Jim schloß die Tür zu seinem Apartment auf. Der Spaziergang am Strand hatte nichts gebracht, außer, daß er völlig durchnäßt war. Anstatt über den Fall nachzudenken, hatte er nichts Anderes als Sandburg im Sinn gehabt.
Er warf einen Blick auf das Telefon. Vielleicht sollte er ihn anrufen. Er hatte seine Nummer. Blair hatte sie ihm dagelassen, bevor er gegangen war, allerdings nur aus Höflichkeit, wie Jim jetzt wußte.

Er entschied sich gegen einen erneuten mitleiderregenden Versuch, Kontakt mit seinem Ex-Partner aufzunehmen. Er wußte, Blair würde nicht ans Telefon gehen. Das hatte er noch nie. Manchmal fragte sich Jim, was er so unglaublich Schlimmes angestellt hatte, daß Sandburg anscheinend nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Sie waren einmal gute Freunde gewesen. Zählte das denn überhaupt nichts? Sicher, Jim hatte sich wie ein Arschloch verhalten. Aber er war nun mal ein schwieriger Mensch. Und diejenigen, die ihm nahe standen, bekamen leider am meisten davon ab. Natürlich hatte Blair ihm oft genug verziehen. Aber ging es denn nicht noch ein einziges Mal? Waren drei Jahre ohne ein Wort von ihm nicht Strafe genug?

Jim seufzte und hing seine Jacke an den Hacken. Er wußte, er versank schon wieder in Selbstmitleid. Vielleicht sollte er Browns Rat befolgen und mal ausgehen.

Das Klingeln des Telefons schreckte ihn aus seinen Gedanken. Für einen winzigen Augenblick dachte er, es sei vielleicht Blair. Mit klopfendem Herzen nahm er den Hörer ab. War das Blairs Herzschlag am anderen Ende? Aber nein, Alles, was er hören konnte, war Simons Stimme. "Jim? Ich weiß, deine Schicht ist vorbei und es tut mir leid, dich zu stören, aber der Profiler vom FBI ist eben angekommen. Er will sich unbedingt mit dir unterhalten. Gott weiß, wieso er das unbedingt mitten in der Nacht tun muß. Könntest du vielleicht noch mal herkommen?"

"Ja sicher, Simon. Sicher."

"Gut. Bis dann."

Simon legte auf. Für einen Moment hörte Jim dem Piepton zu.




Jim stieg in den Truck und drehte den Zündschlüssel. Der Motor stotterte und ging dann ganz aus. Er versuchte noch einmal, ihn anzulassen.
"Verdammt, das ist ja fast wie bei Sandburgs Auto."
Er knallte die Tür zu beim Aussteigen und nahm die U-Bahn.




Simon lauschte zum fünften Mal innerhalb einer halben Stunde dem Klingelton von Jims Handy, bevor er mit einem Seufzer den Hörer auflegte. "Tut mir leid Agent Phillips. Detective Ellison scheint sein Handy liegengelassen zu haben. Es ist auch nicht seine Art, sich dermaßen zu verspäten. Dieser Fall nimmt ihn ziemlich mit. Er taucht sicherlich jeden Moment hier auf."

Der Mann, der ihm gegenüber saß, hatte kurzgeschnittenes blondes Haar, war ordentlich, korrekt, sein Anzug sah aus als wäre er von Armani. Er unterschied sich nur in Einem von sämtlichen FBI-Agenten, mit denen Simon jemals zu tun gehabt hatte, er war höflicher. "Ist schon gut Captain Banks. Vielleicht sollten wir einfach ohne ihn anfangen."

"Gut. Hier sind die Akten und Fotos vom Tatort." Simon schob die Ordner, die schon vorbereitet auf seinem Tisch lagen dem FBI-Agenten zu. "Die Morde sehen diesmal genauso aus, wie die vor drei Jahren. Sie haben die Akte gelesen?"

Agent Phillips nickte.

