uns mal lieber von unseren Handfesseln befreien." Sie blickte sich um und lief dann zu einem Baum, den wohl ein Unwetter umgelegt hatte. Sie begann das Seil um ihr Handgelenk an einem hervorstehenden Stück Rinde zu reiben. Blair folgte ihr und tat ihr gleich.
"Was glauben Sie, war das für ein Kerl?", unterbrach sie die Stille nachdem sie endlich ihre Hände befreit hatte. Sie lief zu einem anderen Baum und setzte sich wieder hin.
"Ich habe keine Ahnung. Vielleicht unser gesuchter Mörder." Er rieb noch ein paar Mal und hatte dann ebenfalls die Fessel durch. Blair ging zu Irene hinüber und setzte sich neben sie. Für einige Minuten schwiegen beide.
"Ich glaube, wir müssen reden", flüsterte sie und schaute flüchtig in seine Richtung.
"Da werde ich Ihnen sicher nicht widersprechen."
Irene seufzte. Sie hatte gehofft, Jim würde das erledigen, aber scheinbar hatte es sich noch nicht ergeben und sie konnte es Sandburg auch nicht weiter vorenthalten.
"Sie hatten mich doch im Krankenhaus etwas gefragt, nicht wahr?"
"Ja, ich fragte Sie, was zwischen Ihnen und Jim wäre."
Erneut seufzte Irene und sie senkte ihren Blick. Sie holte tief Luft und hoffte, dass sie es ihm verständlich erklären konnte...
"Es muss doch irgendetwas geben, was wir unternehmen können." Frustriert fuhr sich Jim durch sein lichtes Haar. Sie konnten bisher nur erahnen, wie der Tathergang im Loft war. Noch immer hatten sie keinen Schimmer, wer Blair und Irene wohin verschleppt hatte.
"Was ist, wenn es der Vergewaltiger war?" Megan blickte in die Runde. Simon, Jim und sie saßen am Besprechungstisch im Büro des Captains.
"Das ist nicht seine gewöhnliche Vorgehensweise."
"Menschen ändern schon mal ihre Methoden, auch Vergewaltiger", erwiderte sie.
"Und warum sollte er dann auch Blair mitgenommen haben?" Simon nahm sich seine Brille von der Nase, das ganze gefiel ihm überhaupt nicht.
Jim überlegte. "Um keinen Zeugen zu haben." Er senkte seinen Blick. Wenn dieser Mistkerl sich wirklich an Irene oder Blair vergreifen würde, dann Gott bewahre, er würde sich dieses Schwein vorknüpfen.
"So oder so, wir müssen etwas unternehmen." Simon setzte sich wieder seine Brille auf.
"Aber was? Wir haben keine Anhaltspunkte. Im Loft hat die Spurensicherung nichts gefunden und es gab scheinbar auch keine Zeugen." Megan seufzte.
Der Captain erkannte die Problematik. "Wie weit sind Sie denn mit dem Fall?"
"Nicht sehr weit. Die Sache mit dem Einstichloch hat sich als Sackgasse ergeben. Wenn der Mörder tatsächlich damit die Mädchen betäubt hatte, benutzte er ein Gift, das nach kürzester Zeit nicht mehr im Organismus nachweisbar ist. Megan und ich sind jetzt schon wirklich jeder Spur, die wir hatten, nachgegangen. Vielleicht haben wir auch etwas übersehen."
Simon stand auf und klopfte seinen Detectives aufmunternd auf die Schulter. "Ok, versuchen Sie weiter dranzubleiben. Ich habe auch Taggert auf den Fall angesetzt. Wir finden die beiden schon."
=> Fortsetzung in Kapitel 3 und 4