Kapitel 3


Vorsichtig öffnete er seine schmerzenden Augen. Das grelle Licht sorgte dafür, dass er sie direkt wieder schloss. Er tastete mit seiner freien Hand etwas um sich. Alles, was er zurzeit sagen konnte, war, dass er mit dem Rücken auf den Boden lag. Der Untergrund fühlte sich feucht und matschig an. Seinen linken Arm konnte er nicht richtig bewegen.

Noch einmal versuchte Blair Sandburg langsam seine Augen zu öffnen. Das Licht schmerzte, aber er musste herausfinden, wo er sich befand und was passiert war.

Es brauchte einige Minuten, bis er sich an das Licht gewöhnt hatte. Sein Kopf schmerzte und er fasste sich mit seiner freien Hand an die Stirn. Als er sie berührte, zuckte er direkt wieder zurück und stöhnte leise. Er blickte auf seine Hand und sah etwas Blut daran.

Vorsichtig hob er seinen Kopf an und begutachtete, in welcher Verfassung sein anderer Arm war. Zu seiner Erleichterung war es nicht so schlimm, wie er es sich schon ausgemalt hatte. Sein linkes Handgelenk klemmte zwischen einer Verzweigung eines großen Astes, der so wie er selbst vom Wasser hier her getragen worden war.

Blair richtete sich langsam auf und nahm daraufhin behutsam seine Hand aus der Astgabel. Wieder musste er leise stöhnen, aber auch gleichzeitig beipflichten, dass es hätte schlimmer sein können.

Er fragte sich, wie er hier her gekommen war und im gleichen Moment fiel es ihm wieder ein: Jim und er waren im Pick-up auf Verfolgungsjagd nach diesem Auftragskillerpärchen. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie er diese scharfe Kurve bedrohlich näher kommen sah. Zwar hatte er Jim noch gewarnt, aber es war zu spät gewesen - sie waren direkt aus der Kurve geflogen und geradewegs in den False Creek geschlittert.

Durch die starken Regenfälle der letzten Tage führte der Fluss viel Wasser mit sich und hatte den Truck und seine Insassen mitgerissen. Blair konnte sich noch daran erinnern, wie plötzlich von allen Seiten Wasser hereinstürzte und der Wagen durch die strömenden Wassermassen zur Seite gekippt wurde. Gerade als er das Bewusstsein verlor, hatte er noch gefühlt, wie ihn etwas sanft empor hob und dann wieder abrupt herunter stürzen ließ. Erst jetzt wurde Blair klar, dass das die kräftigen Wellen gewesen, die ihn aus dem Pick-up gerissen hatten.

Der junge Guide erhob sich und stellte abermals erleichtert fest, dass er nicht schwerwiegend verletzt war. Er konnte laufen und halbwegs klar denken. Zwar hatte er starke Kopfschmerzen, aber das war nun unwichtig. Viel wichtiger war jetzt, wo der Truck und somit auch Jim waren? Wenn Jim noch weiterhin im Truck durch den Fluss getrieben wurde...

Blair schüttelte vehement den Kopf. So durfte er erst gar nicht anfangen zu denken. Jim lebte noch. Er musste einfach!

Bedauerlicherweise hatte das Wasser auch sein Handy verschlungen, so dass er nicht nach Hilfe rufen konnte. Da sie auch ihre letzte Position während der Verfolgungsjagd nicht angegeben hatten, war es wahrscheinlich, dass sie noch gar nicht gesucht wurden - oder zumindest nicht hier.

Daraus gab es also nur eine Schlussfolgerung: Er musste Jim auf eigene Faust suchen. Blair wusste, dass Jim an seiner Stelle auch so handeln würde. Allerdings hatte der Sentinel seine geschärften Sinne und somit einen enormen Vorteil ihm gegenüber.

"Du schaffst das schon", flüsterte er sich selbst Mut zu und begann zu überlegen. Er musste auf jeden Fall mit der Strömung gehen - das war klar. Oder? Vielleicht war er auch weiter getrieben worden als der Truck oder Jim? Vielleicht verfing sich der Pick-up auch irgendwo oder er war steckengeblieben im seichteren Wasser und Blair wurde weiter Flussabwärts getrieben.

Nein. Sein Instinkt sagte ihm, er müsste Flussabwärts gehen und er vertraute ihm - wenigstens dieses eine Mal.

"Bitte sei ok, Jim", flehte Blair laut vor sich hin und folgte dem Fluss am Ufer entlang.




Sein gesamter Körper schmerzte. Ihm war kalt und seine ganze Kleindung war durchnässt. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Das daraufhin einströmende, grelle Licht schmerzte. Tapfer behielt er diese auf und begutachtete die Lage, nachdem er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte.

Er saß in seinem Truck und war eingeklemmt. Eigentlich lag er halb darin, denn der Fahrersitz war aus der Halterung gehoben worden und befand sich in einer Schräglage. Die Armaturen des alten Fords waren beim Einschlag in das Flussbett mit der vorderen Hälfte des Wagens nach hinten gedrückt worden, so dass es seine Beine einklemmte. Der gesamte Pick-up befand sich zur Seite gekippt. Die Schwerkraft drückte ihn hinunter in Richtung der Beifahrerseite. Die Zugkraft sorgte für weitere Schmerzen in seinen Beinen. Die Beifahrertür fehlte, denn Jim konnte den Grund des Flusses erkennen. Da sich das Auto noch mitten im Fluss befand, wurde diese Seite völlig mit Wasser überflutet...

Moment. Die Beifahrerseite war leer. Diese Tatsache sorgte bei Jim für einen Adrenalinstoß. Blair fehlte. Wo war Blair?

"Sandburg?", rief Jim in Panik. Seine Stimme krächzte etwas und er fing direkt an zu husten. Jede ruckartige Bewegung löste weitere Schmerzen aus. Wenn Blair sich irgendwo in der Nähe aufhielt, hätte er ihn dennoch hören müssen. Es sei denn, er wäre bewusstlos oder sogar... Nein, daran durfte er nicht denken.

Das Wichtigste war jetzt, sich ganz darauf zu konzentrieren, sich vom Wrack zu befreien.

Jim versuchte mit Hilfe seiner freien Arme sein linkes Bein zu umfassen und zog erst vorsichtig daran. Es schmerzte höllisch, aber er machte kleine Fortschritte. Nach einigen Zentimetern musste er eine kleine Pause einlegen um wieder zu Atem zu kommen, den er unbewusst angehalten hatte. Er schmeckte Blut in seinem Mund. Er hatte auf seine Lippen gebissen, um nicht laut vor Schmerzen loszuschreien, bis sie bluteten...

Nach einigen Sekunden begann er von Neuem an seinem Bein zu ziehen. Nur wenige Minuten später hatte er nach weiteren Versuchen endlich sein linkes Bein befreit und sank erschöpft zurück.

Sein Kopf fühlte sich so an, als würde er jeden Moment explodieren, aber er nutzte die kleine Verschnaufpause um seine nähere Umgebung kurz zu überprüfen. Sein geschärftes Gehör funktionierte zu seiner Erleichterung noch ohne Probleme. Aber er konnte keinen weiteren Herzschlag außer seinen eigenen im Umkreis von über einhundert Metern ausfindig machen.

"Wo steckst du Blair?", flüsterte er und versank dann in eine wohltuende Schwärze.




Seine Schritte wurden immer schwerer. Die einbrechende Dunkelheit machte es ihm schwer zu erkennen, wo er lang lief. Er stolperte und stürzte einige Male, aber stand direkt wieder auf. Es galt keine Zeit zu verlieren.

Immer wieder fragte sich Blair, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er zur nächsten Straße gelaufen wäre und dann Hilfe gerufen hätte. Aber irgend etwas sagte ihm, er täte das Richtige.

Wieder stolperte er über einen größeren Stein, den er nicht rechtzeitig gesehen hatte. Aber dieses Mal stand er nicht direkt wieder auf. Wie sehr wünschte er sich jetzt Jims Sinne. Für seinen Partner wäre das hier kein Problem gewesen.

Er seufzte. "Wunderbar. Du bist vielleicht eine große Hilfe, Blair. Jim liegt vielleicht gerade im Sterben und du tappst hier im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln rum..."

Doch er durfte nicht aufgeben. Er musste es weiter versuchen - für Jim.

Blair stand wieder auf und tastete sich vorsichtig weiter im Dunkeln voran...




"Sir, wir haben die gesamte Umgebung im Umkreis von zwei Kilometern durchsucht. Keine Spur von Jim und Sandburg", informierte Rafe seinen Captain resigniert.

