Verlorenes Gewissen

von Anja

Beta-Read von Sinaida



Teil 10




Zwischen Start und Ziel ist immer eine Strecke, die man bewältigen muss.



"Chester have you heard 'bout Harry ...", summte Blair vor sich hin. Seine Augenlider waren schwer wie die Titanic und sanken noch schneller.
"... just came back from the army ..."
Seine Stimme hallte seltsam laut in dem kleinen Raum.
‚Nur für eine Sekunde ...', dachte Blair. ‚Wenn ich sie nur für einen Augenblick schließe, heißt das nicht, dass ich sofort einschlafe.'
Müdigkeit lag über ihm wie eine schwere Wolke, die eine Bergspitze bedeckt.
‚Nur eine klitzekleine Sekunde ...'
"Es regnet."
Erschrocken öffnete Blair die Augen und sah sich um.
Hatte er gesprochen? Und wenn ja, warum hatte er plötzlich eine Mädchenstimme. Seine Müdigkeit schien vergessen als er sich räusperte. Er sang weiter und lauschte seiner eigenen Stimme: "I hear his voice, I touch his toes ..."
‚Eindeutig männlich. Doch wo kommt dann die Mädchenstimme her?'
"... hipp hipp hurray, from the army ..."
"Kannst du den Regen hören? Du kannst ihn schmecken, er riecht wie getrocknetes Heu. Der Boden ist weich und das Leben in der Erde jubiliert."
Wieder eine Mädchenstimme und diesmal kam sie Blair unheimlich nah vor. Ein leises Flüstern an seinem linken Ohr.
"Ich höre ihn.", antwortete Blair halb neugierig, halb ängstlich, und sah durch das Fenster welches auf Rasenhöhe lag. Er sah das Grün wilder Wiesengräser und große Regentropfen klatschten gegen das milchige Glas.
"Es regnet.", stellte er überrascht fest.
In der Ferne hörte er ein tiefes Grummeln, wie ein schwerer Laster über Kopfsteinpflaster.
"Wer ist da?", fragte er in den leeren Raum. Erneut zog er leicht an seinen metallen Fesseln. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Bewegung an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er drehte den Kopf in die entsprechende Richtung und sah erstaunt ein Mädchen mit angewinkelten Knien an der kahlen Wand lehnen. Ihre Umrisse waren undeutlich und Blair hatte Probleme seinen Blick auf ihre magere Gestalt zu konzentrieren. Sie schien beinahe transparent, wie Pauspapier auf schwarzer Tapete. Ihr Kopf drehte sich langsam und sah zum Fenster.
"Du musst genau hinhören und du wirst ihn singen hören.", klang es wieder an Blairs Ohr. Das Mädchen sah ihn mit durchdringendem Blick an, doch ihre Lippen blieben geschlossen.
"J.D?" Blair kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. "Das muss ein mächtiger Schlag auf meinen Hinterkopf gewesen sein.", murmelte er leise. "Wo sind wir?", fragte er diesmal lauter.
J.D neigte ihren Kopf zur Seite und auch diesmal blieben ihre Lippen verschlossen während ihre flüsternde Stimme in seinem Kopf erklang.
"Ein Versteck. Keine Angst, hier wird er dich nicht finden."
"Wer? Kennedy?", fragte Blair. "Das wäre aber auch zu schön. Dummerweise hat er mich hierher gebracht."
Blair schloss gleichgültig die Augen und er fühlte wie warme Flüssigkeit hinter seinem linken Ohr und an seinem Nacken entlang lief.
"Hier bist du sicher. Der Krieg ist lang vorbei. Jetzt ist der Raum voll teurer Weinflaschen."
"Du solltest unbedingt beim Thema bleiben, J.D."
Blair sah sich erneut um. Der Raum war noch immer leer und von Weinflaschen keine Spur.
"Es regnet.", sagte die Stimme hartnäckig und ein verzweifelter Unterton schwang in der dünnen Stimme.
"Jaja, ich hab's gesehen.", antwortete Blair verwirrt.
"Du musst hinsehen!", befahl die Stimme und Blair sah sich um. Es war bereits sehr dunkel und die Gestalt des Mädchens war kaum mehr als ein schwarzer Fleck in der noch schwärzeren Umgebung.
"Wenn du etwas Produktives zu meiner Rettung beitragen könntest, dann wäre ich dir unendlich dankbar.", bemerkte Blair und zischte durch die Zähne, als er seine wunde Haut erneut an dem harten Metall rieb bei dem Versuch seine Hand durch die Fessel zu drängen.
‚Na toll, jetzt diskutiere ich schon mit einem Geist.'
Doch eine Welle Übelkeit verdrängte den Gedanken. Er konzentrierte sich darauf seinen Mageninhalt zu behalten, schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus.
"Du musst genau hinhören.", drängte die Stimme weiter und in dem Moment erfüllte ein dumpfes Grollen die Atmosphäre. Blair fühlte den Boden unter sich beben und sah zum Fenster hinaus. Ein greller Blitz erhellte den schmalen Streifen Nachthimmel, der durch das Fenster zu sehen war.
"Was machst du hier?", wollte Blair wissen und wandte seinen Blick wieder von dem Stückchen Freiheit ab.
"Ich wollte nicht alleine bleiben."
‚Na dann wären wir ja schon zu zweit'


