Disclaimer: Jim und Blair gehören nicht mir, sondern Pet Fly Productions und Paramount Pictures.

Wie immer ein ganz herzliches "Dankeschön" an Pat für's Beta, für ihre wertvollen Anregungen und Tipps und für ihre unschätzbare Hilfe beim Feilen so manch "holpriger" Szene.

Im Schneesturm

von Sinaida



Teil 1


"Vielleicht sollte ich doch noch mal schnell unter die Haube schauen, was meinst du?"

Blair warf seinem neben ihm sitzenden Partner einen fragenden Blick zu, die Finger seiner rechten Hand tappten nervös an den Griff der Beifahrertür des Wagens. Seine Linke tastete nur halbherzig nach die Taschenlampe in seinem Schoß.

Jim Ellison zuckte mit den Schultern und erwiderte, mit der erzwungenen Ruhe eines Mannes, der dieselbe Frage schon zig Mal gehört und beantwortet hatte:

"Glaubst du, dass du jetzt, in völliger Dunkelheit und *diesem* Schneesturm, etwas findest? Etwas, das du bei den letzten beiden Malen übersehen hast, Sandburg?" Er schnappte sich die Taschenlampe aus Blairs Hand, schaltete sie ein und bemerkte, angesichts des schwächlichen, gelblichen Glimmens, ironisch: "Damit, vielleicht?"

Ein greller Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Das mitternächtliche Wintergewitter war ungewöhnlich heftig. Zudem schien sich das Heulen des Windes zu verdreifachen und verlieh Jims Worten zusätzliches Gewicht.

"Ja, schon klar." Blair fuhr sich mit den Fingern durch die feuchten Haare und protestierte nicht einmal, als Jim die batterieschwache Lampe mit einer endgültigen Geste im Handschuhfach verstaute.

"Wenn es mein Volvo oder unser Truck wäre, dann hätte ich vielleicht herausgefunden, woran es liegt. Aber bei dieser französischen Kiste hier … " Er versetzte dem Bodenblech unter seinen Füßen einen Tritt. "Ich hatte gleich so ein übles Gefühl als Officer Collins uns diesen Blechhaufen als das ‚perfekte und meistverlangte Ersatzdienstfahrzeug' anpries."

Blair schnaubte verächtlich. "Als würden die Cops in Spokane Schlange stehen, nur um einen Blick auf dieses Wunder der Technik zu erhaschen. Und dann das … Ich meine, es war ja noch nicht einmal ein richtiger Crash und man sieht auch nicht wirklich viel, außer dieser kleinen Delle über der Stoßstange. Ich versteh' gar nicht, warum er nicht mehr anspringt und …"

"Sandburg, bitte." Jim rieb sich die Stirn. "Das hatten wir bereits. Find dich einfach damit ab, dass du eben kein Autoflüsterer bist, okay? Sonst wäre der Truck jetzt nicht in der Werkstatt, sondern du hättest ihn durch Handauflegen geheilt. Und …" Er bedachte seinen Freund mit einem fragenden Stirnrunzeln. "Seit wann ist es *unser* Truck?"

Blair grinste. "Ich benutze ihn, du benutzt ihn. Also: ‚Unser' Truck." Sein Grinsen wurde breiter: "Aus demselben Grund: ‚Unser' Badezimmer und ‚unsere' Küche, aber ‚meine' Boxershorts und ‚deine' Socken."

Jim lachte leise. "Okay, Chief, schlimm genug, dass wir hier festsitzen. Könnten wir also bitte Diskussionen über Gütertrennung und Unterwäsche auf später verschieben und einfach nur still sein?" Er versetzte Blair einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm. "Ich mach' jetzt ein paar Minuten die Augen zu, warum versuchst du das nicht auch, hm?" Damit schaltete er die Innenbeleuchtung aus, klappte die Rückenlehne des Sitzes zurück, schlug seinen Mantelkragen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine ganze Haltung drückte ‚Ich-bin-nicht-mehr-zu-sprechen' aus.

Blair lächelte still in sich hinein. Jim wollte Ruhe, okay. Ein paar Minuten würde er ihm gönnen.

Der Donner grollte noch einmal, verlief sich in ein fernes Grummeln. Offenbar zog das Gewitter langsam weiter.