Simon nickte traurig. Er nahm seine Brille ab und rieb sich müde die Augen. "Irgendwo müssen die beiden aber doch stecken. Suchen Sie weiter Rafe. Erweitern Sie meinetwegen das Einzugsgebiet. Es muss etwas passiert sein, sonst hätten wir schon längst wieder von ihnen gehört."

Rafe nickte und verließ wieder Banks Büro.

Simon stand auf und lief zum Fenster hinüber. Er blickte hinaus auf die noch immer zu dieser späten Stunde belebte Stadt. Sein Spiegelbild im Glas zeigte einen Mann, der gleichermaßen erschöpft, aber auch sehr besorgt war. Zwei seiner besten Freunde wurden da draußen vermisst und keiner wusste, wie es ihnen ging. Sie konnten sogar schon tot sein. Wenn die Auftragskiller Laura Maze und Rick Hazard die beiden in die Hand bekommen hatten, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie nicht mehr am Leben waren.

Traurig schüttelte der Captain seinen Kopf und wandte sich vom Fenster ab. Wenn er sich nicht so verdammt hilflos vorkam - wie so oft, wenn er einen seiner Männer - oder Frauen - in den Krieg schickte, der da draußen herrschte. Es war weiß Gott nicht fair - Tausende Schwerverbrecher gegen eine Hand voll Gesetzeshüter. Täglich musste er mit ansehen, wie seine Leute diesem Terror ausgesetzt wurden. Und immer fühlte er eine gewisse Hilflosigkeit, denn er saß dabei in seinem Büro und dirigierte die Figuren seiner Mannschaft in diesem Kriegsspiel. Seiner Ansicht nach war er noch viel zu selten draußen aktiv, aber es war sowieso schwer genug, seinem Vorgesetzten seinen "Außendienst" zu rechtfertigen. Wenn es nach dem Chef ginge, säße der Captain rund um die Uhr hinter seinem Schreibtisch...

"Das muss enden", flüsterte Simon vor sich hin und eilte zurück zu seinem Schreibtisch. Er schnappte sich seinen Mantel und prüfte seine Waffe kurz. Er würde seine Detectives bei der Suche nach seinem besten Team unterstützen, egal was der Chef dazu sagen würde.

Als er das Büro verließ, informierte er seine Sekretärin Rhonda kurz darüber, was er vorhatte und ließ alle Telefonate auf sein Handy umleiten. Es würde sicherlich eine lange Nacht werden...




Es war bereits dunkel, als er erneut seine Augen öffnete. Er musste tatsächlich eingenickt sein und verfluchte sich insgeheim dafür.

Jim blickte um sich und konnte nach nur wenigen Sekunden Eingewöhnung seine Umgebung weiterhin erkennen. Er hörte, wie es erneut angefangen hatte zu regnen. Das erschwerte die Lage.

Er erinnerte sich, wie Blair und er den Killern gefolgt waren und dann aus einer scharfen Kurve geschleudert wurden. Wie Blair und er dann den Killern gefolgt waren und aus einer scharfen Kurve geschleudert worden waren. Der Fluss hatte ihren Aufprall gedämpft und Jim fragte sich, ob sein Partner vielleicht aus dem Wagen gespült worden war. Solange er sich nicht sicher war, dass sein Guide unverletzt und in Sicherheit war, war es seine verdammte Pflicht sich auf die Suche nach ihm zu machen.

Im Laufe der Minuten wurde das Denken immer schwieriger. Er konnte sich noch schwammig daran erinnern, wie er versucht hatte, sein Bein unter den Armaturen herauszuziehen. Er bewegte es leicht, aber sofort durchfuhr ihn dabei ein stechender Schmerz von den Zehen bis in die Haarspitzen. Mit Hilfe seiner Hände untersuchte er die Lage und erkannte, dass er es scheinbar noch erfolgreich herausgezogen hatte.

Der Sentinel nahm seine ganze Kraft zusammen und versuchte auf die gleiche Weise sein anderes Bein herauszuziehen, aber die Schmerzen waren zu groß. Resigniert musste er nach einigen Versuchen aufgeben. Wenn er es überhaupt geschafft haben sollte, das Bein etwas herauszuziehen, dann nur um wenige Millimeter.

Trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen und immer mehr Probleme bereitenden Sinnen konnte er im weiterhin steigenden Wasser etwas Dunkles erkennen. Zuerst dachte er, es wäre Öl, aber dann kam ihm der penetrante Geruch von Blut in die Nase. Er tauchte kurz seine Hand hinein und rieb die dunkle Flüssigkeit zwischen seinen Fingerspitzen. Tatsächlich, es handelte sich um Blut. Verdammt, das war sehr viel Blut.

Sofort überlegte er, wo das herkam. Er fasste sich an den Kopf, aber war erleichtert, als er bemerkte, dass die Wunde, die für höllische Kopfschmerzen sorgte, dort schon länger aufgehört hatte zu bluten und das Blut dort bereits getrocknet war.

Als nächstes blickte er auf seine Hände herab, aber auch die waren bei dem Versuch, seine Beine frei zu bekommen, unversehrt geblieben.

Die Beine! Jim tastete sein freigezogenes Bein ab. Es hatte zwar einige Schrammen, aber keine, die solch einen Blutverlust hätten hervorrufen können. Dann arbeitete er sich vorsichtig an sein anderes Bein voran und es erwischte ihn wie einen Blitz, als er die neue Wunde erkannte. Sie musste durch sein Ziehen gerade entstanden sein. Die Wunde war sehr tief und er zuckte vor Schmerzen zurück, als er sie berührte. Er fragte sich, warum er das beim Ziehen nicht bemerkt hatte, aber vermutlich war er durch die Kälte und Nässe so durchgefroren, dass er nur noch wenig Gefühl in seinen Beinen hatte. Der Druck durch die Armaturen tat sein Übriges.

Dem Sentinel wurde Schwarz vor Augen. Zuerst dachte er, sein geschärfter Augensinn ließe nach, aber dann wurde ihm schlecht dabei und ihm wurde klar, dass ihm der Blutverlust bereits zu schaffen machte. Er riss sich mit viel Kraftaufwand ein Stück Stoff aus seinem Sweatshirt und band die Wunde damit so gut es ging ab. Erneut biss er sich dabei vor Schmerzen auf die Lippen, bis sie bluteten.

Erschöpft lehnte er sich wieder zurück und blickte hinauf zum Sternenhimmel, den er durch das demolierte Dach seines Trucks sehen konnte. Wie sollte er so Blair eine Hilfe sein? Er brauchte selbst Hilfe und zwar schnell. Durch seine medizinische Ausbildung bei den Rangers konnte er sich selbst schon ausrechnen, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Daher wusste er auch, dass er jetzt nicht ein weiteres Mal einnicken durfte, aber es war so wohltuend, kurz die Augen zu schließen...

"Jim?"

Abrupt riss er seine Augen wieder auf. "Blair?"

"Ja, Jim. Ich bin's!"

Der Sentinel wandte sich zum kaputten Fenster, das zum Himmel zeigte, und sah wie sein Partner vorsichtig hineinlugte. Er grinste, denn er wusste, dass nun alles gut werden würde. "Ich bin so froh, dich zu sehen!"

Blair rümpfte die Nase. "Tatsächlich?" In seiner Stimme war klar Sarkasmus zu hören. Aber Jim war viel zu erschöpft, um diesen zu erkennen.

"Natürlich", flüsterte Jim. "Ich bin eingeklemmt. Kannst du mich bitte hier rausholen?" Seine Stimme schwankte und man hörte, dass er in großen Schmerzen lag.

Sein Freund lachte kurz und kalt auf. "Dafür bin ich dir also noch gut genug, he? Dein nervender Begleiter darf dir nicht nur jedes Mal mit den Sinnen helfen und ständig seinen Arsch für dich riskieren, sondern dir auch noch aus der Klemme helfen!"

Jim runzelte die Stirn. Was war nun los? Hatte er etwas Falsches gesagt? Er verstand nicht, warum Sandburg plötzlich wütend auf ihn war. "Blair...?"

"Spar dir deine Rede!", unterbrach er ihn. "Glaubst du, ich hätte keine Gefühle? Glaubst du, ich würde mich gerne von dir ständig herumkommandieren lassen? Dass ich es genieße, wenn du mich anschreist und mich aus der Wohnung schmeißt? Dass du mich wie ein Kleinkind behandelst? Glaubst du, ich lasse mir das ewig gefallen?"

