"Hey Jim, sind Sie Ok? Ich hab von dem Vorfall heute Vormittag gehört!" Megans besorgter Ton war nicht zu überhören. Sie trat an den Schreibtisch des Detectives und setzte sich auf eine Tischkante.
Jim blickte kurz auf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Danke, mir geht es gut. Ich hätte doch beinahe als Kühlerfigur eines Porsches gedient, wenn es wenigstens ein Mercedes gewesen wäre...!"
Jetzt musste auch Blair lächeln, der neben seinem Partner am Schreibtisch Platz genommen hatte. "Also, mir wäre ein Cadillac lieber gewesen!", gab er seinen Senf dazu.
"Und bei Ihnen auch alles fit, Sandy?", wandte sich Megan jetzt an Blair. Sandy! Blair hasste es, wenn man ihn so nannte. Aber mittlerweile konnte er es sich auch nicht mehr wegdenken. Es gehörte zu Megan wie ihr australischer Akzent. "Jep, bei mir ist auch noch alles dran!"
"Henri?" Jim unterbrach das nette Geplänkel, als er Brown auf dem Flur vorüberlaufen sah.
"Ja, ich weiß, bin schon unterwegs!" Henri Brown kam in seinem unverkennbar lässigen Gang herbei. "Hier sind die Ergebnisse, so weit man hierbei von solchen sprechen kann..." Er legte Jim eine Akte auf den Tisch, direkt vor seine Nase.
"Haben Sie auch vorab eine Kurzfassung für mich?" Jim nahm sich zugleich die Akte vor und begann darin herumzublättern. Henri fing direkt an, Jim alles im Groben zu erläutern, als hätte er auf diese Frage nur gewartet: "Der blaue Käfer gehörte einer Irene Peterson."
"Ja, das konnten wir schon in Erfahrung bringen, sie kam aus dem Raum Washington!", fügte Blair ein.
Henri nickte, setzte unbeirrt seine Ausführung fort: "Sie hat sowieso noch keine Strafregister, daher ist da nicht viel zu holen. Was aber den Porsche betrifft: Ich habe mich ein wenig umgehört. Sie werden es nicht glauben!"
"Nun spannen Sie uns schon nicht so auf die Folter, Henri!" Jim rieb sich seine gerunzelte Stirn.
"Vermutlich gehörte der Wagen Larry Shawn!"
"Larry Shawn? Der letzte Woche umgebracht wurde?" Megan hatte alles mit angehört und konnte mal wieder ihre Nase nicht da raushalten.
Brown nickte zustimmend. "Der Kerl hatte wohl eine kleine Werkstatt, die ein bisschen mehr als nur gebräuchliche Ersatzteile zu bieten hatte!"
"Fraglich, ob unser Mörder Shawn des Porsche wegen umgebracht hat", murmelte Jim vor sich hin ohne von den Unterlagen vor ihm aufzublicken.
"Wenn es bei diesem einen Mord geblieben wäre, durchaus möglich, aber nicht, wenn der Mörder mit solch einer Strategie drei Personen umbringt", brachte Blair ein.
"Ganz genau, Häuptling." Jim hob seinen Blick, der sich dann mit Blairs traf.
"Gut. Connor? Ich möchte, dass Sie sich bis morgen um diesen Fall hier kümmern. Der Captain hat uns strengste Bettruhe verordnet. Was die Werkstatt betrifft..."
"Rafe und Joel sind bereits unterwegs!", warf Brown ein.
Megan blinzelte Jim erstaunt an, dann schwenkte sie ihren Blick zu Blair, der ebenfalls kaum glaubte, was er gerade gehört hatte.
"Heißt das, dass ich bei diesem Fall dabei bin?" Zuvor hatte Jim sie mehrmals ermahnt, sich herauszuhalten und jetzt übergab er ihr ihn einfach, wenn auch kurzfristig?
"Sie gehören zum Team", gab Jim widerspenstig zu, er konnte jede Hilfe gebrauchen, "aber Sie werden schön meine Anweisungen befolgen, verstanden?"
"Ok, einverstanden, kein Problem!" Megan grinste und machte sich direkt auf den Weg zu ihrem Schreibtisch.
"Ach, und Connor? Überprüfen Sie noch mal Ms. Peterson, ich werde das Gefühl nicht los, an der sei mehr dran, als wir glauben", rief Jim ihr noch abschließend hinterher und wandte sich dann wieder an seinen Partner: "So, Sandburg, dann wollen wir mal ab nach Hause, ich habe Hunger!"
Der Sentinel und sein Guide verließen den Lift und erreichten die Tiefgarage des Police Departments. Beide waren schweigend in ihre eigenen Gedanken vertieft. Dennoch drehte sich in ihren Köpfen alles um die Geschehnisse der letzten Stunden.
Jim schloss seinen Truck auf und stieg ein, Blair folgte ihm auf der anderen Seite. Nach dem Unfall waren beide separat mit ihren Wagen zum Loft gefahren. Dort hatte Blair dann seinen Volvo stehen lassen und war mit Jim weiter ins Hospital gefahren.
"Ok, Jim, wir müssen reden", unterbrach der Beifahrer die Stille, bevor der Sentinel den Wagen starten konnte. Blair vernahm ein Seufzen von Jim, doch es gab keine Widerworte.
"Sie wollten doch heute chinesisch essen, oder Häuptling? Wie wäre es, wenn wir kurz beim Chinesen halten und uns dort eine ordentliche Mahlzeit holen und zu hause werden wir dann reden?" Erstaunt blickte Blair sein Partner an, mit so einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Jim bemerkte das überraschte Gesicht seines Freundes und ließ den Motor an.
"Das klingt super, ehrlich!" Begeistert schnallte Blair sich an.
"Gut." Jim wirkte plötzlich ein wenig unruhig, als hätte er etwas auf den Herzen. "Ähm, Blair, tut mir leid wegen heute Morgen, ich war... wie von Sinnen..." Die letzten Worte waren kaum noch zu hören, es war offensichtlich, wie schwer ihm diese Entschuldigung fiel.
"Oh, ähm, ist Ok...", mehr bekam Blair nicht heraus, er war regelrecht sprachlos. Wieder musste Jim grinsen, man erlebte es nicht alle Tage, dass der Junge kein Wort herausbekam.
Das Läuten seines Handys ließ Jim kurz zusammenzucken. Noch während der Fahrt kramte er das Mobiltelefon aus seiner Jackentasche und meldete sich knapp mit seinem Namen. Er registrierte den neugierigen Blick seines Beifahrers, aber behielt die Augen konzentriert auf die Straße gerichtet.