Die Bewerbungsunterlagen waren vor ihm ausgebreitet und das farbige Foto des Mörders schien sich über Jim lustig zu machen. Das ernste Gesicht Keneedys sah ihn mit intelligentem Blick an als wolle er ihm sagen, wie verdammt dumm er doch war. Und verdammt untätig.
"Das ist Charles Keneedy.", bestätigte Jim trocken und checkte die anderen Angaben.
"Was hat er getan, wenn ich fragen darf?"
Diana Kuppling sah dem Detective über die Schulter.
"Er hat in den letzten zwei Monaten sieben Frauen umgebracht.", erklärte er ohne Umschweife.
Die Frau zuckte merkbar zusammen und warf einen nervösen Blick auf Jim.
"Das ... das wusste ich nicht.", entgegnete sie.
"Schon klar."
Der Detective hatte seine Konzentration wieder auf die Unterlagen gerichtet und sah nicht auf als er weiter sprach: "Sie hätten ihn wohl kaum eingestellt, wenn er "kaltblütiger Mörder" unter sonstige Referenzen stehen hätte."
Jim war wütend und das sollte die Professorin ruhig wissen. Jeder sollte es wissen. Und jeder sollte wissen, dass man sich nicht mit einem Sentinel und seinem Guide anlegte.
"Kann ich etwas tun, um zu helfen?"
Einen Moment lag schwieg Jim und drehte sich dann zur Tür als er Rafes Schritte hörte. Die Tür zu dem Büro öffnete sich und noch bevor der andere Detective den Raum betreten hatte, stellte Jim bedrückt fest:
"Er ist nirgends aufzutreiben."
Rafe setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber kurzerhand anders und schüttelte schließlich traurig er den Kopf.
"Aber wir haben etwas anderes gefunden. Das solltest du dir ansehen."
Der Sentinel nahm die Dokumente von Tisch und stopfte sie zurück in die Mappe.
"Die nehme ich mit.", stellte er klar. Professor Kuppling wollte protestieren und ihr Mund bewegte sich einige Male auf und zu bevor sie unter Jims scharfem Blick klein bei gab. Ihre Schultern sackten ab.
"Natürlich, Detective."
Hastig trat Jim in den Flur und fiel neben Rafe in einen schnellen Schritt.



Teil 11




Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es doch nicht verstehen würden. (Jostein Gaarder)