Sandburg war klar, dass sein Freund nicht wirklich vor hatte zu schlafen und sicher mit zwei wachsamen Sentinel-Ohren auf ungewöhnliche Geräusche draußen lauschte. Niemand würde sich ihnen unbemerkt nähern können, trotz des an- und abschwellenden Heulen des Sturmes. Nicht anzunehmen, dass es überhaupt jemand versuchen würde, bei diesem Schneetreiben. Dicke weiße Flocken fegten fast horizontal an der Frontscheibe vorbei und verringerten die Sicht auf nur wenige Meter.

Blair ließ seinen Blick durch den Fahrgastraum schweifen.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit im Wageninneren. Diffuses Mondlicht drang herein, ließ groteske Schattengebilde entstehen, verwischte Konturen, schaffte mehr Verwirrung als Klarheit. Das Fenster auf der Fahrerseite war schon völlig mit Schnee bedeckt, Jims Silhouette lediglich eine dunkle Masse gegen das etwas hellere Rechteck.

Blair blinzelte, bemüht Einzelheiten auszumachen, das Heben und Senken von Jims Brust zu erkennen. Aber je angestrengter er versuchte auf ein Detail zu fokussieren, desto mehr verschwamm sein Blick. Frustriert rieb er sich die brennenden Augen, zog seine Jacke enger um sich und drückte sich tiefer in den Sitz. Sein Unbehagen angesichts ihrer Situation, zeitweilig durch das freundschaftliche Geplänkel gebannt, kehrte zurück.

In einer scharfen Linkskurve auf der Landstraße zwischen Spokane und Cascade waren sie ins Schleudern geraten und scheinbar wie im Zeitlupentempo auf einen der Bäume am Straßenrand gerutscht. Seitdem weigerte sich der Motor des Renault standhaft anzuspringen.

Jim trug es, nach ein paar vergeblichen Versuchen und einer Reihe von Flüchen, mit Fassung. Sein einziges Problem schien darin zu bestehen, seinen Partner ohne Anwendung körperlicher Gewalt ruhig zu stellen und davon abzuhalten alle paar Minuten die Tragik ihrer Situation durchzusprechen oder aber abenteuerliche Reparaturversuche zu unternehmen.

Blair seufzte. Seine Begeisterung, gerade jetzt noch einmal die relative Wärme des Wagens zu verlassen, hielt sich im Grunde genommen ja auch in Grenzen. Draußen erwarteten ihn nur Nässe und Kälte.

Beklommen spähte er durch die teilweise beschlagenen Scheiben. Die Aussicht, die sich ihm bot, war nicht gerade ermutigend. Der Wind hatte gedreht, schien jetzt von allen Seiten gleichzeitig an dem Fahrzeug zu reißen. Im Licht des Vollmondes, das ab und zu durch die Wolken brach, tanzten Schneeflocken wild in einem ungeordneten, verwirrenden Reigen und gaben gerade mal ein paar Meter Blick auf die Landstraße frei, die inzwischen unter einer weißen, kalten Decke begraben lag.

Die Bäume am Straßenrand schwankten bedrohlich in den reißenden Sturmböen, die heulend mal durchs Unterholz, mal durch die Wipfel schossen, als wären sie lebendige Wesen, die auf Zerstörung aus waren. Ab und zu entledigte sich einer der Äste über ihnen seiner nassen Last und ließ eine kleine Schneeladung auf das Autodach prasseln.

Nein, jetzt den Wagen zu verlassen war wirklich keine gute Idee. Es war auch vorher schon keine so gute Idee gewesen, mit dünnen Turnschuhen und ohne Mütze durch den Schnee zu stapfen um vergeblich zu versuchen, den Motor wieder in Gang zu bekommen.

Blair rieb seine kalten Hände um wieder etwas Wärme in die Finger zu bekommen und ließ sie dann in den Ärmeln seiner Jacke verschwinden.

Das Heulen des Windes sank kurzzeitig zu einem gespenstischen Raunen und Wispern herab nur um gleich darauf wieder mit unverminderter Kraft loszubrechen.

Die Stille im Wageninneren wurde unerträglich. Blair fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar.