"Oh, hallo Megan, vermissen Sie uns schon?", verschmitzt wandte er sich an Blair, der sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Für eine Weile hörte der Detective angespannt seiner Kollegin zu, mit jeder verstrichenen Sekunde schienen seine Mundwinkel ein Stück tiefer zu rutschen. "Was meinen Sie mit ‚Sie ist verschwunden’?", bellte Jim kurz darauf in den Hörer. "Ok, Connor, bleiben Sie an der Sache dran und geben Sie mir Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt!" Wütend beendete er das Telefonat, seine Mimik ließ auf nichts Gutes schließen.
"Was ist passiert, Jim?" Blair ahnte schon Schreckliches.
"Unsere kleine Miss hat sich aus den Staub gemacht. Sieht so aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen bekommen."
Seufzend warf Jim den Haustürschlüssel in die dafür vorgesehene Schale bei der Garderobe. Hinter ihm kam auch Blair herein.
"Puh!" Seine Jacke schmiss er achtlos über die Couch und erntete von Jim direkt einen bösen Blick. "Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen ergeht, aber ich werde jetzt förmlich über das Essen herfallen!" Blair lief schnurstracks zur Küche um den Tisch zu decken.
Jim ging ihm zur Hand und nach nur wenigen Minuten saßen sie am Esstisch und genossen ihre Portionen.
"Nun Jim, ich warte?", Blair blickte seinen Freund erwartungsvoll an.
"Was wollen Sie denn hören, Häuptling?"
Blair rollte mit den Augen, als gäbe es nichts zu erzählen! "Wie wäre es, wenn Sie einfach mal mit der Vision anfangen, die Sie am helllichten Tage auf den Stufen zur Uni hatten!"
Der Sentinel seufzte, er wusste genau, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. "Ich habe keine Ahnung, wieso gerade zu diesem Zeitpunkt und diesem Ort, ehrlich." Ein schiefer Blick verriet Jim, dass sein Guide ihm das nicht so recht abnahm.
Nach einer kurzen Pause forderte Blair erneut: "Schön, dann erzählen Sie doch einfach mal, an was Sie sich noch erinnern können."
Zögernd begann Jim wiederzugeben, was er behalten hatte, angefangen beim heulenden Wolf und dem stummen Dschungel bis hin zu Incacha und dem Tempel. "Und den Rest kennen Sie ja, daraufhin haben Sie mich dann wieder in die Realität zurückgeholt." Er betrachtete seinen Freund um zu sehen, wie er die Informationen verarbeitete.
"Hm. Jim, Sie sagten, in einer Ihrer vorigen Visionen war ich der Wolf?" Verdutzt schob sich Blair ein Stückchen Hühnchen in den Mund.
"Ja, richtig, das heißt, dass ich Ihnen bildlich folgen soll, wenn man Incacha Glauben schenken darf."
Für ein paar Sekunden war Stille.
"Was waren Incachas genauen Worte?"
"Wenn ich mich recht entsinne sagte er: 'Folge dem Raubtier und du wirst finden, was du suchst'."
"Genau das waren seine Worte?", hakte Blair nach.
"Ganz genau diese. Ich habe sie noch im Kopf, als wäre die Vision erst wenige Minuten her. Wieso? Was bedeutet das?"
"Was sagte er später noch mal?"
"'Beginne mit deinem Herzen zu sehen, du musst lernen dich von ihm führen zu lassen'", Jim war zum Teil selbst erstaunt, wie wörtlich er diese Sätze wiedergeben konnte.
"Ok, lassen Sie mich mal überlegen: Er hat gesagt, Raubtier, nicht Wolf! Warum glauben Sie hat er das getan, war da noch ein anderes Tier?"
Noch einmal ging Jim das ganze durch, aber er konnte sich nicht im entferntesten daran erinnern, dass dort noch ein anderes Tier gewesen sein sollte, nur der Wolf... "Sie glauben, Incacha meinte nicht Sie?" Verblüfft kniff er seine Augen zusammen, daran hatte er noch gar nicht gedacht.
"Da ist noch mehr, Häuptling." Von Jims Lippen hörte sich das wie eine Beichte an.
"Die Sache mit dem Porsche", riet Blair, der Sentinel nickte. "Wieso haben Sie den Fahrer nicht verfolgt, Jim? Ich meine, offensichtlich haben Sie es doch bemerkt, wie er sich aus den Staub gemacht hat, oder?"
"Ich weiß nicht, es war irgendwie instinktiv. Ich...", Jims Blick traf sich direkt mit dem seines Partners. Wie sollte er ihm seine Gefühle nur beschreiben? Er verstand sie ja selber nicht...
"Nun?" Ungeduldig rutschte der junge Mann auf seinem Stuhl hin und her.
"Ich...", Jim rang nach Worten, "Ich kann es nicht beschreiben, es zog mich regelrecht zu dem Mädchen hin. Als ob ich sie kennen würde, ich war richtig besorgt um sie. Und dann fühle ich mich schon seit Tagen beobachtet..."
"Einen Moment mal, Jim! Sie haben schon seit Tagen das Gefühl beobachtet zu werden und haben mir gegenüber noch nichts davon erwähnt?" Verärgert unterbrach Blair ihn mitten im Satz.
"Häuptling, ich war mir lange Zeit nicht darüber im Klaren und als ich dann noch Irene Peterson in diesem Wagen sah, kam sie mir irgendwie... bekannt vor, als wäre sie eine enge Vertraute. Es geht sogar soweit, dass ich mich für sie verantwortlich fühle!" Mit Schwung stand der Sentinel von seinem Stuhl auf, er war sichtlich verwirrt und Blair wusste warum. Er hatte die Kontrolle verloren und er hasste es die Kontrolle zu verlieren...
Mit sanftem Ton versuchte er ihn zu beruhigen: "Wir kommen schon dahinter Jim, aber Sie müssen mir alles erzählen, man. Und damit meine ich auch wirklich alles und sofort, Ok? Kennen Sie Irene vielleicht von früher, aus einem früheren Fall oder aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis?"
"Nein, nein. Ich habe das Mädchen noch nie zuvor in meinem Leben gesehen, da bin ich mir sicher." Müde rieb er sich seine Augen.
"Wie soll sie Ihnen dann aber bekannt vorkommen?" Blair begann den Tisch wieder abzuräumen, sie waren zwar noch nicht fertig, aber ihnen war beide der Appetit wohl vergangen.
"Ich habe keine Ahnung, ich hoffte, Sie könnten mir das sagen..."
