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Wie der Engel auf die
Christbaumspitze kam...

von Pat



"... und so wurde die geschmückte Tanne als Symbol in das christliche Weihnachtsfest integriert", schloss Blair seine Lektion befriedigt ab und nahm den letzten Schluck aus seiner Bierflasche. "Aber", ein verschmitztes Grinsen glitt über sein Gesicht, "weißt du wie es zu der Tradition mit dem kleinen Engel auf der Christbaumspitze kam?"

"Nein, Chief. Ich weiß nicht, wie es zu der Tradition mit dem kleinen Engel auf der Christbaumspitze kam", erwiderte Jim träge lächelnd. "Erzähl."

Sandburg brauchte keine zweite Aufforderung. "Also, da war ein Engel, der brachte dem Weihnachtsmann einen Christbaum an die Tür. Aber vorher ..."

Blairs Handy unterbrach seinen Redefluss. "Ah, verflixt. Moment, Jim." Er angelte nach dem Telefon. "Sandburg", meldete er sich. "Ja ... ja. Augenblick ..." Er sah Jim an und formte tonlos die Worte ‚die Uni', ehe er aufstand, um in die Küche zu gehen.

Jim ließ die Augen schläfrig zufallen und entspannte. Das Essen war gut gewesen, sein Bier ebenfalls leer und er streckte sich wohlig auf dem Sofa. Ah, das Leben war schön. Mit halbem Ohr hörte er Blair in der Küche telefonieren "Oh ... okay ... Aber nur dafür, okay? ... Ich muss bis ... nur morgen früh ..."

Schien nichts Dramatisches zu sein. Nicht nötig, extra hinzuhören. Er ließ seine Gedanken schweifen. Engel? Weihnachtsmann? Was für eine obskure Geschichte hatte Sandburg jetzt wieder in petto?

Jim schlief ein, noch ehe Blair das Gespräch beendet hatte.




Ein Anruf um halb sieben Uhr morgens am Tag vor Weihnachten konnte zwar grundsätzlich alles bedeuten, aber Jim wusste einfach, dass es in diesem besonderen Fall Ärger bedeuten würde. Er wusste es, noch bevor er den Hörer abnahm. Schon alleine das Klingeln klang aggressiv. Und er hatte heute frei. Ergo: Ärger, ganz klar.

Er machte trotzdem den Fehler und nahm ab.

Zehn Minuten später war er darüber im Bilde, dass Rafe sich vor dem Präsidium den Knöchel verstaucht hatte, Browns alte Karre nicht ansprang und Megan bei dem vorabendlichen Versuch Plätzchen zu backen eine Verbrennung zweiten Grades erlitten hatte.

Was den Rest der Abteilung schmerzhaft unterbesetzt zurückließ. Zumal auch der weniger gesetzestreue Teil der Cascade'schen Bevölkerung heute noch in letzter Minute "Weihnachtsbesorgungen" erledigen würde. In manchen Dingen unterschied sich die Halb- und Unterwelt von Cascade keineswegs von der normalen Hälfte ihrer Bürger - lediglich die Einkaufmethoden variierten doch erheblich.

Simons abschließendes "Und fröhliche Weihnachten noch" hatte entschieden etwas Sarkastisches an sich gehabt.

Jim ließ das Handy auf den Nachttisch und den Kopf auf das Kissen zurückfallen und atmete tief durch. Okay, das würde seinen Zeitplan zwar durcheinander bringen, aber Schnaps war Schnaps und Dienst war Dienst. Zeit, ein paar der weniger wichtigen Dinge von seiner heutigen "To do"-Liste zu streichen, zwei oder drei andere auf den Abend zu verschieben und für den Rest Sandburg ins Spiel zu bringen. Ja, so würden sie die Kurve doch noch kriegen. Beruhigender Gedanke.

Das Telefon klingelte.

Großartig, diesmal war es der Apparat im Wohnzimmer und er hörte sich kein Bisschen weniger aggressiv an, als das Handy.

Anschluss Ellison und Sandburg. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.

"Hi, Sweetie, Mom hier."

Jims Augen flogen auf und starrten entsetzt an die Decke.

Naomi!

"Ich kann mir schon denken, dass du noch schläfst, aber das macht nichts. Ich wollte nur schnell Bescheid sagen, dass ich umdisponiert habe. Bin gerade unterwegs zu euch. Ich liebe dich, Schätzchen, bis heute Abend. Und schon mal frohe Weihnachten euch beiden."

Mit einem resignierten Stöhnen ließ Jim die Augen wieder zufallen.

Einfach wundervoll. Weihnachten versprach ein echtes Fest der Liebe zu werden, mit Naomi an Bord. Esoterische Ausflüge in die spirituelle Bedeutung der Festtage - *jeglicher* Festtage - egal ob christlich, jüdisch oder sonstwas - Salbei, Möbelrücken, der heimelige Gestank gekochter Zunge ...

Sollte Sandburg sich um seine Mom kümmern, er musste in's Präsidium.

"Sandburg!"

Keine Reaktion.

"Blair!"

Nichts.

"Sweetie!"

Stille. Um nicht zu sagen, verdächtige Stille.