"Vielleicht solltest du's noch mal versuchen", hob er schließlich an und versetzte Jim einen leichten Rippenstoß, als sein Freund keine Anstalten machte zu reagieren.

Jim seufzte, rieb sich mit den Händen über das Gesicht und folgte Blairs Blick zum Zündschloss. Ohne sich aufzurichten drehte er mit einer beiläufigen Handbewegung den Schlüssel. Nichts, außer dem gleichen, entmutigenden, metallischen Klicken, genau wie beim letzten Versuch.

Er warf seinem Beifahrer einen angelegentlichen Blick zu. "Zufrieden?"

"Nein, eigentlich nicht." Blair seufzte. "Aber es *ist* die Zündung, jetzt bin ich mir sicher. Vielleicht sollten wir …"

"Sandburg", unterbrach Jim ihn bestimmt und sah ihn fest an. "Wir sollten genau eins tun. Hier bleiben und warten, bis der Abschleppwagen kommt. Keine weiteren Experimente. Das Auto springt nicht an, wir finden den Grund nicht, draußen tobt ein Schneesturm, also bleiben wir drinnen. Wo ist das Problem?"

"Mann, ich hasse es einfach, untätig rumzusitzen. Wir müssen doch irgendwas tun können."

Frustriert warf Blair einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es kam ihm vor, als hätte Jim schon vor einer Ewigkeit über Funk ihre Position durchgegeben, dabei war es erst eine halbe Stunde her. Also hieß es warten.

Sie waren nicht die einzigen Autofahrer, die von dem plötzlich hereinbrechenden Schneegewitter überrascht worden waren und nun festsaßen. Die Straße, auf der sie sich befanden, war etwas weiter südlich infolge einer Massenkarambolage vorerst komplett gesperrt. Abschleppdienste und Feuerwehren hatten, wie die nette weibliche Stimme der Zentrale ihnen bedauernd mitgeteilt hatte, alle Hände voll zu tun.

"Tun wir. Wir warten."

"Haha." Unruhig rutschte Blair im Autositz herum und bewegte die Zehen in seinen nassen Turnschuhen. "Es ist saukalt."

"Chief", Jim klang etwas versöhnlicher. "Draußen ist es noch kälter. Es schneit und stürmt. Hier sind wir jetzt am Besten aufgehoben. Und was das Frieren angeht …" Er warf einen prüfenden Blick in den Fußraum der Beifahrerseite, doch bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, hob Blair in einer abwehrenden Geste die Hände.

"Oh nein, Jim, keine Chance! Ich weiß, ich weiß, Ranger-Überlebensregeln Nummer eins und zwei:‚Kalte Füße - überall kalt' und ‚Runter mit den nassen Sachen'. Aber - was, wenn wir hier schnell raus müssen? Ich werde nicht, auf keinen Fall, jetzt, barfuss hier rumsitzen. Das widerspricht *meinen* Überlebensinstinkten, okay?"

Amüsiert schüttelte Jim den Kopf. "Okay. Offensichtlich ist dir noch nicht kalt genug."

Blair schnaubte nur und bemerkte nach einem Moment des Schweigens: "Was, wenn die Straße auch in die andere Richtung unpassierbar ist und wir stecken mittendrin?"

"Nicht sehr wahrscheinlich."

"Aber auch nicht ganz unwahrscheinlich."

"Denk positiv, Chief."

"Sicher, Mann, immer." Blair zog eine Grimasse, atmete tief durch und versuchte es sich in dem schmalen Sitz so bequem wie möglich zu machen. Warum nur, hatten sie sich zu dieser europäischen Sardinenbüchse überreden lassen? Der Innenraum war winzig, schien angesichts der inzwischen völlig beschlagenen Fenster immer mehr zu schrumpfen. Vor seinem geistigen Auge sah Blair das Rot des Wagens unter einer alles erstickenden weißen Decke verschwinden. Schnee verstopfte sämtliche Ritzen, schloss den engen Raum in den sie saßen hermetisch ab. Das Atmen wurde immer schwieriger, die Luft wie dickflüssiger Sirup, nicht genug Sauerstoff und...

Blödsinn!

Verdammt, seit wann zählte Klaustrophobie zu seinen Problemen?