"Ok Jim. Ich sage Ihnen etwas: Ich werde mich jetzt an meine Unterlagen machen und schauen, was ich herausfinden kann. Wir werden das Geheimnis schon lüften, man!" Er gab seinem stämmigeren Partner einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Dieser versuchte kurz zu lächeln, aber es wirkte nicht wirklich echt.
Blair saß bereits einige Stunden in seinem Raum am Laptop und blätterte ständig in seinen Notizen. Jim lief zuerst im Loft immer auf und ab, er hasste dieses Warten. Mit seinen Gedanken schien er weit weg zu sein. Sein Guide ließ sich nur einmal kurz blicken um sich kurz eine Erfrischung zu holen.
Schließlich ging Jim unter die Dusche. Er streifte sich gerade ein frisches Hemd über, als er ein Telefon hörte. Er zog sich fertig an und lauschte dem Klang seines Mitbewohners, wie er das Telefonat erwiderte. Aber irgend etwas stimmte nicht, der Herzschlag seines Freundes stieg rapide an. Fertig gekleidet hastete Jim zur Küche zu seinem Partner, der ihn jetzt leichenblass anstarrte. Wortlos übergab er ihm den Hörer.
"Ellison." Jim vernahm Simons Stimme, der nicht nur für die Ohren des Sentinels hörbar besorgt klang.
"Jim? Ich habe schlechte Neuigkeiten!" Jim schielte besorgt zu Blair hinüber, der mit gesenktem Blick langsam ins Wohnzimmer schlürfte und sich auf der Couch fallen ließ.
"Was gibt es denn Simon?" Er hörte seinen Captain am anderen Ende schlucken.
"Zuerst vielleicht eine gute Nachricht, Jim: Wir haben was die Mordfälle betrifft, gute Forschritte gemacht", seinen Worten war dennoch ein Unbehagen anzumerken. "Wir haben jetzt eine Hauptverdächtige." Der Sentinel hakte ungläubig nach: "Sagen Sie jetzt nicht, Irene Peterson wäre unsere Hauptverdächtige!"
"Nein, aber Sie sind näher dran, als Sie glauben!" Simon holte tief Luft, es wäre ihm lieber gewesen, wenn er es seinem Detective und dessen Partner persönlich hätte sagen können. "Wir haben vor wenigen Minuten eine Meldung aus Washington bekommen, aus der hiesigen Psychiatrie. Jim, Alex Barnes ist ausgebrochen."
Das hatte gesessen. Jim stand mit offenem Mund da, seine Augen wanderten langsam zu seinem Partner rüber, der mit dem Rücken zu ihm saß. "Weiß der Junge es?"
"Ja, ich habe es ihm gerade gesagt. Jim, nach dem, was wir wissen, ist sie seit neun Tagen auf freiem Fuß. Man hat es aber nicht für wichtig befunden, uns darüber zu unterrichten." Der verärgerte Unterton des Captains war unschwer zu erkennen. "Megan hat sich dahintergeklemmt: Wir wissen mittlerweile, dass Alex nicht nur genug Zeit hatte, die Opfer aufzusuchen, sondern es gibt einige Verbindungen: Dr. Walsh war Alex' erster Psychiater dort, aber nur für wenige Wochen. Templeton wurde insgesamt vier mal auf der Besucherliste vermerkt, vielleicht suchte sie sich Rat bei einem Fachmann. Und Shawn, na ja, der ist halt für alles zu haben, solange Geld fließt."
"Danke Simon, wir werden die Augen aufhalten", war alles, was Jim herausbekam. Er wollte bereits den Hörer auflegen, aber Simon meldete sich mit weiteren Neuigkeiten:
"Das ist leider noch nicht alles, Jim. Soweit unsere Fortschritte. Megan hat aber auch noch etwas Merkwürdiges zutage gebracht", eine kurze Pause. "Nach dem, was wir nun aus dem Fall wissen, sind wir die Sache mit Ms. Peterson noch mal durchgegangen, obwohl wir da keinen Zusammenhang mehr vermuteten. Falscher konnten wir aber wohl nicht liegen: Irene ist Alex’ Halbschwester, sie hatten eine gemeinsame Mutter." Jim verschlug es die Sprache.
"Ellison?"
"Ähm, ja Sir? Tut mir leid, das ist nur..." -
"Verrückt, ich weiß... keine Ahnung, was da vor sich geht. Ich habe Ihnen zwei weitere Beamte geschickt, die Ihre Wohnung unter Beobachtung halten und fahre jetzt mit Rafe und Taggert zu Templetons Wohnung, Officer Stants meldet sich nicht mehr, nachdem er uns gefunkt hatte, dass eine blonde junge Frau in die Auffahrt zum Haus gefahren ist."
"Ok, danke Simon und geben Sie uns bitte direkt Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt. Und Simon? ....Passen Sie auf sich auf!"
"Sicher." Mit diesen Worten beendete Simon das Gespräch.
Blair saß noch immer regungslos auf der Couch. Der Sentinel legte das Telefon ab und schlenderte zum freien Sofa, überlegte, was er sagen sollte.
"Häuptling?", er setzte sich seinem Partner direkt gegenüber. Dieser wirkte abwesend, aber nicht mehr so geschockt wie vor wenigen Minuten.
"Das ist die Lösung. Sie lag so nahe und dennoch...", Blair schüttelte den Kopf, er konnte nicht fassen, dass er diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte.
"Was ist die Lösung?" Jim runzelte die Stirn.
"Na ihr Zone-out, ihre Vision, alles wegen Alex! Verdammt, ich bin so blöd!" Er schoss auf und stampfte wütend durch die Gegend.
"Häuptling, Sie können doch nicht hellsehen. Ich hatte schon oft gezonet und auch viele Visionen. Außerdem gab es bisher keinen konkreten Hinweis auf Alex, ich sah zum Beispiel keinen Jaguar."
Verwundert musterte Blair seinen Freund. "Sie haben recht, was ist diesmal anders, als vor einem knappen Jahr?"
"Sandburg, hat Ihnen Simon eigentlich auch von Irene erzählt?"
Blair hob die Augenbraue und betrachtete seinen Partner misstrauisch: "Irene? Was ist mit der, steckt die da jetzt doch mit drin?"
"Davon müssen wir ausgehen. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass Alex' Schwester - vielmehr ihre Halbschwester - beim Anschlag beteiligt war."
