Verlorenes Gewissen

von Anja

Beta-Read von Sinaida



Teil 6




Wie war das mit dem Wald und den vielen Bäumen?



"Man kann dich keinen Moment aus den Augen lassen, Blair Sandburg!", grummelte Jim und stieg in seinen Truck, der vor dem Haupteingang des Sanatoriums parkte.
"Tut mir echt leid, Mann. Ich war so vertieft in meine Lektüre - da habe ich wohl die Zeit vergessen.", entschuldigte sich Blair.
"Jaja, schon gut! Hör auf dich zu entschuldigen. Das hat deine neue Flamme schon genug getan. Ich glaube sie hat sich ganz nebenbei auch für das Regenwaldsterben, das Ozonloch und Ravioli in Büchsen entschuldigt."
Blair warf seinem grinsenden Partner einen bösen Blick zu.
"Sie ist nicht meine neue Flamme."
"Sie hätte auf den Zettel mit ihrer Telefonnummer am liebsten viele kleine Herzen gemalt."
"Woher willst du das denn wissen, Jim? Hast du es gerochen?", fragte Blair mit hoch gezogenen Augenbrauen und verschränkte zur bildlichen Unterstützung die Arme vor seiner Brust.
"Nein! Ich habe Augen im Kopf. Und damit meine ich nicht Sentinel Augen.", konterte Jim und freute sich innerlich, da Blair offensichtlich die Worte ausgegangen waren.
Was für ein Tag!
Halleluja!
Sie schwiegen ein paar Minuten, bis Blair die Stille nicht mehr aushielt und Jim hörte wie sich der Mund seines Partners öffnete noch bevor er ein Wort herausbrachte.
"Willst du nun hören was ich herausgefunden habe, oder nicht?"
Jim wartete mit seiner Antwort.
"Ji-im!"
Jim wandte seinen Blick für einen Moment von der Straße ab und betrachtete seinen Partner.
"Ich bin sicher, ich werde es bereuen."
Blick wieder auf die Straße.
"Nun erzähl schon."
"Oh Jim, das wirst du mir kaum glauben.", begann Blair aufgeregt.
Er wiederholte was er gelesen hatte und ließ kein einziges Detail aus - zu Jims Leid. Als er an der Stelle mit der Wäschekammer endete sah er zu seinem Partner rüber und wartete auf ein Kommentar.
"Aha?" antwortete Jim mit fragendem Unterton.
"Aha? Jim!", rief Blair aus.
Sie waren inzwischen im Prospect Avenue angekommen und Jim parkte den Wagen.
"Ich glaube wir haben es mit dem Geist von Jane Doe zu tun.", platzte Blair heraus und er wartete nicht einmal auf eine Bemerkung von Jim als er fortfuhr.
"Die Todesfälle in der Klinik betrafen ausschließlich das Personal und - was auch äußerst auffällig ist - beinahe alle Opfer standen im Verdacht die Patienten zu misshandeln."
Sie betraten den Lift und Jim drückte den Knopf für das zweite Obergeschoss. Sekunden später öffneten sich die schweren Metallplatten mit einem leisen Zischen und sie traten auf den Flur zum Appartement 307.
"Und dann? Ist unsere Jane Doe als Racheengel auferstanden und tötet alle Menschen die ... äh ... die böse sind?"
Jim schloss die Tür zum Loft auf und trat ein.
"Nun ja, wenn du das so ausdrückst, hört es sich schon etwas seltsam an."
"Es hört sich nicht nur so an, Häuptling. Und jetzt komm rein oder willst du da draußen Wurzeln schlagen?"
Blair sah sich eine Sekunde lang verwirrt um, so als hätte er gar nicht bemerkt, dass sie bereits angekommen waren, und trat dann endlich ein.
Hinter sich schloss er die Tür, während Jim bereits in der Küche nach etwas Essbarem suchte.
"Jim, ich weiß ja selber dass sich das verrückt anhört, aber...."
Blair redete nicht weiter und Jim sah von seinen gewaschenen Tomaten auf.
"Alles in.... Blair!"
"Schon gut, Jim. Es ist nur Nasenbluten.", verteidigte sich Blair mit nasalem Ton. Er hielt sich die Nase zu und legte den Kopf nach hinten. Jim führte seinen Partner vorsichtig zur Couch und drückte ihn behutsam in die Kissen.
"Bleib sitzen!"
"Aber...!"
"Bleib sitzen, Häuptling! Sonst klebe ich deinen Hintern persönlich auf die Polster."
"Das würdest du ni..."
Ein undefinierbares Grunzen kam aus dem Badezimmer, wo Jim ein Handtuch befeuchtete.
Also fügte sich Blair seinem Schicksal und lehnte sich in das weiche Sofa.
"Ist dir aufgefallen, dass du ständig dieses Nasenbluten bekommst, wenn du über diese Sache redest?"
"Was, wirklich?"
Verwundert nahm Blair das nasse Handtuch von der Stirn nur um es eine Sekunde später von Jim erneut ins Gesicht gelegt zu bekommen.
"Blair, das Handtuch!"
"Jaja, beruhige dich, Mann. Das ist schließlich nicht das erste Mal dass wir es mit einem Geist zu tun. Und damals hast du damit angefangen, wenn ich recht erinnere."
"Oh!" Jim legte nachdenklich die Stirn in Falten. "Molly."
"Oh ja, Jim. Genau die."
"Mir gefällt die Sache nicht. Und es gefällt mir nicht, dass du dich da so hinein steigerst. Du hast keine Ahnung ob die ganze Sache gefährlich werden könnte.", sagte Jim und ging zurück in die Küche um weiter das Essen vorzubereiten.
"Ich steigere mich nicht herein. Ich finde die Sache nur sehr faszinierend. Das ist ein gutes Beispiel für eine Sozialstudie. Kriminelle, amoralische Vorfälle innerhalb einer örtlich abgegrenzten Gesellschaft, die über den Tod hinaus Konsequenzen haben."
Das Nasenbluten hatte aufgehört und Blair gesellte sich zu Jim.
"Gibt es irgendeine Gesellschaftsstruktur, aus der du keine Diplomarbeit machen möchtest?"
Blair überlegte einen Moment.
"Jetzt wo du es sagst, Fahrradvereine sind mir ein Rätsel."
Jim rollte mit den Augen.