"Was gibt es?"
"Wir haben vermutlich die Mordwaffe.", antwortete Rafe.
"Was noch?"
Jim konnte Simons gestresste Stimme von weitem hören. Die unangezündete Zigarre knisterte zwischen den Zähnen des Captains und er gab einen wütenden Kommentar an einen Mitarbeiter der Spurensicherung.
"Dieser Keneedy ist krank.", knirschte Rafe zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Er hat Fotos von seinen Opfern gemacht.", ergänzte er und zeigte zum Ende des Ganges, wo eine Tür offen stand und ein Uniformierter davor mit blasser Miene Wache hielt.
Es war Rafe deutlich anzusehen, dass er seine liebe Mühe hatte, sein Abendbrot da zu behalten, wo er es von einer Stunde erst hingeschluckt hatte.
"Blair?"
Rafe schüttelte den Kopf.
"Keine Spur, tut mir leid."
Das Unwetter rüttelte gnadenlos an den alten Gemäuern und Jim fluchte leise, als das Donnern sein Gehör malträtierte.
In den Ohren des Sentinels klang das Donnern nicht einfach nur laut. Das Scheppern von tausenden aufeinander prallenden Werkzeugkoffern malträtierte sein Trommelfell. Unzählige Lawinen tobten die Berghänge hinunter, alle Autos der Welt veranstalteten ein Hupkonzert und Marylin Manson plärrte "Tainted Love" in 10.000 Watt - starke Mikrophone - a capella.
"Verdammt!" zischte Jim.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Doch es war die falsche Hand und so sehr Jim Rafe auch gern hatte, er wünschte sich im Moment nichts sehnlicher als die Hand seines Guides auf seinem Arm liegen zu haben.
"Wir werden ihn schon finden.", versicherte Rafe.
"Natürlich."
Sie waren im Büro Keneedys angekommen. Es wimmelte hier nur so von Leuten die wahrscheinlich höchst unwissentlich Beweismittel vernichteten. Allein der Geruch von sieben verschiedenen Aftershaves und vier unterschiedlichen Kaugummisorten hing in der Luft.
"Ellison!", tönte Simons Stimme und erneut zog Jim schmerzhaft die Luft ein.
"Jim? Alles in Ordnung?", fragte er leise und seine grimmige Miene drückte trotz schlechter Laune Sorge aus.
‚Nein, verdammt! Nichts ist in Ordnung! Blair wird vermisst. Meine Sinne spielen "Hasch-mich" mit meinem Verstand und wenn ich nicht bald meinen Guide an meiner Seite habe bin ich niemandem mehr eine Hilfe außer der klingelnden Kasse meines Pychologen.'
"Ging nie besser."
Er vermied den Blick seines Vorgesetzten und sah sich in dem Büro um.
Überlagert vom Geruch verschiedener Genussmittel und Hygieneartikeln lag der bittere Gestank von kaltem Blut. Die Ursache war schnell ausgemacht. Der graue, metallene Schrank an der hinteren Wand war weit geöffnet und darin sah Jim sieben Schalen, gefüllt mit der rotbraunen Flüssigkeit. In einigen Schalen war das Blut bereits so stark angetrocknet, dass die bunte Keramik eine schwarze Farbe angenommen hatte, die aussah wie angekokelt. In drei der Schalen war das Blut zu einem gallertartigen Klumpen geworden und schwamm in einer gelblichen Masse.
Die Rückwand des Schrankes war mit Papierfetzen beklebt und die Zahlen eins bis sieben waren mit rotem Blut dazwischen geschrieben, sodass die gesamte Struktur aussah wie eine makabre Collage von Zeitungsausschnitten, Fotos und seltsamen Zeichnungen.
"Was ist das?", fragte Jim und trat näher. Er ließ sein Auge über das Gebilde wandern und unterdrückte die aufsteigende Übelkeit mit erzwungener Professionalität.
Die ermordeten Frauen sahen mit leblosen Augen in die Kamera, die Lippen teils geöffnet, als ob sie selbst im Tode nach Hilfe schrieen. Neben den Schalen lag ein einfaches Küchenmesser, mit einer sorgfältig gereinigten Klinge.
"Ein Tagebuch.", wurde seine Frage beantwortet.
Jim drehte sich um und sah Rafe, der neben Simon stand und den Schrank mit angeekelter Grimasse anstarrte.
"Ein Tagebuch?"
Simon sah seinen Detective mit hochgezogener Augenbraue an.
"Diese Seminare letztes Jahr in Seattle sind offenbar doch zu etwas zu gebrauchen." Rafe zuckte mit den Schultern.
"Ein Tagebuch.", wiederhole Jim nachdenklich.
"Was ist um Himmels Willen aus den kleinen Büchern und rosa Umschlägen geworden, in die sich Freunde gegenseitig sinnlose Sprüche über ewige Freundschaft eintragen?", schimpfte Simon lauthals.