Mit offenem Mund starrte Jim seinen Partner an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hinzu kam, dass er sich zu schwach fühlte, mit Blair zu diskutieren. Ihm waren seine Fehler bewusst, die er im Laufe der Jahre gemacht hatte. Er hatte schon oft beinahe die Freundschaft zwischen ihnen beiden auf den Gewissen. Aber niemals hatte Blair auf diese Weise reagiert...

"Blair...", versuchte er es erneut. "Bitte..." Er atmete nach jedem Wort tief und geräuschvoll ein und aus. "Ich..." Atmen... "Tu mir... das... nicht an..."

Sandburg grinste schadenfroh. "Das hättest du dir vorher überlegen müssen!" Daraufhin verschwand er vom Fenster und somit aus Jims Sichtfeld.

"Blair!", rief Jim so laut er konnte, aber es kam nicht mehr als ein Flüstern dabei heraus. "Blair! Blair, bitte! Lass mich nicht allein! Blair?" Er spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen. Sein bester Freund hasste ihn. Er wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. "Blair!", rief er noch einmal, aber er erhielt keine Antwort. "Ich brauche dich! Ich liebe dich doch!", flüsterte er.

Erneut überkam ihm die Dunkelheit. Und mit dem Wissen, dass sein bester Freund ihn nicht mehr sehen wollte, gab er nach und ließ sich auf die Schwärze ein...




Die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten Zentimeter für Zentimeter des Geländes.

Langsam bog Simon in eine weitere Straße ein. Er hatte sich jetzt bereits über eine Meile von dem Punkt entfernt, von wo Jim und Blair sich das letzte Mal gemeldet hatten. Aber bei Jims Fahrstil hätten die in Windeseile sonst wo sein können.

Von der Beifahrerseite suchte Joel nun den Fahrbahnrand mit einer größeren Taschenlampe ab. Diese Straße wurde schlechter beleuchtet, da sie etwas abgelegener war. Sie führte direkt am Fluss False Creek entlang.

"Verdammt! Das ist aussichtslos. Die können überall stecken", fluchte Simon, während Joel weiter das Ufer ableuchtete.

"Nichts ist aussichtslos. Solange nur ein Fünkchen Hoffnung besteht, dass wir sie hier irgendwo finden, ist es unsere Pflicht weiterzusuchen", dementierte Joel und ließ dabei das Ufer nicht aus den Augen.

Simon seufzte. Er wünschte, er wäre auch noch so guter Dinge, aber sein Optimismus war bereits seit Stunden verflogen. "Ich bin immer noch der Meinung, die beiden Killer haben sie erwischt und..."

"Hey Simon, halten Sie mal an!", unterbrach Joel den Captain und stieg in dem Moment, in dem der Wagen hielt, schon aus. Simon folgte ihm und versuchte im Dunkeln zu erkennen, was Joel scheinbar gefunden hatte.

"Sehen Sie, da ist eine Fahrspur, die direkt in den Fluss führt!" Aufgeregt zeigte Joel mit seiner freien Hand und dem Lichtstrahl der Taschenlampe auf die entsprechende Stelle.

"Sie haben Recht. Fragt sich jetzt nur noch, von welchem Auto die stammt. Die Spur kann von sonst wann und wem sein..." Simon joggte zurück zum Wagen und rief sicherheitshalber ein Team der Spurensicherung per Funk herbei.

"Sieht so aus, als wäre der Wagen direkt aus der da vorne einmündenden Straße gekommen und bei der scharfen Kurve rausgeflogen...", murmelte Joel und leuchtete dabei die Straße in die entsprechende Richtung ab. Tatsächlich konnte er eine dicke Bremsspur erkennen.

"Na schön, Joel. Gehen wir mal davon aus, es wäre Jims Truck gewesen, der hier aus der Kurve geflogen und in den Fluss gefahren ist..." Simon holte sich eine eigene Lampe aus seinem Kofferraum und weitere Utensilien. "Dann sollten wir nach Ihnen suchen." Er warf Joel eine Tasche des Suchtrupps zu, der sie auffing.

"Sehe ich genauso, Sir."

Die beiden suchten zuerst die Umgebung nach einem möglichen Wrack ab. Als sie nichts weiter fanden, entschieden sie sich, flussabwärts zu laufen. Bei den Wassermassen, die der Fluss zurzeit führte, konnte er durchaus einen Wagen mit sich reißen. Simon gab den anderen Suchtrupps über sein Handy gerade durch, was er vorhatte, und sie machten sich auf den Weg...




"Blair?" Es war ein krächzendes Flüstern. Jim versuchte es noch einmal lauter, aber er musste dabei stark husten. Er fühlte, wie Hitze in ihm aufstieg und der kalte Schweiß auf seiner Haut war ein weiteres Indiz für sein steigendes Fieber.

"Blair", flüsterte er noch einmal, aber diesmal versuchte er nicht damit seinen Freund zu rufen. Es war eher ein sehnliches Verlangen an eine imaginäre Person...

"Jim!"

Der Sentinel drehte angestrengt aber voller Hoffnung seinen Kopf zur Seite. Durch das Fenster auf der Fahrerseite lugte erneut Blair hindurch und blickte sehr besorgt. "Hey, ich habe dich schon überall gesucht. Wie geht es dir? Bist du Ok?"

Der Sentinel versuchte ein Wort herauszukriegen, aber es war zu schmerzhaft. Stattdessen schüttelte er den Kopf und versuchte, sich auf das Wesentliche zu beschränken. "Du?"

"Ja, mir geht es gut. Aber du siehst aus, als hättest du schon bessere Tage gesehen. Nicht aufgeben Jimbo, Ok?"

Jimbo? Er hasste diesen Namen... Er nickte nur.

"Wie steht es um dein Schmerzlevel?"

Dem Sentinel fiel das Überlegen sehr schwer. Nach einigen Sekunden antwortete er schließlich leise und langsam: "Schlecht. Tut weh."

"Ok Jim, ich möchte, dass du das Level langsam herunterdrehst. Du kennst das Spielchen ja. Wir sind gerade auf zehn. Gehe jetzt auf neun, acht, sieben, sechs... fünf... vier... drei... Das müsste reichen. Wie geht es jetzt?"

Jim schüttelte mit den Kopf. Er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Diese Kopfschmerzen... Er glaubte, sie würden ihn noch umbringen!

Warum war Blair eigentlich wieder zurück? Vielleicht war der Vorfall vorhin doch nur Einbildung gewesen? Er hatte es ja schon gehofft. Fragen wollte er auch nicht, schließlich war er froh, dass dieses Thema beendet war. Oder hatte er vielleicht jetzt eine Wahnvorstellung? Möglich, dass er sich beides nur einbildete und im Delirium lag. Vielleicht war es auch das hohe Fieber. Das würde zumindest erklären, warum Blair das eine Mal wütend auf ihn war und im nächsten Moment versuchte ihm zu helfen. Und warum holte er ihn hier nicht heraus?

"Blair", flüsterte Jim erneut. Als keine Antwort kam, blickte er sich wieder zu seinem Freund um, aber konnte ihn nicht sehen. "Blair!", rief er noch einmal so laut er konnte, aber bekam nur wieder einen erneuten Hustenanfall.

Tatsächlich erschien wieder ein Gesicht am Fenster. Aber als Jim erkannte, wer da auf ihn herabsah, verflog alle Hoffnung auf Rettung...




Blair Sandburg schleppte sich noch immer durch die kalte Nacht. Er zitterte am ganzen Körper, aber die Sorge um seinen Freund trieb ihn weiter. Obwohl sich seine Augen schon längst an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel es ihm immer schwerer etwas zu erkennen.

Plötzlich sah er von Weitem einen Lichtschein. Mit ungeahnten Kräften eilte er darauf zu. Es war eine Taschenlampe, die auf einen verunglückten Wagen leuchtete - auf Jims Truck.

Erleichtert, dass er den Pick-up gefunden hatte, aber auch mindestens genauso besorgt rannte er weiter. Plötzlich sah er, wie zwei Personen eine weitere aus dem Truck hievten. Das musste Jim sein.

Es war Jim, wie Blair wenige Sekunden später bemerkte. Der Sentinel schrie laut vor Schmerzen auf, was seinen herbeieilenden Partner für einen Augenblick erstarren ließ. Eine Person entfernte sich kurz und lief zu einem weiteren Wagen, der nur wenige Meter entfernt am Straßenrand parkte. Dann hörte er, wie eine Männerstimme von dort rief: "Der ist doch so gut wie tot! Lass uns lieber seinen Partner suchen. Der muss hier auch noch irgendwo sein. Um den hier kümmert sich schon die Natur." Die Schadenfreude war nicht zu überhören und löste in Blair eine Anballung von Wut im Bauch aus.