"Was?", Blair glaubte nicht, was er da hörte. Halbschwester? Was hatte die jetzt mit der ganzen Sache zu tun? "Das erklärt einiges: Deswegen kommt Ihnen Irene bekannt vor, Sie haben unbewusst die Verbindung zu Alex erkannt!"
"Sie könnten Recht haben...", gab Jim grübelnd zu, "aber wie hilft das in unserem Fall wirklich weiter?"
"Jim, vergessen Sie mal für einen Moment den verdammten Mordfall, sicher steht Irene auch irgendwie damit in Verbindung, nicht zuletzt des Unfalls wegen, aber wichtig ist doch zur Zeit nur, dass wir Ihre Zone-outs und Visionen wieder in den Griff bekommen und richtig deuten!"
"Häuptling, wenn Alex auf freiem Fuß ist, dann glauben Sie doch wohl auch, dass sie zu aller erst hierher nach Cascade kommt! Und dass ausgerechnet jetzt auch noch ihre Schwester hier auftaucht, ist sicher kein Zufall. Es liegen jetzt schon genug Hinweise vor, die alle auf Alex deuten!"
Der Sentinel rannte zwischen den Bäumen des Dschungels, immer dem heulenden Wolf nach. Dieser führte ihn zu dem Maya-Tempel, der versteckt im Herzen des Urwalds lag. Das Tier lief zum Eingang und hielt kurz inne, als wollte es kontrollieren, ob der Sentinel ihm noch folge, kurz darauf verschwand es im alten Gemäuer. Jim zögerte. Misstrauisch bestieg er die Stufen zum Tempel und schlich vorsichtig hinein.
Von hinten hörte er jetzt eine vertraute Stimme: "Folge deinem Instinkt und du wirst den Schlüssel finden." Jim drehte sich um und sah seinen Guide - nun in den Kleidern, die sonst Incacha immer trug.
"Welcher Schlüssel?" Seine Worte waren kaum von den Lippen, da morphte Blair wieder in den Wolf und rannte an Jim vorbei aus den Gebäude. Der Sentinel folgte ihm hinaus, aber konnte ihn nicht mehr sehen, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Auch zu hören war er nicht.
Ein Fauchen hallte aus dem alten Gemäuer. Jim griff mit seinem rechten Arm nach hinten über seine Schulter und packte nach einem Pfeil. Mit gleichem Atemzug nahm er seinen Bogen, den er über der Schulter trug. Misstrauisch schlich er in den dunklen Tempel. Er folgte dem Geschrei des wilden Tieres und fand sich wenige Sekunden später vor einer Kammer wieder, das Geräusch kam definitiv aus diesem Raum. Mit angespanntem Bogen, schritt er schussbereit hinein. Vor ihm befand sich eine befleckte Raubkatze. Sie war größer als ein Jaguar und auch blasser. Die grünen Augen des Tieres funkelten, aber es blieb ruhig stehen. Verwirrt senkte der Sentinel seine Waffe und ging respektvoll auf das Raubtier zu, als er plötzlich Schreie von weitem hörte.
Blair!, schoss es ihm durch den Kopf.
Wie ein geölter Blitz rannte er los, beachtete sein Gegenüber nicht mehr. Er eilte aus dem Tempel und hörte weitere Schreie, doch er konnte nicht die Richtung ausfindig machen. Neben ihm stand jetzt die fremde Raubkatze. Sie blickte kurz zu ihm auf und in diesem Moment war Jim sofort klar, wo er nach seinem Guide zu suchen hatte.
Er verwandelte sich in den Panther und rannte in großen Sprüngen durch das Dickicht des Dschungels, gefolgt von dem gefleckten Tier. Schließlich entdeckte der schwarze Jaguar eine Gestalt, die auf dem Boden lag. Als er sie erreichte, sah er, dass es der Wolf war, der nun zu Blair morphte, neben ihm lag eine wilde Orchidee. Sein Körper wirkte leblos, seinem Gesicht war jede Farbe entwichen und sein toter Blick starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere.
Ruckartig schoss Jim aus seinem Bett hoch.
Blair!
Hastig riss er die Bettdecke beiseite, zog sich seinen Morgenmantel über, griff nach seiner Dienstwaffe und rannte die Stufen hinab. Bevor er die Tür seines Mitbewohners erreichen konnte, kam dieser ihm schon entgegen.
"Jim, was ist denn los? Haben Sie etwas gehört?" Blair stand mit verschlafenem Blick vor ihm. Er hatte mal wieder in seinen Klamotten geschlafen, die zerknittert waren.
Sichtlich erleichtert seufzte Jim kurz und überlegte, wie er seine Handlung seinem Freund erklären sollte. Es half nichts, er musste die Wahrheit sagen, nur Blair konnte ihm hierbei helfen. Er wusste nur noch zu gut, was das letzte Mal passierte, als er eine ähnliche Vision hatte. Nein, das durfte nicht noch einmal passieren!
Entschlossen führte Jim seinen Guide zur Couch, erneut würden sie ein langes Gespräch führen. Nachdem Simon gestern Abend ein weiteres Mal angerufen hatte, unterhielten sie sich noch gut zwei Stunden über Alex und Irene, und wo die Zusammenhänge zu den Morden zu finden wären. Wie Jim nicht anders erwartet hatte, war Alex nicht in Templetons Wohnung. Vielleicht war sie es gewesen, aber so einfach würde sie es ihnen nicht machen.
"Häuptling, ich hatte gerade wieder eine Vision." Zügig begann er zu erzählen, als galt es keine Zeit zu verlieren.
"...Und dann sah ich im Inneren des Tempels diese andere Raubkatze."
"Einen Jaguar, wie bei Alex?", fragte Blair wissbegierig nach.
"Nein, kein Jaguar, größer. Vermutlich ein Leopard. Der Zeichnung und der Farbe nach war es ein Schneeleopard."
Überrascht blickte Blair seinen Partner an. "Sie konnten also das Tier genau bestimmen?"
"Ja, aber bevor ich..."
Es klopfte an der Tür.
Jim und Blair schauten sich gegenseitig an, beide Blicke sagten das selbe: Wer könnte das zu dieser Zeit sein?
Der Sentinel stand auf und auch Blair erhob sich von der Couch. "Nein, Sie bleiben hier. Gehen Sie am besten in Ihren Raum, ich will erst einmal nachschauen, wer das ist."
"Aber Jim, das können doch nur die Beamten sein, die draußen..."
Ein weiteres Klopfen unterbrach ihn, diesmal war es energischer.
Jim griff nach seiner Waffe und lugte durch den Türspion. Blair beobachtete ihn dabei und bemerkte, wie sein Freund verwirrt zurückschreckte. "Was ist, wer ist es?", neugierig kam Blair näher.