"Die Opfer wurden mit geöffneten Schlagadern kopfüber von Haltegriffen in der U-Bahn hängend gefunden. Dieselbe U-Bahn-Linie wie damals. Sie waren gefoltert worden und teilweise gehäutet und ausgenommen. Es ist vermutlich derselbe Mörder."

"Das glaube ich nicht."

"Wieso nicht?" Simon blickte den Profiler verblüfft an.

Phillips legte eines der Fotos auf den Tisch und drehte es um, so daß Simon es sehen konnte. "Sehen sie sich doch mal diese Leiche genauer an. Dies ist eine der Leichen von vor drei Jahren. Und jetzt," er legte noch ein Foto auf den Tisch, "sehen sie sich Diese hier an. Das ist die Letzte. Fällt ihnen etwas auf?"

Simon biß in seine Zigarre. "Sie hängen beide kopfüber?"

"Die Leichen von vor drei Jahren weisen nur oberflächliche Verletzungen auf, die sehen zwar ziemlich schlimm aus und wurden offensichtlich durch Folter verursacht, dennoch würde ich auf Verbluten als Todesursache tippen. Bei den neueren Opfern ist dies nicht der Fall. Ihre Verletzungen sind so schwerwiegend, daß sie daran gestorben sind, noch bevor sie verbluten konnten. Das steht alles in ihren eigenen Obduktionsberichten. Einem der Opfer wurden die Eingeweide herausgenommen, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde. Diesem hier wurde mit einer Knochensäge der Rücken geöffnet."

"Das ist vielleicht nur Zufall. Wir haben doch erst drei Leichen, an zwei Tatorten. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Unterschiede etwas zu bedeuten haben. Vielleicht ist er einfach nur brutaler geworden."

"Nein, nein, das glaube ich ebenfalls nicht." Der Profiler kratzte sich am Kopf. "Dem Mörder vor drei Jahren ging es in erster Linie darum, seine Opfer ausbluten zu lassen. Dem Copy-Cat geht es darum, ihnen möglichst viele Schmerzen zuzufügen, bevor sie sterben."




Jim irrte ziellos durch die Straßen.

Es war weit nach Mitternacht, Jim wußte gar nicht, wie spät. Vielleicht war es auch schon fast Morgen. Es kümmerte ihn nicht. Er wurde nicht mehr richtig müde. Genauso wenig wie er jemals richtig wach war. Tief im Inneren wußte er, daß Etwas mit ihm nicht stimmte. Er vermutete, daß es damit zu tun hatte, daß er Blair so lange nicht gesehen hatte, irgendeine verrückte Sentinel-Sache. Aber er wußte auch, daß ihm kein Arzt der Welt helfen konnte. Das konnte nur Sandburg. So wie er ihn damals, als sie sich kennengelernt hatten, vor dem Wahnsinn gerettet hatte.

Natürlich war es diesmal nicht dasselbe. Manchmal wurde alles fürchterlich laut, manchmal fühlte er sich wie in Watte eingepackt. Aber er hatte niemals Schmerzen. Schon seit einiger Zeit nicht. Er blickte nach oben, in den Himmel, und fragte sich, woher der ganze Regen kam, der ständig auf Cascade niederregnete. Sandburg hätte sicherlich eine Antwort parat gehabt.




Simon schreckte aus dem Schlaf und war sofort hellwach. Er wunderte sich, was ihn geweckt hatte. Plötzlich hörte er ein Geräusch aus dem unteren Stockwerk, als wäre etwas Schweres umgefallen. Er holte seine Waffe unter dem Kopfkissen hervor und löste die Sicherung. Langsam und ohne einen Laut stieg er aus dem Bett. Er schlich zur Tür und lauschte. Alles war still. Vorsichtig öffnete er die Tür und tastete sich im Dunkeln den Flur entlang. Auf halbem Wege die Treppe herunter hörte er schweres Atmen aus dem Wohnzimmer. Eine menschliche Silhouette kauerte in den Überresten seines Couchtisches und bewegte sich nicht. "Hallo Simon."