Leise schlich er in das nächstbeste Gebüsch und versteckte sich dort. Der Mann leuchtete mit seiner Taschenlampe flüchtig über den Wagen am Straßenrand und Blair konnte erkennen, dass es sich hierbei um einen schwarzen Mustang handeln musste. Das waren also Rick Hazard und Laura Maze. Wenn er Glück hatte, würden sie verschwinden und sich auf die Suche nach ihm machen. Dann könnte er sich um Jim kümmern und versuchen Hilfe zu holen...

"Den kleinen Hippie finden wir so doch nie. Es war schon schwer genug, den hier zu finden", war nun die Frauenstimme beim gekippten Truck zu hören. Die zweite Taschenlampe von Laura Haze strahlte auf den fast bewusstlosen Jim, der am seichten Ufers des Flusses lag. Laura kniete sich zum Sentinel und riss seinen Kopf abrupt am Haar hoch. "Wo ist dein kleiner Freund, Cop? Holt er gerade Hilfe? Oder ist er vielleicht schon tot? Das würde uns eine Menge Arbeit erleichtern."

Rick kam herbei. "Na schön, wir können unser Glück ja mal versuchen. Das Bullenschwein wird uns schon verraten, wo der Hippie ist..."

So viel zum Glück, dachte sich Blair...




Als Jim die Frau im Fenster seines verunglückten Trucks über sich sah, war ihm klar, dass es sich hierbei um Laura Maze handeln musste. Heute schien wirklich nicht sein Glückstag zu sein...

Die Frau wandte sich ab und rief nach hinten, was sie gefunden hatte. Nur wenige Sekunden später erschien ihr Partner Rick Hazard. "Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da? Ich wusste, wir würden ihn finden, Laura."

"Aber wo ist sein Partner? Die waren doch immer zu zweit?", zischte sie zu Rick.

Dieser nickte. "Richtig." Er zog seine Pistole heraus und richtete sie auf Jim. "Wo ist der kleine Hippie, he?"

"Ich weiß es nicht", flüsterte Jim sehr leise, aber die beiden schienen ihn verstanden zu haben.

"Na schön, erst einmal holen wir den da raus", kommandierte Laura.

"Was? Wieso? Wir können ihn doch gleich hier umbringen!", protestierte Rick.

Laura schüttelte den Kopf. "Das könnten wir. Aber schau ihn dir an, der wird vermutlich auch ohne uns krepieren. Wenn wir dem noch zusätzlich eine Kugel in den Kopf jagen, dann sind wir noch Cop-Killer und uns sucht der ganze Bundesstaat. Lass ihn uns rausholen und wir können sehen, was wir mit ihm machen."

Sie versuchten Jim aus den Truck zu ziehen, aber bemerkten schnell, dass sein Bein unter den Armaturen eingeklemmt war. Laura kletterte vorsichtig unter den wachsamen Augen ihres Partners halb hinein und drückte mit großem Kraftaufwand und mit Hilfe eines Wagenhebers aus ihren Mustang das Lenkrad in die ursprüngliche Stellung. Daraufhin war Jim frei.

Der Sentinel wusste, es wäre seine Pflicht gewesen, sich jetzt zu wehren, aber ihm fehlte die Kraft.

Laura kletterte wieder hinaus und packte mit an, als Rick versuchte Jim aus den Wrack zu ziehen. Der Sentinel konnte einen lauten Aufschrei vor Schmerzen nicht verhindern. Und das ehemals eingeklemmte Bein fing erneut an stark zu bluten.

Schließlich hievten sie ihn über die Kante des Wagens in das strömende Wasser des Flusses, in dem sie standen. Für einen kurzen Moment war sein Kopf unter Wasser und er glaubte, sie würden ihn nun ertränken wollen. Aber nur wenige Sekunden danach hatten sie ihn schon an das sicherere Ufer gezerrt, wo er schmerzhaft nach Luft rang.

Rick lief zum Wagen und legte wieder den Wagenheber zurück in den Mustang. "Der ist doch so gut wie tot! Lass uns lieber seinen Partner suchen. Der muss hier auch noch irgendwo sein. Um den hier kümmert sich schon die Natur!", rief er zu Laura.

"Den kleinen Hippie finden wir so doch nie. Es war schon schwer genug, den hier zu finden", erwiderte seine Partnerin.

Jim hoffte, Blair wäre bereits in Sicherheit und vor allem unverletzt. Vielleicht würden die beiden Killer ihn hier zurücklassen. Wer weiß, womöglich schaffte er es noch bis zur Straße. Wenn dann noch gerade zufällig ein Wagen vorbeifuhr...

Der Sentinel spürte, wie ihn plötzlich jemand an seinen Haaren hochriss. Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich dadurch und er musste leise stöhnen vor Schmerzen. Das Licht der Taschenlampe blendete ihn so stark, dass er nichts weiter sehen konnte. Er kniff seine Augen so gut es ging zusammen, aber es schmerzte dennoch.

"Wo ist dein kleiner Freund, Cop? Holt er gerade Hilfe? Oder ist er vielleicht schon tot? Das würde uns eine Menge Arbeit erleichtern."

Das musste Laura sein.

"Na schön, wir können unser Glück ja mal versuchen. Das Bullenschwein wird uns schon verraten, wo der Hippie ist..."

Und das war Rick. Die Stimme kam langsam näher.

Für Jim war klar, dass er nicht kooperieren würde. Selbst, wenn er wüsste, wo sein Freund steckte, würden sie kein Sterbenswörtchen aus ihm herauskriegen. Das stand fest.

"Ok, Cop. Ich gebe dir eine faire Chance: Du sagst uns jetzt, wo dein Partner steckt und wir lassen dich in Ruhe. Na, wie klingt das?"

"Ich weiß nicht, wo er ist", presste Jim gerade so laut hervor, dass es die beiden Killer hören konnten. Er versuchte dabei möglichst neutral zu klingen.

"Hm", erwiderte Laura, "Das ist aber Schade... Jammerschade." Sie stand dabei auf und blickte gefühllos zum Sentinel hinab. "Denn wir wüssten WIRKLICH GERNE, wo er ist, weißt du?"

Als es von dem verletzten Mann vor ihr keine Reaktion gab, trat sie ihm kräftig in den Bauch. Jim krümmte sich vor Schmerzen und schrie laut auf.

"Wo ist Sandburg?", fragte Rick ungeduldig.

Überrascht stellte Jim fest, dass sie wohl ihre Namen kannten. Na gut, vermutlich hatten sie im Zusammenhang mit den Morden des Killerpaares in der Zeitung gestanden. Er hoffte, es gäbe nicht weitere Überraschungen. Aber jetzt galt es erst einmal durchzuhalten.

Bevor er sich richtig vom ersten Tritt erholen konnte, spürte er, wie ihm ein weiteres Mal hart in die Magengegend getreten wurde. Mit Hilfe der Wucht des Aufschlages wurden seine Sinne noch einmal kurz online gebracht. Für einige Sekunden konnte er seine Umgebung bestens im Dunkeln erkennen. Er hörte alles um sich herum, einschließlich... Verdammt, dieses Geräusch kannte er sehr gut. Jim drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der das rasante Herzklopfen kam, das er wahrnahm. Gut im Gebüsch versteckt, sah er seinen Guide hockend.

Jim hatte sich zwar gewünscht, dass Blair ihn finden würde, aber das Timing konnte kaum schlechter sein. Er hoffte, sein Partner würde nichts Unüberlegtes tun...


Kapitel 4


Mit jedem Tritt und Schlag, den sein Freund einstecken musste, glaubte Blair die Schmerzen am eigenen Leib zu spüren. Er wusste, ihm lief die Zeit davon. Jede Sekunde, die er verstreichen ließ, bedeutete für Jim eine Sekunde mehr Qual und Pein. Aber Blair wusste auch, dass er sich gut überlegen musste, was er nun unternehmen würde. Hilfe rufen war keine Option. Er hatte weder ein Telefon noch konnte er einfach im Dunkeln durch eine ihm unbekannte Gegend herumgeistern und hoffen, er würde auf Hilfe stoßen.

Nein, dieses Mal lag es in seiner Hand.

Vorsichtig tastete sich Blair an das Wrack des Pick-ups heran. Er versuchte möglichst wenig Geräusche zu verursachen, was im Wasser gar nicht so einfach war. Die Tatsache, dass der Fluss noch immer gut mit Wasser gefüllt war und so zum reißenden Strom geworden war, verhalf ihm dennoch unbemerkt zum Truck zu gelangen.