Die Pasta war aufgegessen und das Bier kalt gestellt als sich die beiden nach dem Essen vor dem Fernseher nieder ließen. Eine Zeit lang sahen sie einer dicken kleinen Dame beim Pfannen reinigen zu. Schließlich knipste Jim den Fernseher aus.
"Was ist, Jim?"
"Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl bei diesem Fall etwas übersehen zu haben."
"Du meinst den Geist?"
"Was? Nein, ich meine unseren Fall."
"Oh!", stöhnte Blair.
"Bei all dem verrückten Zeug habe ich das total vergessen. Hast du was entdeckt?"
"Während du deine Nase in vergilbte Zeitungsartikel aus dem vergangenen Jahrhundert gesteckt hast...", daraufhin erntete er einen brummigen Laut von Blair "... war ich in Keneedys alter Praxis und habe mich etwas umgeschaut."
"Und hast du etwas gefunden?"
"Ich habe einige Akten mitgehen lassen. Ich bezweifele stark, dass sie belastendes Material beinhalten. Immerhin hatte der Doktor alle Zeit der Welt sie verschwinden zu lassen. Aber ich werde sie mir morgen mal genauer ansehen."
"Ich habe morgen um 10 eine Vorlesung. Ich kann dann so gegen Mittag im Revier sein. Wir könnten die Dokumente gemeinsam durch gehen."
Jim erhob sich mit einem Seufzer und ging die Treppe zu seinem Bett hinauf.
"Sicher, Häuptling. Gute Nacht."
Blair blieb noch für einige Minuten sitzen und verkroch sich dann nach einer kurzen Dusche unter seiner Decke. Sein letzter Gedanke galt dem Bier, das ungeöffnet im Kühlschrank vor sich hin fror.
‚Was für eine Verschwendung.'



Teil 7


- PG-13 -



Der Tag geht zu Ende und die Nacht beginnt ihren Triumph.



Das schrille Telefonklingeln durchschnitt die morgendliche Stille des Lofts. Das Tageslicht schien noch etwas nebelig durch die geöffneten Fenster und das laute Geräusch passte nicht in die seltsam friedliche Atmosphäre. Aufgeschreckt aus seinem Tiefschlaf wirbelte Jim mit geschlossenen Augen herum und nahm hastig den Hörer ab.
"Hallo.", krächzte er heiser ins Telefon.
"Jim, verdammt. Wieso schlafen Sie noch?", hörte er Simon bellen. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihm die Zeit.
"Simon?", fragte Jim verwirrt. "Es ist elf nach fünf."
"Sag ich doch. Was ist nun? Bewegen Sie ihren Hintern aus dem Bett und kommen Sie in die Mable Rd. 3627." Schwerfällig erhob sich Jim und streckte sich während er mit einer Hand den Hörer am Ohr hielt.
"Was ist los? Gab es einen weiteren Mord?"
"Nein, ich möchte Sie meiner Mutter vorstellen.", gab Simon genervt zurück und Jim hörte durch die Leitung wie sein Vorgesetzter tief Luft holte um seine Nerven etwas zu beruhigen.
"Ja. Eine junge Frau. 28 Jahre, Name Marissa Oy. Es sieht nach einer verdammten Schweinerei aus. Sie hat sich wohl mächtig gewehrt."
Jim hatte inzwischen eine Hose aus dem Schrank geholt und zog sie dank einiger Verrenkungen an, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt.
"Ich bin sofort da.", beendete er das Gespräch und schlich die Treppe hinunter. Ein Blick in Blairs Zimmer und Jim war erleichtert, dass sein Partner leise vor sich hin schnarchte, einen friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht.
Hastig kritzelte Jim ein paar Worte auf einen Notizzettel. Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf die unbearbeiteten Dokumente, die er erst gestern aus der Praxis des Verdächtigen mitgenommen hatte.
‚Die werden dann wohl warten müssen', seufzte er innerlich und schloss die Tür leise hinter sich.