Simon senkte langsam die Waffe. "Jim."

"Tut mir leid wegen dem Couchtisch."

Simon schaltete das Licht an. "Ist halb so schlimm. Er hat mir sowieso nie gefallen. Joan hat ihn ausgesucht. " Er betrachtete seinen ehemals besten Detective, wie er verwirrt in der Mitte seines Wohnzimmers saß, wo er hingefallen war, wie ein verlorengegangenes Kind, das jemand dort vergessen hatte, ein Häufchen Elend.
Und dann fing Jim an zu schluchzen. Simon zuckte zusammen vor Schreck. Niemals hatte er sich vorzustellen gewagt, diesen Mann eines Tages in Tränen aufgelöst zu sehen. "Gott, was für eine Woche," murmelte er.

"Es geht mir nicht so gut, Simon."

"Das ist mir klar," seufzend kniete er sich neben seinen schluchzenden Freund und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ist schon gut, Jim. Ist schon gut."

"Warum hat er mich verlassen, Simon? Warum? Ich verstehe es nicht. Wie konnte er das tun? Gott, ich vermisse ihn--" Er beruhigte sich ein wenig. Verlegen blickte er Simon an und wischte sich die Tränen vom Gesicht. "Wenn Blair sehen könnte, was für ein Wrack ich geworden bin," sagte er desillusioniert.

"Ach was, er wäre stolz darauf, wie gut du dich zusammengerissen hast."

Diesmal war Jims Blick ungläubig. "Wie kannst du so etwas sagen? Ich bin zu gar nichts zu gebrauchen. Das weißt du, du hast mir seit Monaten keinen größeren Fall mehr gegeben. Wieso hast du mir diesen Fall übertragen? Ich kann ihn nicht lösen. Ich bin nicht einmal dazu in der Lage, Formulare auszufüllen."

Simon lief ein paar Schritte zur Kommode und fischte eine Packung Taschentücher heraus. Er gab sie Jim.

"Er ruft nie an, Simon. Und er schreibt auch nicht."

Simon riß entsetzt die Augen auf. "Was?!"

"Er hat mir versprochen, er würde anrufen. Aber er tut es nicht."

"Oh, mein Gott, du hast es vergessen! Das- Das ist unmöglich!"

"Was habe ich vergessen?"

Simon kniete sich wieder hin, so daß er Jim direkt in die Augen sehen konnte. "Jim, Sandburg kann gar nicht anrufen."

"Ja, ja, ich weiß, er arbeitet bestimmt sehr hart. Aber er könnte doch wenigstens mal--"

Simon legte ihm die Hände auf die Schultern. "Nein, das kann er nicht. Er ist tot, Jim!"

"Was?"

"Er wurde vor drei Jahren vom U-Bahn-Schlächter umgebracht. Deshalb habe ich dir diesen Fall gegeben, ich dachte, du willst ihn selbst schnappen."

Jim riß sich los und stand mühsam auf. "Nein! Du lügst! Ich glaube dir nicht"

Er wankte aus dem Zimmer. "Du lügst," brüllte er nocheinmal bevor die Haustür ins Schloß fiel.

Simon stand ungläubig in der Mitte seines Wohnzimmers, bis ihn das Klingeln des Telefons in den Trümmern seines Couchtisches aus der Starre löste. "Banks."

"Captain Banks, Wilkins hier. Sie sollten sofort in die U-Bahn kommen. Wir haben eine neue Leiche. Wir sind an der Haltestelle Kaisoir Main Street."

"Ich komme." Simon knallte den Hörer auf die Gabel, ließ das Telefon wieder auf den Boden fallen und eilte nach oben, um sich anzuziehen. "Verdammt, Jim, warum mußtest du gerade jetzt verschwinden."