Sein Partner blinzelte ein weiteres Mal hindurch, als würde er nicht glauben, was er da draußen sehen würde.
"Jim, kommen Sie schon, was sehen Sie?"
Stirnrunzelnd wandte Jim sich seinem Guide zu. "Es ist Irene..."
Wieder klopfte es an der Tür.
"Detective Ellison? Ich weiß, dass Sie da drin sind, nun kommen Sie schon, machen Sie bitte die Tür auf!" Irenes Stimme klang ängstlich.
"Ok, einen Moment!" Jim gab Blair ein Zeichen, er solle von der Tür zurücktreten, doch dieser dachte gar nicht daran.
Vorsichtig entriegelte der Sentinel die Tür und öffnete sie, noch immer seine Pistole in der Hand, bereit, sie im Notfall zu gebrauchen. Sein Mitbewohner stand dicht hinter ihm.
Irene huschte hinein und schloss direkt die Türe wieder hinter sich, ohne die Waffe, die auf sie gerichtet war, zu beachten.
"Ok, was wollen Sie hier?" Jim visierte das Mädchen weiterhin an. Diese bemerkte erst jetzt, dass sie bedroht wurde und wich mit erhobenen Händen zurück, soweit es mit ihrem Armverband möglich war.
"Hey, immer schön ruhig! Legen Sie bitte erst einmal Ihren Revolver weg, die Dinger machen mich immer nervös." Als sie bemerkte, dass der Cop sich nicht rührte, fügte sie noch hinzu: "Ich bin unbewaffnet! Wenn Sie Lust haben können Sie mich absuchen..." Ein nervöses Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie blinzelte zu Blair hinüber. "Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, tut mir leid. Aber ich vermute mal, Sie wissen bereits, wer ich bin. Mein Name ist Irene Peterson." Ihr Blick wanderte wieder zu Jim, der noch immer seine 38er nicht heruntergenommen hatte. "Wir haben leider keine Zeit für Plaudereien, ich bin lediglich hier um Sie zu warnen. Ich habe schon befürchtet, dass ich zu spät wäre..."
"Uns warnen, wovor?", warf Blair ein.
"Vor meiner Schwester. Ich nehme an, Sie wissen, wer meine Schwester ist?"
Die beiden Männer wechselten kurz einen vielsagenden Blick. Irene genügte das als Antwort.
"Ich habe nicht vor, Ihnen etwas anzutun, sonst hätte ich das schon längst machen können. Sie erinnern sich, der Autounfall? Also, wie wäre es, wenn Sie nun endlich Ihren Colt da wegstecken!" Verärgert starrte sie Jims Waffe an.
Vorsichtig senkte er seine Hand und steckte die Pistole weg. Sein Instinkt sagte ihm, er solle ihr vertrauen. "Was sollte die Aktion im Auto?"
Irene senkte ihre Arme und rollte verlegen ihre Augen. "Ich wollte verhindern, dass meine Schwester einen großen Fehler begeht."
"Dann war das also Alex, die im Porsche saß?", hakte Blair nach.
"Ja, sie ist seit einem Jahr wie ausgewechselt, kaum wiederzuerkennen."
"Mal angenommen, wir würden Ihnen glauben, was soll Alex denn Ihrer Meinung nach vorhaben?" Jim versuchte langsam an die Sache heranzugehen.
"Ich habe keine Ahnung, was genau sie vorhat, aber sie sagte, sie wolle etwas beenden, wozu sie das letzte Mal nicht mehr kam und etwas Weiteres richtig stellen. Ich weiß, dass sie hier irgendwo in der Nähe ist...", sie blickte ängstlich um sich.
"Wie sind Sie eigentlich an den Beamten vorbeigekommen?", wunderte sich Blair.
Verdutzt blinzelte Irene ihn von der Seite an. "Welche Beamten? Ich habe keine..."
Die weiteren Worte waren nicht zu hören, ein lauter Knall übertönte Irene.
Die Tür zum Loft fiel aus ihren Angeln und direkt auf Jim zu, dieser wich zwar zurück, aber wurde von der Tür erfasst und zu Boden gerissen. Blair schreckte zurück, vor ihnen stand plötzlich Alex, die herein gestürmt kam und sich auf Jim stürzte. Dieser war noch immer benommen und versuchte sich zu wehren, hatte aber gegenüber Alex' Überraschungsmoment keine Chance. Bewusstlos blieb er auf dem Parkett liegen.
Blair wollte ihm zur Hilfe eilen, doch bevor er sich versah, hatte Alex eine Waffe auf ihn gerichtet und der Guide hob kapitulierend seine Arme, wohl wissend, dass mit der Sentinel nicht zu spaßen war. Nachdem Alex alles im Griff zu haben schien, schielte sie zu ihrer Halbschwester hinüber, die ebenfalls bei dem Krach zurückgewichen war.
"Du kleines Miststück wolltest mir also die Show stehlen, wie?" Grob riss sie ihre Schwester zu Boden, neben Jim.
"Blair, Sie werden die beiden jetzt schön fest aneinander seilen. Und geben Sie sich Mühe, ich werde das überprüfen!" Mit diesen Worten warf sie ihm ein Seil zu. Zähneknirschend fing er es auf und beugte sich zu seinem Freund und dem Mädchen hinab. Bevor er sich aber an das Knoten machte, überprüfte er Jims Zustand. Nur bewusstlos, stellte er erleichtert fest, eine kleine Platzwunde am Kopf, die von der herabstürzenden Tür entstanden war.
"Nun machen Sie schon!" Wütend sah Alex ihn von oben herab an.
Irene setzte sich auf und half Blair dabei, Jim ebenfalls in eine bessere Stellung zu bringen.
"Alles in Ordnung?", flüsterte Blair. Das Mädchen nickte nur, sie war sichtlich benommen. Vorsichtig band Blair die beiden Rücken an Rücken aneinander, beachtete aber Irenes Verband und dass er sie auch nicht zu leicht verknotete, Alex' geschärftem Augensinn entging nichts.
Nachdem er fertig war, stand er auf und die Sentinel überprüfte sein Werk. Scheinbar zufrieden bellte sie ihn an: "Ok, und nun machen wir einen kleinen Ausflug." Sie dirigierte ihn mit der Waffe zur Tür hinaus. Blair hob wieder leicht seitlich seine Arme. "Was haben Sie mit mir vor?"