Er schloss krampfhaft die Augen und zwang sich dazu, einen tiefen, langen Atemzug zu nehmen.

"Sandburg, alles okay?" Jims Stimme klang ehrlich besorgt.

"Jaja."

Reden half, Reden war gut. Der Klang seiner eigenen Stimme allein war schon beruhigend. Wenn er es schaffte Jim in ein Gespräch zu verwickeln - noch besser. Ein unverfängliches Thema, vielleicht.

"Schade, dass ich Naomi verpasse. Ihre zwei Stunden Aufenthalt am Cascade Airport sind in vierzig Minuten vorbei." Er bedachte Jim mit einem schiefen Lächeln. "Nicht anzunehmen, dass wir bis dahin wieder in Cascade sind, richtig? Selbst dann nicht wenn der Abschleppwagen innerhalb der nächsten fünf Minuten kommt. Oder sonst irgendein Wagen."

"Tut mir Leid, Chief", bemerkte Jim mitfühlend.

"Ach, schon okay." Blair winkte ab und zuckte betont gleichmütig die Schultern. "Ich habe schon so oft vergeblich auf Naomi gewartet, sie wird es überleben mal auf mich zu warten." Er starrte auf das Seitenfenster zu seiner Rechten ohne es wirklich zu sehen und nagte an der Unterlippe. "Aber sie wird sich Sorgen machen. So ein Mist, dass das Handy hier nicht funktioniert. Und später sitzt sie im Flieger."

Gedankenverloren wischte er mit dem Jackenärmel das Kondenswasser von der Scheibe und blickte hinaus. Angestrengt versuchte er in dem dichten Schneetreiben etwas zu erkennen, doch er konnte noch nicht einmal bis zur anderen Straßenseite sehen. Ein einzelner, greller Blitz zuckte über den Nachthimmel und zerriss die Dunkelheit. Blair schloss für einen Moment geblendet die Lider. Als er sie wieder öffnete, starrten ihn ein Paar große, dunkle Augen an.

Wenige Zentimeter vor der Scheibe schwebte ein blasses, rundes Kindergesicht.



Teil 2


Blair fuhr vom Fenster zurück als hätte er sich verbrannt. "Jim!" Er tastete nach dem Arm seines Freundes und krallte seine Finger in dessen Mantelärmel.

"Chief, was ist los?" Jim schreckt hoch und knipste die Innenbeleuchtung an.

Blairs Kopf ruckte herum.

Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Partner an und deutete wortlos auf das Fenster. Das Herz hämmerte ihm bis zum Halse und er versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sekundenlang war er wieder der kleine Junge, der sich monatelang weigerte in den Spiegel zu blicken, aus Angst, dort jemand anderen, aber nicht sich selbst zu sehen.

Jim warf lediglich einen kurzen Blick in die angegebene Richtung und wandte sich dann wieder Sandburg zu. "Was *ist*?", drängte er.

Seine Hand lag auf Blairs Bein, warm und real und beruhigend und verscheuchte den Moment irrationaler Panik, den der Kindheitsalptraum in ihm ausgelöst hatte.

Albern, wirklich.

Ein kleines Mädchen, weiter nichts.

Ein Kind, da draußen im Schneesturm.

Allein.

Sie brauchte Hilfe.

Blair riss sich zusammen und fand die Sprache wieder. "Da draußen ist jemand!"

Jim beugte sich etwas vor und spähte an Sandburg vorbei aus dem Fenster.

"Ich sehe niemanden."

Ungeduldig löschte Blair das Licht am Wagenhimmel und starrte wieder aus dem Fenster. "Hier ist …."

Er verstummte.

Draußen bot sich ihm lediglich das inzwischen allzu vertraute Bild. Nichts als wirbelnde Schneeflocken.

Das Kind war verschwunden.

"Verdammt, sie wird da draußen erfrieren." Blair stieß die Beifahrertüre auf und hielt sie am Griff fest um zu verhindern, dass der Sturm sie ihm aus der Hand riss.

"Sandburg, was tust du da?"