Simon bückte sich unter der Absperrung hindurch und nickte den uniformierten Polizisten zu, die den Tatort bewachten. Im U-Bahn-Wagon traf er Serena und Agent Phillips an. Nach einem Blick auf die Leiche wußte er, daß der FBI-Profiler mit seiner Theorie recht hatte. Die Leiche war teilweise gehäutet und hing an ihrer eigenen Haut zwischen mehreren Fleischerhacken aufgespannt von der Decke.

Agent Phillips kam ihm mit einer Akte in der Hand entgegen. "Was sagen sie dazu?"

"Hängt nicht mehr kopfüber."

Der Profiler nickte und blickte in seine Akte. "Ist ihnen aufgefallen, daß die letzten Opfer alle männlich waren und sich ähnlich sahen?"

"Wirklich?"

"Sehen sie mal," Phillips zeigte ihm vier Fotos von jungen Männern mit dunklem Haar und blauen Augen.

"Tatsächlich."

"Vor drei Jahren war dies nicht der Fall. Damals waren die Opfer ziemlich unterschiedlich, zwei Frauen, ihr Mitarbeiter, ein Straßenkind, ein Büroangestellter. Sie schienen zufällig ausgewählt worden zu sein, Leute, die mit der U-Bahn fuhren."

"Captain Banks," jemand tippte Simon auf die Schulter. Er drehte sich um. Hinter ihm standen zwei Leute von der Spurensicherung mit einem Penner in ihrer Mitte. "Sehen sie mal, wen wir zusammengekauert auf einer Sitzbank gefunden haben." Der Mann hatte seine mittleren Jahre schon längst überschritten. Seine Kleidung war nicht nur schmutzig, sondern auch voller Löcher. Zwischen grauen, schulterlangen Strähnen blickte er verängstigt in die Runde.

"Sie haben das hier gesehen?" Simon deutete mit seiner Zigarre auf die Leiche.

"Ja, es war fürchterlich. Ich bin aufgewacht von dem Lärm, und dann mußte ich mich ganz klein machen, damit er mich nicht entdeckt. Und der Mann hat die ganze Zeit geschrieen, und geschrieen!" Und dann demonstrierte er, wie der Mann geschrieen hatte.

"Schon gut, schon gut! Haben sie die Person, die das getan hat richtig gesehen? Würden sie sie wiedererkennen?"

Der Penner nickte eifrig. "Ja, ja, ich habe ihn hier schon mal gesehen."

"Wie sah er aus?"

"Groß, dunkles Haar und ein grimmiges Gesicht."

"Wie groß war er denn? Etwa so?" Agent Phillips zeigte mit seiner Hand eine bestimmte Höhe an.

"Ja!"

"War er das vielleicht?" Phillips zog ein Foto von Jim aus seiner Dienstakte aus der Tasche.

"Moment mal," protestierte Simon. Doch bevor er einen Satz formulieren konnte, fiel ihm der Penner ins Wort. "Ja, genau!"

"Das ist doch wohl blödsinnig. Sie können diesen Mann doch nicht ernsthaft als Zeugen in Betracht ziehen. Er hat eine Whisky-Fahne bis hierher!"

"Er hat ihren Detective aber eindeutig wiedererkannt!"

"Das ist lächerlich. Er hat Jim bestimmt irgendwann in den Nachrichten gesehen und bringt da Etwas durcheinander. Und wie kommen sie überhaupt dazu, einen meiner Männer des Mordes zu verdächtigen?"

"Das kann ich ihnen sagen. Es ist nicht nur möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß es einer von ihren Leuten ist, wenn man bedenkt, daß sie von zwei Tatorten nicht die geringsten forensischen Beweise haben. Und seit wann sind Polizisten bei strafrechtlichen Ermittlungen unantastbar? Hören sie mir zu. Ich habe da eine Theorie. Finden sie nicht, daß sich ihr Detective in den letzten paar Jahren seltsam verhalten hat?"