Er hörte, wie im Hintergrund Laura und Rick diskutierten, wie sie nun vorgehen sollten. Das war gut, denn das bedeutete für Jim ein wenig gewonnene Zeit. Er sah durch das zerschmetterte Fenster des Wagens seinen verletzten Freund auf dem Boden liegen. Jim atmete schwer - so viel konnte er im Schein der Taschenlampen der zwei Killer erkennen. Viel mehr ließ der kleine Lichtstrahl nicht zu.

"Ich bin hier, Jim. Du bist im Handumdrehen hier raus - versprochen!", flüsterte Blair gerade so laut, dass es nur der Sentinel hätte hören können - vorausgesetzt er hatte sein Gehör entsprechend geschärft.

Blair wühlte durch die Überreste des Trucks. Er tastete sich im Dunkeln etwas voran um zu erkennen, wo das Handschuhfach war. Schließlich fand er den Griff in binnen weniger Sekunden und öffnete das Fach mit einem großen Kraftaufwand, da es klemmte. Er wartete einen Moment und schaute kurz zu den beiden Killern herüber, ob sie das laute Geräusch, bei dem die Klappe aufging, bemerkt hatten.

Nachdem die beiden unverändert hitzig miteinander diskutierten, griff Blair beherzt in das mit mittlerweile Wasser gefüllte Handschuhfach. Schließlich fand er, was er gesucht hatte...




"Sir, glauben Sie, der Fluss kann den Truck wirklich so weit getrieben haben? Ich meine, es ist zurzeit wirklich viel Wasser darin, aber so einen ganzen Wagen..."

Simon hatte es kaum für möglich gehalten, aber glaubte tatsächlich etwas Pessimismus in Joels Stimme zu hören.

"Joel", er legte seinen Arm um die Schultern des gewichtigeren Mannes neben sich. "Die Spurensicherung hat doch gerade eben erst die Bremsspuren, die Sie entdeckt haben, als möglicherweise von Jims Truck identifiziert. Und in den letzten Tagen ist weder dem Police Department noch der Feuerwehr oder ähnlichen Organisationen ein Fall gemeldet worden, in dem ein Wagen in den Fluss geschlittert ist. Also muss der Truck in den Fluss geschlittert sein. Und wenn das der Fall ist, muss er sich irgendwo im Flussbett befinden. Da er nicht Vorort aufzufinden war, müssen die Wassermassen ihn weiter flussabwärts getrieben haben. So einfach ist das."

"Aber, vielleicht wurde der Truck dabei nicht so schwer beschädigt und die beiden konnten wieder unbeschadet aus dem Fluss herausfahren und..."

"Hey", unterbrach Simon seinen Freund und Kollegen. "Sonst müssen doch SIE mich immer aufmuntern. Was ist los? Wenn sie es tatsächlich wieder herausgeschafft hätten, hätten wir vermutlich dafür Spuren finden müssen. Außerdem könnten sie dann überall sein. Das hier ist der einzige Hinweis, den wir bisher haben. Und da wir gute Detectives sind, gehen wir diesem Hinweis nach. Basta."

Joel wusste, dass es ihre einzige Spur war, die sie hatten, aber zweifelte daran, dass es auch die Richtige war, die sie zu ihren Freunden bringen würde.

"Hm, was haben wir denn da?", murmelte Simon vor sich hin und leuchtete auf eine Stelle vor sich.

Joel blieb direkt stehen und versuchte zu erkennen, was der Captain da gefunden hatte. Schließlich bückte sich Simon und hob von dort einen Gegenstand auf. Er hielt ihn Joel vor die Nase und leuchtete ihn mit der Taschenlampe an, damit er sehen konnte, um was es sich handelte.

"Das ist ein Anhänger einer Kette", kommentierte Joel monoton.

"Richtig", erwiderte Simon. "Sandburg trug so einen Anhänger einmal. Ich weiß natürlich nicht, ob er ihn auch heute trug, aber ich glaube, wir haben gerade eben einen Beweis dafür gefunden, dass unsere Freunde zumindest hier waren." Er leuchtete den Weg vor ihnen mit der Taschenlampe etwas ab und kniete sich erneut hin.

"Hier sind Fußspuren zu erkennen. Der Regen hat sie zwar schon teilweise etwas verwischt, aber das heißt nur, dass sie noch nicht alt sein können, sonst wären sie bereits nicht mehr zu sehen."

Joel kniete sich neben ihn. "Der Größe nach zu urteilen scheinen sie von Sandburg zu kommen."

Simon nickte. "Ja, das würde ich auch sagen. Aber ich kann keine weiteren Fußspuren erkennen, nur diese. Frage ist also: Wo ist Sandburg hin? Und wo ist Jim abgeblieben?"

"Und wo ist das Wrack des Pick-ups?", ergänzte Joel.

"Ja. Vermutlich wurde Sandburg aus den Wagen gespült, während Jim mit diesem noch weiter getrieben wurde. Blair ist flussabwärts gelaufen. Von flussaufwärts kommen wir erst gerade, da gab es keine Spur vom Truck. Also gehen wir weiter und folgen Sandburgs Spuren."

Joel sagte nichts und nickte nur. Endlich hatten sie einen handfesten Hinweis auf den Verbleib der beiden Männer. Oder zumindest auf einen von ihnen.

Simon nahm schnell sein Handy heraus und forderte Verstärkung an. Er hoffte nur, sie würden noch nicht zu spät sein...




"Und ich sage, wir lassen den Cop hier in seinem Elend sterben und suchen auf eigene Faust seinen kleinen Hippie-Begleiter", machte Rick seiner Meinung lautstark zur Geltung.

"Den findet ihr nie", flüsterte Jim hinter zusammengepressten Zähnen.

Rick versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. "Dich hat hier keiner gefragt!"

Laura und Rick waren sich uneinig. Sie wussten nicht, was sie als nächstes unternehmen sollten und hatten angefangen sich wütend und laut darüber auseinander zu setzen. Das verhalf Jim und Blair eventuell zu einem Vorteil - vorausgesetzt, sie wären in der Lage ihn auszunutzen.

"Was ist das?" Rick blickte verwirrt in Richtung des Wracks, in dem plötzlich das Innenlicht angegangen war. Er leuchtete mit der Taschenlampe dorthin, aber konnte nichts erkennen.

"Schau doch mal nach", zischte Laura.

"Wieso ich? Das kannst du genauso!", protestierte Rick. Aber lief dann doch vorsichtig zum Truck hinüber. Er visierte mit seiner Pistole das Innere des Wagens an. Ruckartig spähte er mit der Waffe voran in den Frontteil des Pick-ups. Er runzelte die Stirn, als er nichts erkennen konnte und drehte sich zu seiner Partnerin herum.

"Es ist nichts zu sehen. Vielleicht hat der Ast, der..."

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Rick stockte, als er den Lauf einer Pistole in seinem Rücken verspürte.

"Ok, erst einmal werfen Sie Ihre Waffe weg - in das Wasser!", kommandierte Blair den Mann vor sich. Rick hatte zwar in die Kabine des Wagens hineingeschaut, aber Blair hatte sich auf der Ladefläche des Wagens versteckt, die für den Killer nicht voll einsehbar war.

Rick tat, wie ihm geheißen wurde.

"Gut. Und nun sagen Sie Ihrer Freundin, sie soll das Gleiche tun."

"Laura, bitte leg deine Waffe beiseite", schrie Rick zu seiner Kollegin hinüber.

Diese konnte kaum glauben, was vor sich ging. Sie hatte, als Rick mitten im Satz inne gehalten hatte, direkt in seine Richtung geleuchtet. Sie musste hilflos mit anschauen, wie der Partner des Cops, den sie ganz offensichtlich sehr unterschätzt hatte, die Situation für sich gewann.

"Laura", rief Rick erneut, als Blair mit einem festeren Druck des Laufs seiner Pistole, kundgab, dass es ihm nicht schnell genug ging.

Schließlich warf Laura die Pistole ins seichte Wasser, wo sie direkt unterging und vermutlich auch weggeschwemmt wurde.

"Sehr schön. Und nun nehmen Sie diese Handschellen hier und legen Sie sie ihr um." Dabei übergab Blair Rick ein paar Handschellen, die er genau wie die Pistole als Ersatz im Handschuhfach gefunden hatte. Im gleichen Atemzug nahm er ihm die Taschenlampe ab.

Rick behielt die ganze Zeit seine Arme oben und lief langsam auf seine Partnerin zu. Schließlich hörte Blair, wie die Handschellen einrasteten und begutachtete das Werk des Killers mit Hilfe der Taschenlampe.