Blair schob sich aus dem Auto. Den Kopf zum Schutz vor dem eisigen Wind gesenkt, suchte er die Umgebung mit Blicken ab. Schneeflocken, schmerzhaft wie Nadelstiche, zwangen ihn, die Augen zusammenzukneifen. Eiskristalle stachen in sein ungeschütztes Gesicht und brannten auf der Haut. Er wandte sich wieder ins Wageninnere.

"Jim, da war eben ein kleines Mädchen am Auto. Vielleicht haben ihre Eltern auch eine Panne oder sind verletzt. Wir müssen sie finden! Sie erfriert sonst." Er schlug die Tür zu und schob die Hände in die Jackentaschen.

"Ich habe nichts gehört oder gesehen. Bist du sicher, Sandburg?" Trotz des deutlichen Zweifels in seiner Stimme stieg Jim aus dem Auto. Die Schultern gegen den Sturm hochgezogen, hüllte er sich fester in seinen Mantel. Blinzelnd versuchte er in dem Schneetreiben etwas zu erkennen.

"Ja, Mann. Ganz sicher. Sie stand direkt vor der Seitenscheibe und hat mich angesehen." Ungeduldig rieb sich Blair den Schnee aus dem brennenden Gesicht und trat neben seinen Freund.

"Da!" Mit festem Griff packte Jim Sandburgs Schulter und deutete auf eine Stelle unter den Bäumen. Tatsächlich, dort stand eine kleine Gestalt in einem dunklen Kapuzenmantel. Langsam hob sie die Hand und winkte ihnen auffordernd zu.

"Sie muss verdammt schnell sein", bemerkte Jim und lief los, in Richtung des Kindes.

Die Kleine drehte sich um und rannte tiefer in den Wald hinein.

Jim blieb so plötzlich stehen, dass Blair, der ihm dicht auf dem Fuß folgte, in ihn hineinlief.

"Was ist, Mann?"

Statt einer Antwort musterte Jim die Schneedecke vor ihnen. Mit der Hand rieb er sich über die Augen, drehte sich um und ließ seinen Blick auch über den schneebedeckten Boden hinter ihnen gleiten. Seine Nackenhaare richteten sich auf.

"Komm schon, wir verlieren sie sonst!" Keuchend versetzte Blair seinem Partner einen auffordernden Klaps auf den Oberarm und setzte sich in Bewegung.

"Warte! Nein!"

Jims Ruf ging im Tosen des Sturmes unter. Sandburg drehte sich im Laufen kurz um und gestikulierte wild in Richtung des Mädchens.

"Verdammt." Schnell setzte Jim ihm nach. Der frisch gefallene Schnee klebte in dicken Klumpen an seinen Schuhen und erschwerte das Laufen. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er das Kind, bemüht sie trotz des dichten Schnees im Blick zu behalten. Die dunkle Farbe ihres Mantels hob sich kaum von den Bäumen ab, verschmolz mit dem Hintergrund. Jims Sicht verschwamm etwas und er blinzelte kurz.

Das Kind verschwand.

Vor ihm wurde Blair langsamer und blieb dann ganz stehen. Mit ein paar Schritten war Jim neben ihm.

"Wo ist sie hin?" Sandburg rang nach Luft. "Jim, wir müssen …"

"Ich seh' sie auch nicht mehr, Chief. Warte …"

Blair blinzelte und wischte sich den Schnee aus den Augen. "Okay, okay, gebrauch deine anderen Sinne, Mann, komm schon. Konzentrier dich auf ihren Atem, ihren Herzschlag, das Stapfen ihrer Füße im Schnee, das …"

"Psst! Was glaubst du, was ich gerade tue, Sandburg?" Jim lauschte angestrengt, versuchte die Geräusche des Kindes durch das Jaulen des Windes herauszufiltern. Doch alles was er hörte, war das Hämmern seines und Sandburgs Herzens und ihr keuchender Atem.

"Ich höre sie nicht." Er rieb sich die Stirn. "Natürlich, wie auch?"

"Komm schon", drängte Blair neben ihm. "Versuch's noch mal. Sie kann noch nicht weit sein und …"

Jim schüttelte den Kopf. Seine Hand schloss sich um Blairs Unterarm und er deutete auf die makellose, unberührte Schneedecke vor ihnen.