Die besagte Schweinerei stellte sich als ein wahres Gemetzel heraus. Der Geruch von Blut begrüßte Jims Nase noch bevor er seinen Truck geparkt hatte und das alte Mehrfamilienhaus betrat.
"Morgen, Jim!", Simon kam ihm entgegen und lenkte ihn mit einer Hand auf seinem Arm in eine etwas ruhigere Ecke.
"Wo ist Ihr Schatten?"
Einen Moment lang sah Jim Simon verdutzt an.
"Oh, Blair? Er schläft noch. Gegen Mittag kommt er ins Revier."
"Nagut, aber ich will nicht, dass Sie während der Untersuchung einschlafen."
"Zonen, Simon! Ich schlafe nicht, ich zone!"
"Was auch immer.", brummte der Captain und warf einen unwirschen Blick auf die rege Aktivität um sie herum. Mitarbeiter des forensischen Teams nahmen Fingerabdrücke von den unmöglichsten Ecken. Das Geräusch eines kleinen Staubsaugers surrte im Hintergrund und die Sanitäter warteten ungeduldig darauf, die Leiche der Frau zur Untersuchung mitnehmen zu können.
"Was gibt es denn... außer dem Offensichtlichen?", Jim deutete auf das blutige Bett.
"Keine Zeugen, keine Beweisstücke, kein gar nichts."
"Also das Übliche."
Jim ließ seine Schulter absacken.
"Wie war ihr Name doch gleich?"
"Marissa Oy. Keine Familie außer dem Stiefvater in Newark. Sie jobbte als Kellnerin in einer Bar nahe Osmond Bridge."
"War sie ebenfalls schwanger?"
"Negativ. Doch sie hatte Keneedy als Gynäkologen."
"Wer hat sie gefunden?"
"Die Nachbarin hat die Polizei gerufen nachdem ihr Hund die ganze Nacht die Wand angebellt hat."
"Sie hatte einen Hund?"
"Die Nachbarin."
"Ah."
Jim begann die Räume der Wohnung zu durchqueren und ließ seinen Blick schweifen. Das forensische Team hatte gute Arbeit geleistet. Auch Jim konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Seine Augen betrachteten jeden Staubkrümel und jedes Haar. Doch nach einer halben Stunde intensiven Suchens begann die Hoffnung zu sinken und die Kopfschmerzen sich zu multiplizieren.
"Das bringt doch nichts.", schimpfte Jim und rieb sich die Nasenwurzel.
"Dieser Kerl muss doch irgendetwas hinterlassen. Einen Fußabdruck oder so. Können Sie Fußabdrücke von ihm sehen, Jim?"
"Simon, diese Wohnung ist vollkommen parkettiert. Was glauben Sie denn was ich bin? Superman?"
"Nein, aber ein Sentinel.", sagte Simon, worauf hin er mit einem scharfen Blick von Jim zum Schweigen gebracht wurde.
"Geht das nicht etwas lauter? Ich glaube, der Archivar im Keller des Pentagon hat Sie noch nicht gehört." raunte Jim und warf sofort einen entschuldigen Blick auf seinen Boss.
"Tut mir leid, Simon. Ich bin wohl etwas gereizt."
Jim schloss die Augen und holte tief Luft.
‚Beruhige dich, Jim', schimpfte er über sich selbst. Er ließ die Augen noch einige Sekunden geschlossen und sammelte seine Gedanken, als ihn ein seltsamer Geruch in die Nase stieg.
Er öffnete die Augen und konzentrierte sich auf den Duft. Er war sehr schwach, doch Jim kannte ihn irgendwoher. Er versuchte ihn etwas deutlicher zu erfassen und schreckte hoch, als sich ihm einen Hand auf die Schulter legte. "Jim, Mann. Tun Sie mir doch das nicht an!", hörte er Simon rufen und erkannte das besorgte Gesicht seines Freundes unmittelbar vor ihm.
"Schon gut, Simon. Es geht mir gut.", erwiderte Jim, schob Simons Hand beiseite und begann langsam die Wohnung zu durchlaufen.
"Was ist, haben Sie was gefunden?"
Jim holte nochmals tief Luft und versuchte in dem metallenen Gestank des Blutes den chemischen Geruch auszumachen.
"Bleiche.", sagte er laut.
"Bleiche?"
"Ja, Bleiche. Wie sie bei der Wäsche benutzt wird. Eindeutig. Und ich habe das Gefühl, diesen Geruch erst vor kurzem schon einmal gerochen zu haben."
"Sie bleichen Ihre Wäsche?"
"Nein, das ist es nicht."
Jim schüttelte verwirrt den Kopf.
"Blair würde jetzt sagen, ich müsse nur meinen Geruchsinn mit meinem Gedächtnis koppeln und hätte die Verbindung."
"Ja und warum tun Sie das nicht einfach?"
"Es ist nicht so leicht wie es klingt, Simon."
Er sah auf seine Uhr.
"Und ich habe noch nicht mal gefrühstückt."
"Ich will dass Sie mit der Nachbarin reden, vielleicht hat die etwas gehört."
Jim nickte und verließ die Wohnung um seine Arbeit zu machen.

