Der Sentinel

Christian Lukas über eine ganz schön anspruchsvolle TV-Serie


Eine TV-Kritik zur Serie,
aus der Zeitschrift "SFX" #2, April/Mai 1997


Die Idee klingt nach einem Rip-Off des "Sechs-Millionen-Dollar-Mannes": James Ellison (Richard Burgi) kann besser sehen, schmecken, riechen, hören und fühlen als jeder andere Mensch. Hinzu kommt, dass er früher einmal ein Elitesoldat war. Seine sinnlichen Fähigkeiten und seine Eliteausbildung machen ihn zum perfekten Polizisten im Kampf gegen das Verbrechen.

In den siebziger und achtziger Jahren konnte man mit einer solchen Idee 100 Episoden einer TV-Serie füllen; doch betrachtet man solche Plots heute, wirken sie eher peinlich als sonderlich intelligent.
Eine solche Einschätzung trifft auf die Serie "Der Sentinel" allerdings nicht zu. Tatsächlich gehört die actionorientierte Serie (überraschenderweise) zu der eher seltenen Gattung intelligenter TV-Unterhaltung. Nicht, dass die Geschichten sonderlich aufregend wären. Der Pilotfilm beispielsweise zitierte aus "Speed", Teil zwei war ein Remake des dritten "Stirb langsam"-Filmes... Was "Der Sentinel" dem Zuschauer jedoch abverlangt, ist Cineliterarität, das Wissen um Mechanismen im Film. Als schnelle Serie für den kleinen TV-Hunger zwischendurch ist sie vollkommen ungeeignet. Sie erfordert, will man sie verstehen, ein konzentriertes Zuschauen. Dies ergibt sich aus dem Aufbau der Geschichten, die sich im Vorbild Kino und nicht am Format der TV-Serie orientieren. Damit hätten wir ein Problem: In einem Spielfilm hat man rund zwei Stunden Zeit, eine Geschichte zu erzählen. In der TV-Serie stehen dem Regisseur jedoch nur 45 Minuten zur Verfügung. Betrachtet man nun die einer Episode zugrundeliegende Geschichte als ein vollständiges Puzzle, geschieht bei der Umsetzung dieser Geschichte folgendes: Statt das Puzzle Teilchen für Teilchen zu verfilmen, beschränken sich die Regisseure bei der Umsetzung der Geschichte auf das Herausfiltern der wichtigsten Handlungsfragmente. Die für das Verständnis des Gesamtbildes notwendigen Stücke werden visualisiert, der Rest des Puzzles bleibt unverfilmt. Vom Zuschauer wird nun Verständnis für das Genre des Actionfilms verlangt: welche Reaktionen folgen auf welche Handlungen, welche Aktion folgt welcher Reaktion. Besitzt der Zuschauer diese Cineliterarität, dann spielt sich der unverfilmte Teil der Geschichte automatisch im Kopf ab. Auf diese Art und Weise entsteht eine ungemein rasante Erzählstruktur, der es gelingt, die Handlung eines Actionspielfilms auf das Format einer TV-Serie zu reduzieren.

Die Idee, die "Sentinel" zugrundeliegt, stammt aus der Welt der Mythen und macht sie für den Freund des phantastischen Genres interessant: "Der Sentinel" basiert auf Aufzeichnungen des englischen Forschers Richard Burton, der Ende des 19. Jahrhunderts lebte. Burton berichtet in einem seiner Bücher über ein Phänomen alter Stammeskulturen: Diese Kulturen verfügten über einen Wächter, der um die Siedlung des Stammes patrouillierte und für diesen Dienst wegen seiner besonders geschärften fünf Sinne ausgewählt wurde. Dies sei eine vererbbare Gabe gewesen, behauptete Burton, die durch das Leben in der Wildnis noch verstärkt wurde.

Einen Beweis für Burtons Beobachtungen gibt es nicht. Doch die beiden Produzenten Danny Bilson und Paul de Meo ("Der rote Blitz") nahmen sich der Geschichte an und erschufen so "Der Sentinel".

Die Hauptrolle spielt der Soap-Opera-erfahrene Schauspieler Richard Burgi. Seine Filmographie umfasst Serien mit solch erwartungsvollen Namen wie "Another World", "Days Of Our Lives" oder "As The World Turns" und "One West Waikiki". Trotz fehlender Erfahrungen im Actiongenre verkörpert Burgi seine Figur jedoch überzeugend. Er trifft die ruhige Bilance zwischen Rationalität und dem Verstehen des Phantastischen. Sein Ellison ist Rationalist. Doch dieser Rationalist besitzt die Fähigkeit, seine außergewöhnliche, quasi übernatürliche Begabung, als einen Teil seiner selbst in die rationale Welt, in der er lebt, einfließen zu lassen.

Dass dies funktioniert, ist natürlich vor allem ein Verdienst der verschiedenen Autoren. Sie haben einen Grad gefunden, auf dem sich die Serie zwischen Phantastik und Action bewegen kann. Die gestärkten Sinne des Sentinel werden von den Autoren nicht überstrapaziert, indem sie der Hauptfigur nun in jeder Szene als Hilfe aus Krisensituationen dienen. Das phantastische Motiv wird somit zu einem unverzichtbaren, nicht aber allumfassenden Teil der Handlung.




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