Die anfängliche Verständnislosigkeit in Blairs Augen wandelte sich in ungläubiges Entsetzen. Fröstelnd schlang er die Arme um den Körper. "Das … das gibt's doch nicht."

Jim nickte. "Keine Fußspuren, Sandburg." Er drehte sich um und wies auf ihre eigenen verwehten, aber noch deutlich erkennbaren Abdrücke. "Nur deine und meine."

Blair lachte nervös auf. "Und? Das heißt? Sie ist ein Geist, oder was? Eine Halluzination? Und will gestrandete Autofahrer in den Wald locken?"

Einen letzten, suchenden Blick auf den Waldrand werfend erwiderte Jim: "Wer oder was auch immer sie ist, wir sollten schleunigst wieder zum Auto."

"Kein Widerspruch, Mann. Das ist unheimlich." Blair schüttelte sich. So schnell wie möglich stapften sie in die Richtung zurück aus der sie gekommen waren, ihrer eigenen Spur folgend, die Jim fest im Auge behielt. Der Sturm ließ langsam nach, dafür schneite es jetzt umso heftiger. Blair warf im Laufen immer wieder hastige Blicke über die Schulter zurück und blieb Jim dicht auf den Fersen.

Der Wagen war noch nicht zu sehen, stand wohl hinter einer Biegung von der Jim sich aber nicht erinnern konnte, sie vorhin genommen zu haben. Er konzentrierte sich um im Schneegestöber die Spur nicht zu verlieren und achtete darauf, dass Blair nicht zurückblieb.

Der Rückweg kam ihm plötzlich ungewöhnlich lang vor. Hatten sie sich tatsächlich so weit vom Wagen entfernt?

Er hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden.

Was, wenn sie am Ende der Spuren nicht das Auto, sondern eine kleine Gestalt in einem Kapuzenmantel erwartete?

Entschlossen schüttelte er den beklemmenden Gedanken ab und konzentrierte sich darauf in dem schweren, feuchten Schnee vorwärts zu kommen. Die Augen fest auf den Weg gerichtet, ließ er sein Gehör schweifen und lauschte. Doch da war nichts, außer dem Raunen des Windes, dem Knirschen ihrer Schuhe im Schnee und ihren eigenen schweren Atemzügen.

Plötzlich drang ein bedrohliches Geräusch an sein Ohr, ließ ihn inne halten und aufblicken. Es kam aus der Richtung, in die sie liefen. Das gequälten Knarren und Ächzen von schwer beanspruchtem Material, kurz darauf ein ohrenbetäubendes Krachen. Dann Stille.

"Was …?" Blair zuckte zusammen, blieb wie angewurzelt stehen und sah sich hektisch um.

"Verdammt!" Jim beschleunigte seinen Schritt und zog Blair hinter sich her.

Nach ein paar Metern tauchte die Straße aus der Dunkelheit auf. Durch den Vorhang aus dicht fallendem Schnee sah Jim, was geschehen war.

Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich.

Ein Baum war unter der Belastung durch nassen Schnee und Sturm zusammengebrochen und lag quer zur Straße am Waldrand. Unter seiner dichten Krone blickte stellenweise noch das auffallende Rot des Renaults hervor. Der Baumstamm hatte das Dach direkt über den beiden Vordersitzen völlig zerquetscht.

"Scheiße." Zögernd näherte sich Blair dem Wrack.

"Du sagst es." Jim nickte grimmig.

Langsam drehte er sich um und blickte in den Wald zurück.

Blair begutachtete das zerquetschte Fahrzeug von allen Seiten und zog scharf den Atem ein. Mit zitternden Fingern fuhr er sich durchs Haar. "Mein Gott", murmelte er "Die Kiste ist Matsch. Reines Glück, dass wir nicht da drin waren."

"Reines Glück?" Jim rieb sich mit der Hand über das Gesicht. "Denke ich nicht, Chief." Seine Augen waren noch immer auf den Wald gerichtet in dem das Mädchen verschwunden war.

Überrascht sah Blair auf und folgte der Blickrichtung seines Freundes. Seine Augen weiteten sich.

"Du meinst …?"

Ihre Blicke trafen sich.

Jim nickte.

Ein zögerndes Lächeln erschien auf Blairs Gesicht. "Ja, Mann, du hast wohl Recht."