"Ich bitte sie, er ist eben ein bißchen mitgenommen--"

"Da muß ich widersprechen. Er ist nicht mitgenommen. Er ist ein emotionales Wrack. Ich weiß aus den Akten, daß Mr Ellisons Partner eines der Opfer des ursprünglichen Subway-Schlächters war. Nachdem Mr Ellison nicht zu unserer Besprechung aufgekreuzt ist, habe ich Nachforschungen angestellt. Halten sie es nicht für möglich, daß er durch den Tod seines Partners einen derartigen Schock erlitten hat, daß es ihn komplett aus der Bahn geworfen hat?"

Simon knirschte mit den Zähnen. "Jim hat nur ein paar Probleme--"

"Ein paar Probleme, wie Schizophrenie, zum Beispiel? Ich habe seine Krankenakte eingesehen. Er wurde vor sieben Jahren mit katatonischer Schizophrenie diagnostiziert. Er hätte sich einer medikamentösen Therapie unterziehen sollen. Die hat er niemals erhalten."

"Jim ist trotzdem kein Mörder!"

"Und wo ist er dann?"

Das war natürlich die 100 000-Dollar-Frage. Simon bemerkte eine junge Frau in einem Regenmantel am Eingang des Waggons. Ein Streifenpolizist versperrte ihr den Weg. Er ging auf die Beiden zu, um herauszufinden, was da los war.

"Es tut mir leid, Miss, aber dies ist ein Tatort. Unbefugte haben hier keinen Zutritt."

"Ich... Ich denke aber, ich könnte eine Zeugin sein."

"Schon gut." Simon bückte sich unter der Absperrung hindurch. Phillips folgte ihm. "Was haben sie gesehen?"

"Es war ein paar Gänge weiter, da bin ich in einen Mann gelaufen. Er trug eine schwarze Gummischürze. I-Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie war voller Blut." Sie hob ihre braun-rot verfärbten Hände.

Simon und Phillips schauten sie eine Weile verblüfft an. Schließlich räusperte sich der Profiler. "Was ist dann passiert?"

"Ich bin weggerannt und habe mich versteckt. Aber ich glaube auch, er hat mich überhaupt nicht wahrgenommen. Er-Er war wie eine Maschine. Und sein Gesichtsausdruck war so kalt." Sie fröstelte.

Agent Phillips zückte sein Foto.




Jim lief abermals durch leere Hintergassen. Für einen kurzen Moment hatte der Regen aufgehört und er erinnerte sich. Er erinnerte sich an Blairs leblosen Körper, zerschunden und blutleer von den Haltegriffen einer Cascader U-Bahn hängend. Jim hatte ihn sanft heruntergelassen und hatte den Kadaver umarmt. Er wollte ihn nicht mehr loslassen. Er hätte ihn mit nach Hause genommen und gesund gepflegt. Es waren sieben Polizisten nötig gewesen, um ihm Blair wegzunehmen. Und er hatte einige von ihnen schwer verletzt.

Deshalb humpelte Rafe.

Und dann war schließlich die Erkenntnis gekommen, daß Blair tatsächlich tot war. Und der Schmerz. Und das Gefühl des Versagens. Dieses Leben war ihm anvertraut gewesen, und er war nicht in der Lage gewesen, es zu beschützen. Und das allerschlimmste daran, das, was er tatsächlich mit ins Grab nehmen würde, war der Ausdruck auf Blairs Gesicht, verzerrt von den Schmerzen, die er kurz vor seinem Tod noch hatte über sich ergehen lassen müssen. Das war es, was er sich selbst niemals verzeihen konnte, und wofür er wieder und wieder Rache nehmen mußte.