Vorsichtig kletterte er aus den Pick-ups und verlor Rick dabei kein einziges Mal aus den Augen. Als er diese brenzlige Situation hinter sich hatte, lief er langsam zu Jim hinüber. Sein Freund war in einem schlechten Zustand und musste sofort ins Krankenhaus. Mehr konnte Blair leider auch nicht in dieser kurzen Zeit erkennen. Dafür musste er zu sehr auf Rick fixiert sein. Er bedauerte, dass Jim seine Handschellen nicht mehr bei sich trug. Ein zweites Paar hätte er wirklich gut gebrauchen können.

Der Sentinel stöhnte leise, als Blair ihn untersuchte. "Pscht, ich bin's, Blair. Keine Angst, ich habe alles unter Kontrolle. Nicht mehr lange und du liegst in einem warmen und gemütlichen Bett.", flüsterte er seinem Freund aufmunternd zu und versuchte gleichzeitig, sich selbst damit Hoffnung aufzubauen, dass alles gut werden würde.




Rick starrte ungläubig in Richtung seines Widersachers. Der kleine Hippie da sollte ihn - Rick Hazard, den Profi-Auftragskiller - in Schach halten? Nicht, wenn es nach ihm ginge! Na schön, er hatte ihn wohl unterschätzt, aber er konnte es nicht zulassen, dass so ein kleiner Freak ihn ins Gefängnis bringen würde.

Er beobachtete, wie der Möchte-gern-Cop sich seinem verwundeten Partner annahm. Dabei hatte dieser Sandburg ihn ständig im Auge. Aber sicher würde er auch mal einen Fehler machen.

Langsam tastete sich Rick an die beiden heran. Er blieb völlig still und behielt auch seine beiden Arme oben, aber schlich Schritt für Schritt näher.

Plötzlich stand der Hippie auf und zielte weiterhin mit der Kanone nach ihm. "Stehen geblieben!" Er sah ein selbstgefälliges Grinsen auf Hazard Gesicht. "Ich meine es ernst!", bekräftigte er weiter.

"Blair."

Sofort wandte sich Blair an seinen verletzten und halb bewusstlosen Partner, der gerade seinen Namen geflüstert hatte. Rick nutzte diese unaufmerksame Sekunde und langte vorwärts. Blair sah es aus seinem Augenwinkel und schoss instinktiv. Im gleichen Moment bereute er es, denn er sah Hazard schon bildlich vor sich - tot - und er würde ihn erschossen haben. Er wollte keinen Menschen umbringen.

Aber dazu kam es gar nicht. Als Blair den Abzug der Pistole drückte, kam nur ein lautes "Wusch". Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätten sie gesehen, wie etwas Wasser aus dem Lauf geflossen kam. Blair hatte die Waffe aus dem überfluteten Handschuhfach des Pick-ups. Durch das lange Liegen im Wasser war sie nutzlos geworden. Vermutlich war noch etwas Schlamm in den Lauf geraten.

Rick war erst steif vor Schock, als er glaubte, dass nun sein letztes Stündchen geschlagen habe. Aber als er bemerkte, dass Sandburgs Waffe unbrauchbar war, stürmte er weiter auf ihn zu und riss ihn zu Boden ins Wasser.

Laura beobachtete angestrengt den Kampf zwischen Rick und Sandburg, der von lautem Plätschern begleitet wurde. Schließlich stand eine Person auf. Sie konnte erkennen, dass er eine Pistole Richtung Boden hielt, wo die zweite Person noch lag.

"Aufstehen", fauchte Rick und zog seinen Widersacher grob hoch. Die Pistole warf er kurzerhand in den strömenden Fluss. Stattdessen zückte er jetzt ein Messer aus seinem Stiefel und drohte Blair damit.

Sie konnten von Glück sprechen, dass sie sich hier in einem Teil des Flusses befanden, wo er seitlich viel seichtes Wasser zum Ufer führte. Sonst wären sie vermutlich vorhin weggespült worden. Obwohl der Fluss an dieser Stelle allgemein nicht ganz so wild war.

"Blair", flüsterte Jim wieder in Bewusstlosigkeit.

"Halt die Klappe", zischte Rick zu Jims stiller Form. Er schnappte sich Sandburg und warf ihn in Richtung seines Partners. Blair kam hart neben seinem Freund auf.

"Mach mich von den Dingern hier los, Rick!", rief Laura ihrem Partner zu. Rick lief hinüber, aber behielt seine beiden Gefangenen die ganze Zeit mit Hilfe der Taschenlampe - die wie ein Wunder noch unbeschadet brannte - im Auge. Er begann an Lauras Handschellen herumzuwerkeln.

"Hey Jim", flüsterte Blair seinem Sentinel zu. "Jim?" Er tastete nach einem Puls und war geschockt. Jim fühlte sich nicht nur zu kalt an, sondern sein Puls war auch viel zu langsam.

"Blair", flüsterte Jim so leise, dass Sandburg sich sehr anstrengen musste, es hören zu können. "Blair..." Dann hustete der Sentinel.

"Jim, du solltest besser nicht sprechen", beschwichtigte Blair.

"Bitte... geh... nicht."

Blair blinzelte einige Male verwirrt. "Was? Wohin soll ich denn gehen, Jim?"

"Bitte... verlass mich... nicht..." Die Stimme des Sentinels driftete ab.

"Jim?" Panik überkam Blair. "Jim? Wovon sprichst du? Jim? Jim! Hey, halt durch!" Er rüttelte an seinem verletzten Freund, aber erhielt keine Reaktion. "Jim!"

Inzwischen hatte Rick es geschafft, Laura aus den Handschellen zu befreien. Er hatte sie nicht besonders fest zugedreht, so dass ihre Hände mit ein bisschen Hilfe des Messers und Ricks Geschick mit schwierigen Schlössern recht schnell befreit werden konnten.

Daraufhin lief Rick auf Sandburg zu. "Und nun komme ich endlich zum angenehmeren Teil..."

Blair wünschte, er hätte heute auch sein Schweizer Taschenmesser dabei, aber wie es immer so ist, hatte er es ausgerechnet dann, wenn er es am meisten brauchte, nicht mit.

Er stolperte etwas nach hinten ins seichte Wasser um so Platz zwischen sich und seinem Angreifer zu schaffen. Plötzlich fühlte er etwas hartes zwischen seinen Händen.

"Sag gute Nacht, Hippie!", schrie Rick und stürzte sich auf sein Opfer. Im gleichen Moment riss Blair die Pistole, die er im seichten Wasser gefunden hatte, wo Laura sie nur wenige Minuten zuvor hingeworfen hatte, in die Luft und feuerte. Im Gegensatz zum letzten Mal gab es diesmal einen lauten Knall.

Hazard fiel bewusstlos zu Boden - nur einige Zentimeter vor ihm. Die Taschenlampe, die er dabei fallen gelassen hatte, geriet ins Wasser und leuchtete dort weiter. Erst dadurch konnte Blair geschockt erkennen, dass das Wasser sich mit einer dunkleren Flüssigkeit vermischte.

"Rick!", schrie Laura von hinten und eilte herbei. Blair schnappte nach der Lampe und visierte die Frau mit der Pistole und dem Lichtstrahl an. Vorsichtig nahm er sich Hazards Messer, stand auf und entfernte sich ein wenig. Er traute sich nicht, den Killer, der regungslos im niedrigen Wasser lag, anzuschauen. Er musste in Horror daran denken, dass er vermutlich eine Person umgebracht hatte.

Laura war abrupt stehen geblieben, als sie mit einer Waffe bedroht wurde. Blair sah Angst und Panik in ihrem Gesicht widerspiegeln. "Na schön", meinte er zu ihr. "Schau nach ihm. Aber keine Tricks."

Sofort schnellte sie zu ihrem Geliebten. Sie flüsterte einige beschwichtigende Worte, wie vor nur wenigen Minuten das Blair bei Jim getan hatte.

Jim!

Blair behielt dieses Mal die beiden gut im Auge, denn er wollte nicht noch einmal einen unachtsamen und vermeidbaren Fehler machen. Dennoch kniete er sich zu seinem Freund und fühlte nach einem Puls. Zuerst fand er keinen und sein Herz blieb fast stehen vor Angst. Dann spürte er ihn - ein schwaches und sehr langsames Pochen.

"Oh Jim", flüsterte er mit zittriger Stimme.

"Sandburg?"

Plötzlich fand sich Blair in einem großen, hellen Lichtstrahl. Er blickte sich die Richtung um, aus der die Lichtquelle kam. Auf ihn kamen zwei Männer zu.

"Simon?", rief Blair verzweifelt, der die Stimme des Captains erkannt hatte. "Mann, bin ich froh, Sie zu sehen!"