Nach einem Moment des Schweigens deutete er auf das Autowrack. "Und was machen wir jetzt?"

Jim neigte den Kopf leicht zur Seite, einen etwas abwesenden Ausdruck auf dem Gesicht und lauschte. Seine Miene hellte sich plötzlich auf. "Wir lassen uns von dem Auto mitnehmen, das gleich hier sein wird."




Es war nicht irgendein Auto, sondern der örtliche Sheriff, der die Straße auf Sturmschäden hin inspizierte.

"Mach ich immer sofort nach so `nem Unwetter. Hier kracht's manchmal ganz schön, wegen der vielen Kurven. Das ist eine wichtige Verbindungsstraße zwischen Spokane und Cascade. Die muss passierbar sein. Da darf nix lange liegen bleiben." So wie Sheriff Koslowski klang, war das die wichtigste Straße der Vereinigten Staaten überhaupt und der tragende Pfeiler der Infrastruktur des Landes.

Blair unterdrückte ein Grinsen und beobachtete mit morbider Neugier wie der Mann sich und seine hundert Kilo Übergewicht mit sichtbarer Anstrengung aus dem Dienstwagen hievte. Schnaufend begutachtete der Sheriff das Wrack des Renaults und den umgestürzten Baum und verständigte dann über Funk die Feuerwehr.

Schließlich wandte er sich an Jim und Blair: "Okay, ihr Zwei, ihr könnt bei mir mitfahren und in meinem Büro warten bis die Jungs von der Feuerwehr mit dem Baum fertig sind und der Abschleppwagen eure rote Gefahr zum nächsten Schrottplatz schleifen kann." Das dröhnende Lachen über seinen eigenen Witz ging in einen Hustenanfall über. Aus der Tasche seiner speckigen Jacke kramte er eine Handvoll mit Flusen verklebter Bonbons und warf sie sich in den Rachen.

"Danke, Sheriff." Jim unterdrückte nur mühsam einen aufsteigenden Würgreiz. Von Koslowski ging ein säuerlicher Geruch nach ranzigem Fett und Schweiß aus.

"Da kriegt ihr auch einen Kaffee, zum Aufwärmen."

Blair lächelte strahlend. "Na, das klingt aber gut. Nicht wahr, Jim?"

"Sehr gut", bestätigte Jim und wagte nicht daran zu denken, wie die Tassen wohl aussehen mochten, in denen der Kaffee serviert wurde.

"Dann mal los." Koslowski versetzte Blair mit seiner Pranke einen Schlag auf die Schulter, der ihn fast in den Schnee befördert hätte, und bedeutete den beiden im Fond des Wagens Platz zu nehmen.

"Sheriff, eine Frage", begann Blair zögernd während er nach dem Gurt tastete um sich anzuschnallen.

"Ja, mein Sohn?"

Neben ihm unterdrückte Jim, angesichts dieser salbungsvollen Anrede, ein Schmunzeln. Blair versetzte ihm mit dem Ellbogen einen leichten Stoß in die Rippen.

Unbeirrt fuhr er fort. "Wir … also, wir hatten da vorhin im Wald ein … ähm … etwas seltsames Erlebnis."

Koslowskis gab ein fragendes Brummen von sich und Blair sprach weiter:

"Wir haben ein kleines Mädchen gesehen. An unserem Auto. Sie ist vor uns weggelaufen und dann … also …" Er suchte nach Worten. "Also … plötzlich war sie verschwunden. Wir sind ihr hinterher, aber sie war … wie gesagt, plötzlich einfach weg und … ähm …" Er hob die Hände in einer hilflosen Geste und fügte mit einem unsicheren Auflachen hinzu: "Naja, sie hatte auch keine Fußspuren hinterlassen."

Jim schlug die Augen gen Himmel und stellte sich auf eine erneute Lachsalve des Sheriffs ein. Doch der warf ihnen lediglich einen Blick im Rückspiegel zu, während er den Motor anließ, und fragte, ohne jede Spur von Spott:

"Etwa sechs Jahre, dunkle Augen, dunkle Locken, dunkler Mantel?"

"Ja, genau. Wie …?"