"Das werden Sie schon früh genug erfahren." Verschmitzt lächelte Alex ihn an, und drehte sich daraufhin noch einmal zu ihrer Schwester um: "Du hast mich enttäuscht, Schwesterherzchen! Aber aufgrund deiner 'Fürsorge' der letzten Jahre, belasse ich es mal hierbei!" Sie schlug mit dem Revolver Irene ins Gesicht, so dass diese bewusstlos zusammensackte.
Abrupt fuhr Jim mit weit aufgerissenen Augen auf.
Er saß auf dem Boden, hinter ihm Irene, die bewusstlos zu sein schien. Seine Hände waren mit denen des Mädchens verbunden. Zügig begann er das Seil zu lockern. "Irene? Wachen Sie auf!" Vorsichtig rüttelte er an der jungen Frau, während er weiterhin versuchte, seine Hände frei zu bekommen. Nach nur wenigen Minuten konnte er das Seil lösen. Er begann Irene ebenfalls loszubinden. Zaghaft schlug er sie ins Gesicht um sie zu wecken.
Ein leichtes Murren kam von ihren Lippen und ihre Augen flatterten langsam auf. "Gut so, wachen Sie auf, wir müssen Blair helfen!"
"Blair?" Sie stammelte den Namen wie im Halbschlaf.
"Ja, Sie erinnern sich noch? Mein Partner, der mit uns hier in der Wohnung war!"
"Natürlich kann ich mich erinnern!" Es klang beinahe so, als fühlte sie sich beleidigt.
"Sind Sie in Ordnung?" Besorgt musterte der Sentinel die Blutung an ihrem Kopf. Die alte Wunde vom Unfall war wieder aufgeplatzt.
"Hm? Ja, alles in Ordnung, nur ein bisschen Kopfschmerzen..." Sie versuchte sich aufzurichten und taumelte zur Tür.
"Hey, was...?"
"Na, Sie sagten doch, wir müssten Ihren Freund suchen, also auf! Ich hoffe, Sie wissen, wo meine Schwester ihn hin verschleppt hat?"
"Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen."
"Meine Schwester hat mir vielleicht anvertraut, wann sie ihren ersten Kuss hatte oder was für ein Parfum sie benutzt, aber leider hat sie es verpasst mir zu erzählen, wo sie entführte Anthropologen hinbringt..." Irenes Sarkasmus klang ziemlich gestellt, ihre Nervosität war ihr anzuhören. "Überlegen Sie mal! Wo könnte sie Sandburg hingebracht haben?"
Jim dachte nach, lief kurz hoch, schnappte sich seine Hose und ein Shirt, rannte, sich zum Teil noch anziehend, die Stufen hinunter zur Wohnung hinaus und zu seinem Truck, Irene folgte ihm hinunter.
"Und? Schon eine Idee, wo Ihr Partner stecken könnte?"
"Ja, eine Idee..." Das war auch schon alles, was Jim hatte, eine Art Ahnung, wo sein Guide jetzt sein könnte.
"Alex, was erhoffen Sie sich davon?" Blair versuchte seit bereits zehn Minuten auf die Sentinel einzureden, bislang erfolglos. Das Reden war Blairs einzige Waffe, die er besaß und auch gut beherrschte.
Er schielte zu der Pistole herüber, die Alex an seine Seite hielt. Sie hatte ihn gezwungen, seinen grünen Volvo zu nehmen und ihn dann dirigiert, wo er hinfahren sollte. Doch Blair war längst bewusst, wo sie ihn hinführte. Es gab nur einen Ort, wo Alex ihn haben wollte: vor der Universität.
"Halten Sie den Mund und biegen Sie die nächste Straße rechts ab", unterbrach sie grob seine Gedanken.
Blair tat, was ihm befohlen wurde. Gegen die bewaffnete Sentinel war er machtlos. Seit wann konnte sie ihre Sinne so kontrolliert halten? Nach dem Bad im Tempel der Sentinel hatten diese doch total verrückt gespielt...
Doch Blair musste sich nun eher um sein Leben Gedanken machen...
Langsam fuhr der Volvo auf den leeren Parkplatz der Uni. Er parkte auf dem erstbesten Platz, schaltete das Licht und den Motor aus.
"Gut. Und nun kommen Sie, wir haben ein Rendezvous mit dem Springbrunnen..."
"Hey, wenn Sie weiter so rasen wollen, ich kenne da eine bessere Abkürzung zum Krankenhaus, per Notarztwagen ist nicht immer der kürzeste Weg..." Irene klammerte sich an dem inneren Türgriff auf ihrer Seite. Jim schnitt erneut gefährlich eine Kurve, ließ hupende Autofahrer, die dem Truck ausgewichen waren, zurück. "Verraten Sie mir mal allmählich, wo wir hinfahren?"
Kein Kommentar von Jim, er drückte nur noch mehr aufs Gaspedal.
"Detective?", ungeduldig positioniert sich die Beifahrerin auf ihrem Sitz neu, eine weitere Kurve war in Sicht.
"Wir fahren zur Rainier Universität", gab Jim knapp von sich.
Der Wagen schnitt wieder eine Kurve und bog darauf direkt mit quietschenden Reifen in die nächste Straße ab.
"Woaw! Wenn Sie so weiterfahren kommen wir dort nie an und das ist mein Ernst!" Nach einer kurzen Pause entspannte Irene sich wieder. "Sie meinen also, meine Schwester bringt Ihren Partner zum Brunnen?"
Verwirrt schielte Jim zu ihr hinüber, konzentrierte sich dann jedoch schnell wieder auf die Straße. Wie viel wusste sie?
Alex schubste Blair zu Boden, so dass er auf die Knie fiel. Vor ihm befand sich der Brunnen. Plötzlich sah er sich wieder im Wasser, treibend... Was keiner wusste, war, dass er die ersten Sekunden sehr wohl bei Bewusstsein war, aber sich nicht bewegen konnte, seine Beine, sein Körper hatten ihm nicht gehorcht. Mit Grauen dachte er an die Nacht zurück, in der Alex ihn schon einmal aufgesucht hatte, aber damals in seinem Büro. Auch dort hatte sie ihn mit einer Pistole bedroht und ihn dazu gezwungen, sich vor dem Springbrunnen zu positionieren.
"Nein, ins Wasser! Diesmal möchte ich sie nicht wieder hineinmanövrieren müssen!" Alex gab ihm einen weiteren Schubs, so dass er beim Aufstehen in die eisige Flüssigkeit stolperte. Nein, bitte nicht schon wieder! Erneut sah er sich im Wasser, mit dem Gesicht nach unten, darauf wartend, dass ihm jemand zu Hilfe eilen würde. Aber es war niemand gekommen, da waren nur er und diese unendlich Stille, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war.