"Captain Banks, hier gibt es was Interessantes.", sagte einer der Forensiker und hielt eine kleine Tüte zwischen seinen Latex-behandschuhten Fingern.
"Was ist das?", fragte Simon, während sich Jim ebenfalls Handschuhe überzog und den Inhalt der Tüte auf dem Schreibtisch ausleerte.
"Ritonavir, Zidovudin und ..."
Er drehte die Medikamentenpackung ein paar Mal hin her und suchte nach der Aufschrift.
"... 3TC!"
"Die kriegt man nicht in jeder Apotheke an der Ecke."
"Und du weißt das so genau weil ...?" wollte Jim wissen und sah Rafe fragend an.
"Meine Nachbarin hat lange diese Medikamente genommen. Sie werden als Kombination verabreicht in den fortgeschrittenen Stadien von AIDS."
Bis auf das Klappern und Schlurfen der Forensiker wurde es still. Die Stimmen der Mitglieder vom Cascade PD erstarben.
"Er hat also AIDS.", sprach Simon das Offensichtliche aus.
"Doch wie hängt das mit den Morden zusammen?"
Fragend sah Simon in die Runde.
"Vielleicht überhaupt nicht.", antwortete Rafe und zuckte mit den Schultern.
Jim sah zurück in den Schrank und dann auf die Medikamente.
"Nein, nein. Das macht schon irgendwie einen Sinn."
"Sie sehen in diesem ganzen makabren Zirkus einen Sinn, Ellison?" Simon nahm die Zigarre aus dem Mund und starrte seinen Detective mit misstrauischem Blick an. "Sollten wir uns Sorgen um Sie machen?"
"Sehen Sie, am Anfang dachte ich, es ginge dem Mörder darum, schwangere Frauen zu ermorden. In dem Falle wäre das ungeborene Kind vermutlich das Motiv gewesen. Doch das letzte Opfer war nicht schwanger." Er hielt inne und überlegte.
"Vielleicht wollte er sie gar nicht ermorden. Vielleicht war sie nur ein Unfall.", gab Rafe zu bedenken.
"Keneedy ist doch nicht zufällig in das Haus des Opfers eingedrungen und hat sie mal so nebenbei im Schlaf erstochen."
"Und was ist wenn sie nun was gewusst hat? Und Keneedy wollte sie zum Schweigen bringen?"
"Meine Herren, wir greifen hier nach Strohhalmen.", schnitt Simon in das Gespräch.
"Das glaube ich nicht, Captain.", sagte Jim und strich sich nachdenklich über die Stirn.
"Vielleicht ist meine Theorie etwas weit hergeholt, doch was ist, wenn die Morde eine Art Racheakt sind?"
Er sah seine beiden Freunde kurz an und als diese erwartungsvoll schwiegen fuhr er fort.
"Nehmen wir rein hypothetisch an, er hätte sich durch einen One Night Stand mit AIDS infiziert. Das könnte für jede Menge Rachsucht gegenüber sexuell aktiven Frauen sorgen. Es muss ja noch nicht einmal ein One Night Stand gewesen sein. Vielleicht war er für längere Zeit mit einer Frau zusammen, die ihn bewusst oder auch unbewusst mit dem Virus infiziert hatte."
"Aber genug Rachsucht um sie alle umzubringen? Fremde Frauen?" warf Rafe ein und schüttelte angewidert den Kopf.
"Wir wissen doch, wie viele kranke Psychopathen es allein innerhalb dieser Stadtmauern gibt."
"Allerdings sehe ich da noch ein Problem.", begann Rafe und räusperte sich. "AIDS ist wirklich keine Krankheit die man so einfach verbergen kann. Insbesondere wenn man in einem Sanatorium arbeitet. Gesundheitsatteste und ähnliches sind Voraussetzung für eine Einstellung."
"Der Mann war ein renommierter Frauenarzt mit genug Beziehungen und eigenem Wissen. Er hätte die benötigten Dokumente mit Leichtigkeit manipulieren können."
"Punkt für Ellison." brummte Simon.
"Damit hätten wir also ein mögliches Motiv. Doch wie passt hier Sandburgs Verschwinden rein?", fragte Rafe und erntete einen verbissenen Blick von Jim.
"Gar nicht! Das ist höhere Gewalt.", murmelte der Sentinel frustriert und stopfte das Beweismaterial zurück in die Tüte. "Dagegen kommen wir nicht an."
"Sie hätten Profiler werden sollen, Ellison!", murmelte Simon und verließ kopfschüttelnd das Büro.
"Was nun?", erkundigte sich Rafe leise und legte Jim eine Hand auf die Schulter.
Jim schwieg ein paar Sekunden und wandte sich dann an seinen Kollegen.
"Ich werde diese Mandy aufsuchen. Vielleicht hat sie was gesehen."
"Hast du was dagegen, wenn ich dich begleite?"
"Simon hat seine Finger aber auch überall im Spiel."
Ohne Antwort grinste Rafe schief und folgte Jim aus dem Zimmer.


Fortsetzung folgt...

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