Der Sheriff kramte kurz im Handschuhfach und reichte etwas nach hinten. Die schon leicht vergilbte schwarz-weiß Fotografie eines kleinen Mädchens.

Blair betrachtet die Aufnahme. "Das ist sie." Seine Finger zitterten leicht als er das Foto umdrehte und das Datum auf der Rückseite las. "22. Dezember 1970."

Jim nahm Blair das Bild aus der Hand um selber einen Blick darauf zu werfen und gab es dann dem Sheriff zurück.

Koslowski verstaute das Foto wieder sorgsam im Handschuhfach. Während er das Auto langsam auf die Straße lenkte, bemerkte er: "Lisa Reynolds. Verschwand zwei Tage nachdem das Bild gemacht wurde. An Heiligabend '70. Ist bald Jahrestag."

Er schürzte die Lippen. "Ihre Leiche wurde nie gefunden. Traurige Geschichte, wirklich. Alle haben sie gesucht. Ich war damals ein junger Spund und hatte mein erstes Jahr als Deputy hier. Hab mir ihr Bild vor ein paar Jahren wieder besorgt als Leute anfingen sie … zu sehen. Hier im Wald. So wie ihr Zwei vorhin."

Mit einem Schulterzucken fügte er hinzu. "Ich glaube eigentlich nicht an so einen Humbug, aber es ist schon komisch wie viele Leute sie gesehen haben."

Er musterte seine Fahrgäste im Rückspiegel. "Wart ihr deswegen da draußen und nicht im Auto? Wegen ihr?"

Die Reifen drehten etwas durch und Koslowski verringerte die Geschwindigkeit.

Blair nickte. "Sie stand plötzlich da und wir sind ausgestiegen und ihr hinterher. Wir waren ein ganzes Stück vom Auto weg, als der Baum umfiel."

Koslowski lächelte und nickte anerkennend. "Ja, das sieht ihr ähnlich. Ein gutes Kind, die kleine Lisa. Hat schon so manch Verirrten hier im Wald vor Schlimmerem bewahrt. Euch heute wohl auch, Jungs."

"Das kann man wohl sagen."

Das leichte Beben in Sandburgs Stimme war nur für Jims Ohren wahrnehmbar. Blairs Herzschlag beschleunigte sich zu einem schnellen, harten Pochen.

Besorgt wandte Jim den Kopf um seinen Partner zu mustern. Blair war bleich, auf seiner Stirn ein dünner Schweißfilm, den er sich mit fahriger Geste abwischte.

"Alles in Ordnung?", flüsterte Jim.

"Ja ... Ja, alles okay. Es ist nur …" Blair holte tief Luft und ließ den Atem wieder entweichen ehe er Jim ein schwankendes, selbstironisches Lächeln schenkte.

Jim nickte verstehend. Seine eigenen Beine zitterten sekundenlang unkontrolliert, als hätten die Muskeln ein Eigenleben entwickelt - eine nur zu vertraute Reaktion. Bleierne Müdigkeit würde als Nächstes kommen. Er ließ den Kopf schwer gegen die Rückenlehne des Sitzes fallen. "Ja, das war knapp."

Sandburg rutschte näher an ihn heran, seine Hand warm und fest auf Jims Arm und wisperte: "Wenigstens kriegen wir gleich einen Kaffee. Ich hoffe nur, der Sheriff hat ihn nicht schon gestern gekocht. "

Leise lachend, suchte Jim in der Dunkelheit Blairs Blick und erwiderte dann, seine Lippen dicht an Blairs Ohr: "Schlimmer als Simons Haselnuss - Zimt - Gebräu kann's auch nicht sein."

"Wie wahr." Ein Grinsen huschte über Sandburgs Gesicht, erlosch wieder. Er drückte sich tiefer in den Sitz und schloss die Augen. "Sie hat uns das Leben gerettet, Mann", murmelte er.

Jim antwortete nicht.

Er wandte sich um und blickte aus der Heckscheibe zurück auf den Baum und das darunter liegende Auto. Kurz bevor beides hinter einer Kurve verschwand, erhaschte er noch einen Blick auf eine Gestalt daneben.

Eine kleine, reglos dastehende Gestalt in einem dunklen Mantel.

Jim lächelte.


Ende


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