Er hatte Blairs Mörder auf eigene Faust gejagt. Es war nicht allzu schwer gewesen, ihn zu finden, mit dem Geruch des Monsters bis in alle Ewigkeit in seine Sinne eingebrannt. Er hatte ihn in Blairs altes Zimmer eingeschlossen. Als erstes hatte er ihm die Zunge und den Kehlkopf herausgeschnitten, damit niemand jemals seine Schreie hören konnte. Es hatten Poker-Parties im Loft stattgefunden, ohne das jemand seine Schreie gehört hatte, genauso wenig, wie irgend jemand Blairs Schreie gehört hatte. Er hatte ihn monatelang gefoltert. Ganz langsam, und nicht zu viel auf einmal, damit er nicht zu schnell starb. Für eine Weile war dies sein Lebenssinn gewesen. Alles, was er Blair angetan hatte, hatte Jim auch ihm angetan, und mehr. Doch irgendwann waren seine Verletzungen zu schwer gewesen und Jim war wieder ohne Lebenssinn.

Er hatte den Körper tief in den Cascade Mountains verscharrt, an einer Stelle, an der vermutlich noch nie zuvor ein Mensch gewesen war. Und dann hatte er nach und nach angefangen, zu vergessen, aber nicht die ganze Zeit über und niemals Alles. Irgendein winziger Teil seines Bewußtseins konnte sich immer erinnern. Und manchmal waren die Bilder an die Oberfläche gekommen, Blair, blutüberströmt und tot, seine Augen, leer. Sein Haar war so blutverkrustet gewesen, daß es an seinen Wangen und seinem Hals festklebte. Er war übersät von winzigen Folterwunden. Die Vorstellung von dem, was er durchgemacht haben mußte, bevor er starb, war unerträglich, unmöglich. Und doch waren alle Folterqualen genaustens belegt durch die Landkarte seines Körpers. Er sah sich selbst, mit einer Gummischürze und einer Knochensäge, den Körper von Blairs Mörder zerteilen, und später unzählige andere, die so aussahen wie er, und die er zufällig getroffen hatte. Bis es ihm irgendwann zu mühselig erschienen war, sie zu zerteilen und zu verstecken, sinnlos. Stattdessen hatte er sie in der U-Bahn aufgehängt, wie Blair, wie den Mann letzte Nacht.

Jim übergab sich in einer Seitengasse.




Simon knallte den Hörer auf die Gabel.

Phillips blickte von den inzwischen abgetippten Aussagen des Penners und der jungen Frau auf. "Lassen sie alle Busbahnhöfe bewachen? Den Flughafen, die Mietwagen-Pools, die Taxi-Stände?"

Simon rieb sich mit der Hand über das Gesicht. "Der Mann ist ein Ex-Spion, er wird irgend etwas Unerwartetes tun, etwas, worauf keiner von uns kommt." Er seufzte tief. "Ich kann es immer noch nicht glauben."

Phillips sah ihn müde an. "Mord ist etwas sehr Häßliches, etwas Schreckliches, aber er geschieht in den seltensten Fällen aus Bosheit. Manche Menschen morden, weil sie ein Trauma nicht verarbeiten können, manche, weil eine Fehlfunktion in ihrer Gehirnchemie sie davon abhält, richtig und falsch zu unterscheiden, aber nur die Wenigsten morden aus Berechnung, Grausamkeit oder Gier. Das Böse gibt es nicht."

Simons Augen wirkten kalt und hart hinter seinen goldgerahmten Brillengläsern. "Das ist vielleicht ihre Meinung als Psychologe. Ich habe in meinem Berufsleben eine andere Erfahrung gemacht."




Jim ging am Strand spazieren. Er wußte, er würde Cascade bald verlassen müssen. Und da sah er Sie. Ihr Name war Grace Excelsior, wie seine Mutter. Er hatte eine großartige Idee. Er würde Blair in Boston besuchen. Es würde zwar einige Wochen dauern, per Schiff hinzukommen, aber dafür hätte er Zeit, sich mal so richtig zu erholen. Als er das Deck der Grace Excelsior betrat, spürte er zum ersten Mal, seit ihn Sandburg verlassen hatte, wieder so etwas wie Zufriedenheit.

ENDE


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