"Gut, und jetzt hinknien, die Hände auf den Rücken!" Blair wusste, jetzt würde Alex jeden Moment zuschlagen. Oder würde sie ihn dieses Mal erschießen?
Hilfesuchend blickte Blair um sich, doch er konnte nichts in der Dunkelheit erkennen, gut hundert Meter entfernt sah er die Straßenlampen. Was wäre, wenn ich schreie? Nein, das war keine Lösung, Alex würde direkt abdrücken...
Das Entladen des Revolvers ließ Blair erschauern. Sie hat tatsächlich vor mich hier zu erschießen!
Vielleicht konnte er etwas Zeit schinden... Überleg dir etwas Blair!
"Wieso haben Sie Templeton und die anderen umgebracht? Dr. Welsh war ja Ihr Psychiater, aber wieso Templeton und Shawn?" Was für einen Quatsch redete er da eigentlich? Aber es war einen Versuch wert, vielleicht war Jim schon unterwegs...
Stille. Blair kam beinahe um vor Angst.
"Templeton war ein netter Kerl, doch leider verstand er wohl nicht viel von dem, was ich bin. Bei ihm hatte ich besonders viel Spaß, er erinnerte mich immer so an Sie!"
Blair schluckte, er musste wieder an den schrecklichen Anblick des leblosen Anthropologen denken.
"Und Shawn hat geglaubt mich für dumm verkaufen zu können. Niemand kann mich für dumm verkaufen!" Sie bekräftigte ihre Worte, indem sie ihrem Opfer in die Haare fasste und ihn damit näher an sich riss.
"Hängt Irene da auch mit drin?" Blair versuchte das Thema zu wechseln um Alex nicht noch mehr zu reizen.
"Sie ist meine Schwester, Halbschwester, und nicht mehr! Die kleine Schlampe hat nur den Fehler begangen sich gegen mich zu stellen, das wird sie irgendwann einmal bereuen müssen. So, wie Sie jetzt auch dran glauben dürfen!"
Blair spürte nun den Lauf der Pistole in seinem Haar. "Aber sie ist Ihre Schwester und...", versuchte Blair weiter abzulenken.
"Sie war es, bis heute! Und jetzt Schnauze!", fiel die Sentinel ihm ins Wort. Sie drückte die Waffe fester gegen seinen Kopf, bereit abzudrücken.
Der Truck hielt am Straßenrand, nur wenige Meter vor dem Weg, der zur Universität führte. Bevor der Wagen richtig hielt, öffnete Irene bereits die Beifahrertür und sprang heraus, Jim folgte ihr. Geduckt pirschten sie sich an das Gelände heran.
"Ok, Detective. Ich weiß, Sie wollen Ihren Freund da raus holen, aber...", Irene schluckte, "aber, würden Sie bitte meiner Schwester nichts antun?"
Jim glaubte nicht, was er da hörte. Er wollte darauf etwas erwidern, aber das Mädchen kam ihm dazwischen: "Sie ist doch immer noch meine Schwester", flüsterte sie flehend.
Der Sentinel knirschte mit den Zähnen, er wusste gar nicht, ob er Alex überhaupt etwas antun konnte. Die Szene am Strand damals mit ihr kam ihm wieder hoch.
"Irene, ich tue mein Bestes." Und gleichzeitig wusste er, dass er keine Ahnung hatte, was gleich geschehen würde.
Er erkannte neben sich ein niedergeschlagenes Nicken.
Angestrengt versuchte er zu erkennen, ob sich Blair und Alex wirklich beim Springbrunnen aufhielten. Und tatsächlich, wie erwartet sah er die beiden, sein Guide im Wasser kniend, die Sentinel direkt hinter ihm, ihre Waffe auf den Kopf ihres Gefangenen gerichtet. Aufgeschreckt blickte Alex auf und schaute direkt zu Jim hinüber. Mist, sie hat uns gesehen.
"Es sieht so aus, als hätten wir Besuch", flüsterte Alex Blair ins Ohr. Dieser suchte nach seinem Freund, konnte aber nichts sehen, nur Finsternis. "Jim?", rief er in seiner Verzweiflung. Keine Antwort.
Statt dessen hörte er jetzt eine weibliche Stimme, die langsam näher kam. Er sah die Konturen einer Person auf sie beide zukommen, es war Irene.
"Was machst du hier? Ich bin mit dir fertig!", antwortete Alex erbost.
"Alicia, ich möchte dir doch nur helfen, lass mir dir helfen!" Blair erkannte, was Irene vorhatte. Würde es funktionieren?
"Komm mir nicht mit dem Geschwätz! Du hättest beinahe alles vermasselt, damit hilfst du mir sicher nicht!"
"Das meinte ich nicht, du weißt aber, wovon ich spreche! Lass uns von vorne beginnen, nur wir zwei. Wie klingt das?"
Von hinten näherte sich Jim; Blair wurde immer unruhiger. Irene war bereits bis auf wenige Meter an die beiden herangekommen. "Gib mir die Waffe und wir werden gemeinsam einen Weg suchen, wie wir dir weiterhelfen können, so wie du mir damals geholfen hast..."
"Nein!", schrie Alex heraus und riss Blair an sich und hielt ihn im Würgegriff, den Lauf der Kanone auf seine Schläfe gerichtet. Jim kam herbeigeeilt.
"Stopp oder dein kleiner Guide hier wird für immer 'Gute Nacht' sagen!" Alex’ Augen blitzten auf, Jim wusste, dass sie es ernst meinte und blieb stehen. "Und jetzt leg deine Waffe vorsichtig auf den Boden - und keine Tricks!" Jim tat, was ihm befohlen wurde, er konnte jetzt nichts riskieren. Am Vibrieren von Alex' Stimme und ihrem rasenden Herzschlag konnte er hören, dass sie sehr aufgebracht war.
"Alicia, bitte! Lass ihn los und wir können in aller Ruhe miteinander reden!", versuchte Irene es erneut.
"Wenn du Blair jetzt frei lässt, dann verspreche ich dir, werden wir dir nicht folgen, du bist dann frei!"
Erstaunt musterte Blair seinen Partner. Meinte er das im Ernst? Er konnte doch nicht eine dreifache Mörderin frei herumlaufen lassen. Alex war gefährlich, da bestand kein Zweifel!