Banks kam näher. Blair erkannte, dass er noch Joel bei sich hatte. "Alles in Ordnung bei Ihnen? Wir haben einen Schuss gehört?", fragte Joel besorgt. In der Zwischenzeit lief Simon zu den beiden Auftragskillern hinüber und legte Laura in Handschellen. Sie wehrte sich nicht, sondern schluchzte nur laut und flüsterte immer wieder Ricks Namen.

"Helfen Sie Jim bitte!", erwiderte Blair flehend. Erst jetzt sahen die beiden Detectives die stille, liegende Form vor Blair. Joel leuchtete hinüber und flüsterte "Oh mein Gott." Simon war nicht weniger geschockt und rief per Handy direkt Verstärkung und Ambulanz herbei.

Während Joel versuchte, den wie gelähmten und unter Schock stehenden Blair zu beruhigen, betrachtete Simon Jim genauer. Nach nur wenigen Minuten hörte man bereits die Sirenen des Rettungswagens. Und plötzlich spürte Blair, wie Joel ihn von den Sanitätern wegzerrte. Er versuchte Jim so nahe zu sein wie möglich, aber Joel zog ihn beiseite. Er meinte etwas von "die Leute ihre Arbeit machen lassen", aber Blair wusste, dass auch er seine Arbeit machen musste. Verdammt noch mal, er war Jims Guide! Jim brauchte ihn! Und was ihn noch viel mehr in Panik geraten ließ - er brauchte Jim! Jim durfte jetzt nicht sterben!

Die Sanitäter sprachen von sehr hohem Blutverlust, einer Kopfwunde und Unterkühlung. Außerdem hätte der Sentinel auch hohes Fieber. Sie luden ihn auf eine Trage und brachten ihn weg. Blair stolperte verzweifelt hinterher, aber er durfte nicht mit in den Krankenwagen.

Er hielt noch einmal Jims Hand. Plötzlich flatterten Jims Augenlieder einen Spalt weit auf. "Blair."

"Genau hier, mein Freund", erwiderte Blair in zittriger Stimme.

Jim begann zu lächeln. "Ich wusste, du würdest mich nicht verlassen und wiederkommen." Dann fiel Jim wieder in tiefe Bewusstlosigkeit. Das Lächeln ließ Blair erschauern. Es war eines, dass er hoffte, nie bei einem Menschen sehen zu müssen, denn es bedeutete Abschied. Abschied für immer.

"Nein", flüsterte Blair und weinte. "Nein", flüsterte er immer wieder vor sich her und beobachtete in durch die Tränen verschwommener Sicht, wie Jim in den Krankenwagen geladen wurde.

Er war sich kaum noch bewusst, was dann folgte. Er wurde von Simon und Megan ins Krankenhaus gebracht. Megan war die erste, die nach Simons Anruf als Verstärkung dort erschien und bot ihrem blassen Kollegen an, dem Krankenwagen zu folgen.

Endlich im Krankenhaus angekommen begann das unermessliche Warten. Niemand wusste, was mit Jim war. Niemand kam und sagte ihm, wie es um seinen Freund stand. Niemand nahm ihm die Angst, die wie ein Dolch sein Herz durchbohrte. Was Jim vor wenigen Minuten zu ihm gesagt hatte, waren Jims letzte Worte. Das wusste Blair. Aber er wollte es nicht wahrhaben. Noch schienen die Ärzte an seinem besten Freund zu arbeiten und daran klammerte er sich. Also lebte Jim noch.

Blair dachte über Jims Worte nach. Was meinte er damit, als er zu ihm gesagt hatte, dass er wüsste, dass er ihn nicht verlassen und wiederkommen würde? Blair würde seinen Sentinel nie verlassen. Hatte Jim das nicht in all den Jahren mitbekommen?

Nach immerhin drei Stunden Wartezeit kam ein Arzt zu den Personen vor Jims OP-Raum. Blair und Megan sprangen sofort auf, während Simon starr auf seinem Stuhl sitzen blieb, da er mit dem Schlimmsten rechnete.

"Wer ist hier für Detective James Ellison?", fragte der Arzt monoton. Man sah ihm an, dass er erschöpft und müde war.

"Wir alle", erwiderte Simon und stand nun doch auf.

Blair kam Simon zuvor und fragte, was allen auf den Lippen lag. "Wie geht es ihm?"

Der Arzt atmete einmal tief durch. "Mein Name ist Dr. Ostrell. Wir haben Detective Ellison bisher erfolgreich durch die Operation bringen können." Er beobachtete, wie alle erleichtert aufatmeten. "Aber er ist noch nicht über den Berg." Jetzt spiegelte sich wieder Panik in allen Augen wider, welche er auch zuvor gesehen hatte.

"Der hohe Blutverlust hätte ihn beinahe das Leben gekostet, verursacht durch eine tiefe Wunde am Bein. Glücklicherweise dürfte dies aber keine späteren Folgen nach sich ziehen. Es wurde kein organisches Material beschädigt. Außerdem leidet er an einer leichten Gehirnerschütterung, durch einen harten Schlag auf den Kopf. Hinzu kommen ein paar Prellungen und geschundene Rippen. Was uns aber zurzeit am meisten Sorgen bereitet, ist das anhaltende Fieber. Die Wunde am Bein hat sich infiziert und die Unterkühlung tat ihr Übriges. Wir müssen jetzt erst einmal die nächsten zwölf Stunden abwarten."

"Kann ich zu ihm?", fragte Blair hoffnungsvoll. Jim lebte. Noch. Er hatte nicht geglaubt, seinen Freund noch einmal sehen zu können.

Als der Arzt sein Gesicht verzog, holte Simon seine Marke heraus und hielt sie dem Doktor vor die Nase. "Ich verantworte das. Mr. Sandburg hier ist sein Partner. Detective Ellison muss unter ständiger Beobachtung gehalten werden, da er noch immer in Lebensgefahr ist. Die Person, die ihm das angetan hat, könnte es noch einmal versuchen", log Simon und verzog dabei keine Miene.

Der Doktor nickte kurz. "Wenn das so ist, führe ich Sie zu Detective Ellisons Raum, in den wir ihn gerade verlegt haben."

Sie folgten dem Arzt. Als Blair das Zimmer betrat, in dem Jim lag, hielt er kurz geschockt inne. Jim - der sonst vor Stärke und Stolz strotzte - lag regungslos und leichenblass in einem Krankenbett. Er wirkte so zerbrechlich. Blair schossen bei diesem Anblick Tränen in die Augen.

"Im Interesse des Patienten muss ich darum bitten, dass immer nur eine Person bei ihm ist", erklärte Dr. Ostrell. "Ich lasse Sie dann jetzt alleine", meinte er und verließ daraufhin den Raum.

Schließlich legte Simon eine Hand auf Blairs Schulter. "Ich werde draußen warten. Wenn Sie etwas wollen, melden Sie sich, Sandburg." Blair nickte nur stumm und starrte dabei weiter auf seinen Freund im Bett.

Nach und nach verließen alle den Raum. Zuletzt ging Simon.

"Simon?", rief Blair und drehte sich um. Der Captain war gerade im Begriff, die Tür hinter sich zu schließen und öffnete sie noch einmal.

"Danke", flüsterte Blair. "Für die Hilfe eben gerade."

Simon nickte. "Gern geschehen. Und nun sorgen Sie dafür, dass Jim bald wieder auf den Beinen ist, ok?"

"Ja", erwiderte Blair leise und drehte sich zu seinem stillen Sentinel um, als Simon schließlich den Raum verlassen hatte.

Blair setzte sich in den Stuhl neben Jims Krankenbett und nahm vorsichtig dessen Hand, die nicht mit dem IV verbunden war, in die seine.




Sieben Stunden später, Cascade General Hospital

Die drückenden Augenlider machten es ihm schwer, aber er wusste, er müsste sie jetzt öffnen. Er lag eine ganze Weile schon so - halb wach - im Bett und hörte dem leisen Schnarchen seines Mitbewohners zu. Es war ein beruhigendes und zufriedenstellendes Geräusch; gemixt mit dem starken und regelmäßigen Pochen des Herzens seines bestens Freundes, das ihm verriet, dass es dem Menschen, der ihm am meisten bedeutete, gut ging. Dass dieser Mensch an seiner Seite war. Langsam begriff er, dass Blairs Wutausbruch von vergangener Nacht scheinbar nie stattgefunden hatte. Vermutlich hatte er im Fieber Wahnvorstellungen gehabt...

Vor wenigen Sekunden hatte das leise Schnarchen aufgehört und der Herzschlag war schneller geworden. Das bedeutete, dass Blair nun wach war.