Die Nachbarin war etwa 150 Jahre alt, war halbblind - daher der Hund - und hatte ein Hörgerät, bei dem unbedingt die Batterien gewechselt werden mussten. Und Jim hatte im Anschluss an die Vernehmung eine Migräne so groß wie Kanada. Er sehnte sich nach einer Dusche, einem Donut und jeder Menge Aspirin. Doch war ihm nichts von alldem gegönnt.
Es war kurz nach 14 Uhr als er schließlich den Tatort verließ, um seinen Bericht zu schreiben.
Müde ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder und grüßte im Vorbeigehen Joel.
"Hey Ellison. Sandburg hat angerufen. Er wollte vorbeikommen wegen irgendwelchen Dokumenten, die ihr euch ansehen wolltet."
"Ja und?"
"Ich hab ihm gesagt du wärst wohl noch eine Weile unterwegs. Er sagte er wolle sich noch etwas im Sanatorium umsehen. Du wüsstest wohl wo."
Joels Miene verzog sich zu einem großen Fragezeichen.
"Was um Himmels Willen macht der Junge in einer Irrenanstalt?"
"Das ist ne lange Geschichte, Joel.", seufzte Jim und griff nach dem Telefon um seinen Partner anzurufen. "Bestimmt eine Geschichte die ich mir gerne mal anhören würde.", gab Joel grinsend zurück.





Keneedy glaubte nicht an Zufälle. Und aus diesem Grund gefiel es ihm überhaupt nicht dass diese verdammten Cops ständig auftauchten. Er hatte erst vor einer halben Stunde seinen Dienst angetreten und schon sah er aus seinem Fenster wie der kleine Volvo des langhaarigen Hippie-Cops erneut die Auffahrt hinauf rollte.
‚Verdammt! Wie haben die mich hier so schnell gefunden?', schimpfte er. Seine Hand wanderte nervös zu seinen kurzgeschorenen Haaren.
Er hatte gerade eine Sitzung mit einer Patientin und sein Blick schweifte zu der gebrechlichen Dame die in dem großen Ledersessel noch kleiner wirkte.
"Keine Sorge, Mutter. Ich lasse nicht zu dass die mir dazwischenfunken. Ich bin noch nicht fertig. Nicht wahr Mutter? Du weißt, dass ich noch nicht fertig bin? Die Wurzeln allen Übels müssen noch weiter beseitigt werden."
Er legte seine große Hand liebevoll auf das Knie der zierlichen alten Frau und sah wie seine Mutter ihn verträumt anblickte.
"Haben Sie schon mal Silberbesteck geputzt? Es ist sehr schwierig die Oberfläche glänzen zu lassen.", zirpte die Frau und legte ihrem Sohn die faltige Hand auf die Wange.
"Ich muß kurz weg, Mutter. Du wartest hier auf mich. Hast du gehört?"
Sie sah ihn mit müden Augen an und Keneedy wusste, sie hatte nicht ein Wort von dem verstanden was er gesagt hatte. Doch das war nicht von Bedeutung.
Er nahm vorsichtig ihre Hand von seiner Wange und stand auf. Die Tür hinter sich verschließend.

Zu den Teilen 8 - 9

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