"Es gibt nichts mehr zu bereden Irene. Und was dich betrifft, Jim: Du kannst von Glück sprechen, wenn du noch aufrecht laufen kannst, wenn ich mit dir fertig bin!" Ihre Stimme überschlug sich förmlich. Sie drückte Blairs Hals enger an sich heran, dieser schnappte nach Luft. Die Pistole drückte die Sentinel fest an seine Schläfe, noch immer schussbereit.
"Ok, wie du willst. Ich mache dir einen Vorschlag: Du lässt Sandburg und Ellison gehen und ich werde dich nach Asien begleiten. Das war es doch, was du wolltest, oder? Ohne Einschränkungen, Alicia!" Das junge Mädchen näherte sich ihrer Schwester langsam, bis sie direkt vor ihr stand.
"Du hältst mich wohl für blöd, wie? Wie soll das..." Doch bevor sie ausgesprochen hatte, schnappte sich Irene Alex' Hand, mit der sie die Waffe an Blairs Kopf hielt. Überrascht wehrte sich die Sentinel gegen den unerwarteten Angriff.
Jim rannte auf die drei zu um Irene zur Hilfe zu eilen. Im Handgemenge hörte Jim plötzlich einen Schuss, gefolgt von einem Schrei. Er sah seinen Guide zusammensacken und vornüber ins Wasser fallen. Irene stand starr daneben, blickte ins Leere. Ihre Schwester ließ geschockt die Waffe fallen. Als sie Jim auf sie zueilen sah, flüchtete sie in die Dunkelheit. Aber der Sentinel beachtete sie nicht, kniete sich vor dem Brunnen und richtete Blair auf. Vorsichtig untersuchte er, wie schwer verletzt er war. Eine Platzwunde am Kopf und ein Durchschuss an der rechten Schulter. Nichts Ernstes, solange er direkt in ein Krankenhaus kommen würde.
Neben sich hörte er Irene murmeln: "Es tut mir leid." Mit diesen Worten setzte sie sich auf den Rand des Brunnens. Der Sentinel bemerkte erst jetzt ihren raschen unregelmäßigen Atem und ihren rasenden Puls. Zuvor widmete er sich seinem Freund, holte ihn aus dem kalten Nass und drückte die blutende Wunde zu.
"Irene? Kommen Sie hier her", sagte er ruhig und hielt dem Mädchen seine Hand entgegen.
Taumelnd hockte sie sich neben Jim, der sich ihre Verletzung mit der freien Hand näher betrachtete. Sie wurde an der Seite getroffen, die Kugel musste noch in ihr stecken. "Irene, Sie müssen auf die Wunde drücken." Sanft nahm er ihre Hand und drückte sie auf die Blutung. Die junge Frau stöhnte vor Schmerzen, blieb aber tapfer bei Bewusstsein. Jim kramte sein Handy heraus und rief einen Krankenwagen herbei.
"Jim, alles in Ordnung?" Simon kam herbeigeeilt, Jim hatte ihn direkt, nachdem er im Krankenhaus angekommen war, benachrichtigt.
"Mir geht es soweit gut, Simon..." Banks wusste genau, worauf Jim hinauswollte, er brauchte nur in sein besorgtes Gesicht zu sehen.
Freundschaftlich schlug er seinem bestem Detective auf die Schulter. "Der Junge wird wieder. Ich habe gerade mit den Ärzten gesprochen, in ein paar Tagen können Sie ihn wieder zu sich nach Hause nehmen."
Der Sentinel senkte niedergeschlagen seinen Blick. "Simon, wissen Sie, was das Schlimmste am allem war? Als ich Blair erneut aus dem Wasser raus gezogen hatte... Es hatte mich alles so an damals erinnert, als...", die Worte blieben Jim im Halse stecken, er sah wieder seinen Freund vor sich liegen, wie er versuchte ihn wiederzubeleben, aber ohne Erfolg.
"Jim, Blair ist wohlauf und Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, ich bin sicher, dass Sie getan haben, was Sie konnten um Schlimmeres zu verhindern."
Traurig starrte Jim seinen Chef und Freund an. "Ich habe gar nichts getan, ich stand einfach nur da und..."
Simon hatte alle Mühe ihn zu beruhigen. "Schreiben Sie sich keine Schuld für die Taten anderer zu, das bringt doch nichts!"
"Detective Ellison? Sie wollten geholt werden, wenn einer der beiden Patienten erwacht." Ein junger Arzt stand vor dem Polizisten. Jim sprang von seinem Stuhl auf und eilte zu Blairs Zimmer, wo er zuvor schon vorbeigeschaut hatte, aber direkt von den Ärzten wieder verscheucht wurde, er stände ihnen nur im Wege.
"Nein, Detective, hier entlang." Der junge Mann führte ihn in die entgegen gesetzte Richtung. Simon folgte den beiden unauffällig, er wusste genau, wohin es jetzt ging: zu Irene Peterson, die ebenfalls glimpflich davon gekommen war. Keine beschädigten Organe, die Operation war ohne Komplikationen abgelaufen.
"Hier sind wir, bitte fassen Sie sich kurz, die junge Dame benötigt dringend Ruhe." Jim nickte zustimmend, wandte seinen Blick aber nicht von dem Mädchen ab.
Für einige Sekunden war Stille im Krankenzimmer, Irene und Jim starrten sich gegenseitig tief in die Augen, als seien sie in Trance. Simon beobachtete die beiden kurz und erkannte schnell, dass er hier fehl am Platz war. Ellison würde ihn schon informieren, wenn sich etwas Neues ergeben sollte.
"Wenn Sie noch etwas benötigen, ich warte draußen", seufzte er und verließ den Raum.
"Wie geht es dir?" Grinsend näherte Jim sich ihrem Bett.
"Leider nicht so gut, aber ich arbeite daran...", erwiderte sie und versuchte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurichten. Jim eilte ihr zur Hilfe und stützte sie von hinten. Lächelnd begrüßte Irene seine Unterstützung. "Wie geht es Ihrem Freund, Detective?" Irenes Mine wurde ernst, fast schon traurig.
"Die Ärzte meinen, er könne in nur wenigen Tagen das Hospital wieder verlassen." Nach einer kurzen Pause fügte er flüsternd hinzu: "Und Jim, wenn es recht ist."
Erneut huschte ein Lächeln über Irenes Gesicht, sie blickte in Jims leuchtend blauen Augen und beide spürten, sie dachten gerade das selbe...
Ende
Wird fortgesetzt in "Jeanny"
Vielen Dank, für's Lesen meiner kleinen Fantasien! :-) Ich würde mich freuen, wenn du mir mailst, wie sie dir gefallen haben!