Jim spürte, wie seine Hand ein wenig fester gedrückt wurde.

"Jim?", hörte er seinen Guide flüstern. Er wollte ihm wirklich gerne antworten, aber er fühlte sich noch nicht dazu in der Lage.

"Es wäre wirklich langsam Zeit aufzuwachen, Jim", flüsterte Blair weiter. Daraufhin hörte Jim, wie sein Freund seufzte. Es raschelte etwas, so dass er glaubte, dass Blair sich auf seinem Stuhl hin- und herbewegte.

"Na schön, mein großer Freund, wie du meinst."

Danach wurde es für ein paar Minuten still. Jim versuchte weiter seine Augen zu öffnen, aber Müdigkeit und Erschöpfung hielten ihn davon ab. Schließlich hörte er den anderen Mann wieder sprechen...

"Habe ich dir schon mal von meinem Dad erzählt?" Blair machte eine kurze Pause, als hätte er eine Antwort erwartet. "Ich glaube nicht."

Dad? Jim dachte, Blair würde seinen Vater nicht kennen?

"Ich weiß, du denkst jetzt wahrscheinlich, ich sei verrückt. Schließlich kenne ich meinen Vater nicht... Aber... Ich habe schon so lange ich denken kann dieses Bild vor Augen. Er ist groß, stark, hat ein liebevolles Lächeln und seine Augen spiegeln pure Güte wider. Mein Leben lang habe ich nach diesem Mann gesucht. Als kleiner Junge hatte ich für nichts anderes Augen. Ich suchte immer nur nach diesem Gesicht, dass mir in meinen Träumen erschienen war. Manchmal hatte er mich dann getröstet, wenn ich traurig war. Dann nahm er mich sanft in seine starken Arme und flüsterte mir aufmunternde Worte ins Ohr."

Jim spürte einen Kloß in seinem Hals, so gerührt war er bei der Vorstellung daran, wie Blair als kleiner Junge seinen Vater herbeigesehnt hatte.

"Ich habe nie ganz aufgehört nach meinem Vater zu suchen. Bis..."

Der Sentinel wartete geduldig, bis Blair weitersprach. Stattdessen spürte er, wie Blair seine Hand etwas fester drückte. Dann hörte er ein leises Schluchzen.

"...bis ich dich traf. Mir ist das bis vor kurzem nicht bewusst gewesen, aber ich habe die Suche aufgegeben. Nicht, weil ich nicht mehr daran interessiert wäre, meinen Dad zu finden. Es ist nur... Ich habe mich nach etwas - jemanden - gesehnt... Es ist, als hättest du diesen Teil übernommen. Ich würde mich hüten, zu behaupten, ich sähe in dir einen Vater, Jim. Aber du bist wie der Mann in meinen Träumen. Vielleicht zeigst du es nicht immer so, aber ich fühle mich in deiner Gegenwart so... geborgen und..."

Jim hörte Blair noch einmal schluchzen, diesmal etwas lauter. Wäre er gerade dazu in der Lage zu weinen, hätte er jetzt große Schwierigkeiten, seine Tränen, die er vor Rührung in den Augen hätte, zurückzuhalten.

"Du bist nicht so etwas wie ein Vater zu mir, aber...", erzählte Blair in zitternder Stimme weiter. Dann schluckte er kurz und begann etwas ruhiger: "Weißt du noch, wie wir in dem Club 'The Other Way' waren? Ok, mir war es auch unangenehm... Aber... Als du mich geküsst hattest..."

Jim wünschte sich, er hätte das nie getan. Er hoffte, er hätte damit nicht alles kaputt gemacht.

"...als deine Lippen die meinen berührten... Versteh mich nicht falsch, Jim, ich weiß, du tatest das nur zum Selbstschutz. Aber... Ein Teil von mir hoffte, du würdest es von dir aus machen. Dieser Teil von mir wünschte sich nichts sehnlicher. Aber ich würde es dir nie sagen, denn das könnte unsere magische Beziehung zerstören. Und das ist wirklich das Letzte, was ich möchte. Auch, wenn das bedeutet, dass ich nie zu dir sagen kann, wie sehr ich dich liebe. Und dass ich nie von dir zu hören bekomme, dass du mich auch liebst."

Zum Ende hin wurde Blairs Stimme immer zittriger. Jim hörte die Emotionen, die hinter diesen Worten steckte und er glaubte sie auch zu spüren.

Nach einigen Minuten war Jim klar, dass Blair nichts weiter mehr dazu sagen würde. Er entschloss sich nun endlich seine Augen zu öffnen - jetzt oder nie.

Es war schwierig und das grelle, einscheinende Licht tat seinen Augen weh, aber der Anblick, der sich ihm bot, machte alles wieder wett: Er blickte direkt in die überglücklichen und noch mit Tränen gefüllten, leuchtendblauen Augen seines besten Freundes. Noch nie hatte Jim so ein wundervolles Lächeln bei Blair beobachten können. Und er konnte nicht anders, als einfach zurück zu lächeln.




Sechs Tage später

"Hey Jim", begrüßte Blair seinen Mitbewohner, der gerade zur Tür ins Loft hineinkam. Blair trug noch immer einen kleinen Verband am Kopf aufgrund seiner Kopfverletzung, die glücklicherweise aber nur sehr leicht war.

Der Sentinel war seit zwei Tagen aus dem Krankenhaus. Es würde noch Tage dauern, bis Jim wieder arbeiten durfte. Er war noch etwas angeschlagen, aber wollte es sich nicht nehmen lassen, bei der Verhörung von Laura Maze und Rick Hazard dabei zu sein. Rick war zwar damals durch Blairs Schuss schwer verletzt worden, aber hatte es zu Blairs Erleichterung, ohne weitere Probleme durch die Operation geschafft und war mittlerweile Vernehmungsfähig.

Bereits gestern hatten sie die undichte Stelle im Police Department ausfindig machen können. Paul Collins war einer von Lauras Spitzeln und hatte sie mit den nötigen Informationen versorgt. Collins arbeitete noch nicht lange für die Polizei, daher war es nicht schwer gewesen ihn ausfindig zu machen. Nach dem Fund von belastenden Beweisen wurde er sofort überführt.

Jim hatte das Gefühl, als fehle noch ein Puzzle-Stück, aber alles in allem war er mit dem Verlauf der Ermittlungen, die Rafe und Brown für sie übernommen hatten, sehr zufrieden.

"Alles in Ordnung, Häuptling?", fragte Jim, als er Blairs ungewohnt ruhige und monotone Begrüßung gehört hatte. Sein Mitbewohner saß im Schneidersitz auf der Couch und blickte zur Balkontür hinaus.

"Ja", antwortete Blair schlicht. "Naomi kommt nicht. Die gesamte Aktion ist abgeblasen worden", fügte er nach einer Weile traurig hinzu.

Jim lief hinüber zur Couch. "Das tut mir leid, ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast, einmal eine 'Schamanenreise' gezeigt zu bekommen und die mitmachen zu dürfen, mit dem ganzen Trancezustand usw."

"Ja", erwiderte Blair erneut. "Weißt du, was das Schlimmste ist? Ich habe mich wirklich auf Naomi gefreut. Ich sehe sie doch so selten."

Jetzt lief Jim um die Couch herum und setzte sich direkt neben seinen Freund. Schließlich legte Jim vorsichtig und sanft seine Arme um Blair. Dieser ließ es gewähren und lächelte. Er setzte sich leicht schräg, so dass Jim ihn besser halten konnte.

"Ich weiß", flüsterte er Blair ins Ohr. "Aber sie kommt bestimmt schon bald ein andermal. Sie lässt es sich doch nicht entgehen, ihren Lieblingssohn zu sehen."

"Ich glaube du hast Recht", meinte Blair und lächelte überglücklich. Er schloss seine Augen und für einige Minuten genoss er einfach nur das herrliche Gefühl von Geborgenheit in Jims kräftigen Armen, die ihn sanft umgaben wie ein beschützendes Schild.

Nach einer Weile flüsterte Jim seinem Freund erneut liebevoll ins Ohr: "Blair?"

"Ja, Jim?"

"Ich liebe dich."


Ende


Sag es laut - wenn du mich liebst.
Sag es laut - dass du mir alles gibst.
Sag es laut - dass ich alles für dich bin.
Sag es laut - denn danach steht mir der Sinn.


Hat es euch gefallen? Ihr braucht mir nicht unbedingt zu sagen, dass ihr mich liebt *g* Aber ich würde mich freuen, wenn ihr mir schreibt, ob ihr diese Story mögt!


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