"Hände auf den Rücken und Mund halten. Noch ein Wort und ich schwöre, ich stopfe dir alles, was du da drin hast mitgehen lassen, ins Maul, ohne dir Zeit zum Schlucken zu geben." Jim ließ die Handschellen zuschnappen und packte seinen dürren Verdächtigen am Schlafittchen.

"Ho-ho-ho", kommentierte der neonblinkende Plastiknikolaus auf dem Dach von ‚Nick's Candy Palace' die Szenerie und nickte mechanisch ruckend mit dem Kopf. "Ho-ho-ho." Ruck-ruck-ruck.

Was leider nicht strafbar war, so gerne Jim ihn dafür ebenfalls festgenommen hätte.

Er zerrte den Verhafteten herum und stieß ihn unsanft in Richtung des soeben eingetroffenen Streifenwagens, eine Spur zertretener Schokolade hinter sich lassend. "Autsch", beschwerte sich der Kerl und Jim fühlte einen Anflug grimmiger Befriedigung. Selbst schuld, wenn er dämlich genug war, den Laden zu beklauen, in dem Jim seine Mittagspause an Last-Minute-Weihnachtseinkäufe verschwenden musste.

Etwas, was eigentlich Sandburg hätte tun sollen. Etwas, dem sich Sandburg durch Hinterlassen eines unschuldigen, kleinen Zettels mit der Aufschrift "Muss noch mal zur Uni. Bis später." entzogen hatte.

"Na, Ellison", grüßte Officer Silvers mit einem Grinsen. "Gehen Major Crime die Fälle aus?"

"Nehmen Sie ihn einfach mit, Silvers. Nehmen Sie ihn einfach mit."

Mit einer ironischen *ups*-Geste nahm Silvers den Kleinkriminellen in Empfang. "Frohe Weihnachten noch, Ellison", wünschte er gutmütig und führte den Mann davon.

Ein knirschend-quietschendes Geräusch verriet Jim, dass das Fest im Begriff war, noch schöner zu werden. Er drehte sich um und fokussierte den Blick auf seinen in zweiter Reihe geparkten Truck auf der anderen Straßenseite - fünfzig Meter die Straße hinab.

Eine tiefe Schramme zog sich quer über die Fahrertür.

An der Spitze eines riesigen Weihnachtssternes aus Metall, auf der Ladefläche eines Dienstfahrzeugs der Stadtwerke von Cascade - unterwegs um der Stadt durch anbringen dieses letzten, noch nicht aufgestellten Dekorationsprunkstücks den finalen weihnachtlichen Schliff zu verleihen - glitzerte höhnisch eine, auf diese Entfernung nur für Sentinel-Augen sichtbare, Spur blauer Farbe.

Der Wagen verschwand um die nächste Ecke.

"Ho-ho-ho", kommentierte der Neon-Nikolaus hinter Jim.




"Okay, Ellison. Ich gebe zu, ich *hätte* auf die Tankuhr schauen sollen. Jetzt reg' dich nicht so auf. Es *tut* mir Leid."

Browns Bedauern war echt. Hauptsächlich deshalb, weil er sich mit Jims Unmut konfrontiert sah.

"Echt, Mann." Brown hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste die stark an Blair erinnerte.

Sandburg. Das andere Hühnchen, das es noch zu rupfen galt.

"Spar dir's, Brown. Ich verschwinde jetzt." Jim griff nach seiner Jacke und warf einen Stapel Aktendeckel auf Browns Schreibtisch, ehe er mit einem "In's Reine tippen darfst du es." zum Ausgang stürmte.

Hinter ihm erklang Browns fröhliche Stimme. "Und frohe Weihnachten noch, Jim!"




Das Loft lag noch still und ruhig da, als Jim die Tür öffnete. Kein Blair. Keine Naomi. Stille Glückseligkeit. Was er jetzt brauchte, war etwas Entspannendes und Wärmendes. Tee mit Rum. Ja, das war's, Tee mit Rum und eine halbe Stunde Frieden. Er stellte das Radio an, um etwas Hintergrundmusik zu haben, setzte den Wasserkessel auf, nahm eine Tasse vom Brett und ging zum Schrank, sein Schritt schon etwas beschwingter. Rum, Rum, wo war der Rum ... Ah, hinter dem Wodka und dem Jack Daniel's, da stand die Flasche.

An ihrem Hals klebte ein kleiner, weißer Zettel, der ebenso unschuldig aussah, wie sein Pendant auf dem Küchentisch heute Morgen.

Habe den Rest zum Einlegen der Früchte für's Dessert genommen. Bring' eine neue Flasche mit, falls du heute noch zum Einkaufen kommst. Blair.

Wie vor den Kopf gestoßen starrte Jim auf den unheilvollen Zettel an der Flasche. Der leeren Flasche.

Der Wasserkessel schrillte.

Jim zuckte zusammen und ließ die Tasse los.

Aus dem Radio erklang ein heiteres "Froh-ho-ho-he Weih-nacht üüü-ber-aaal ..."




Der letzte Splitter lag unter dem Zweisitzersofa und Jim stieß sich den Kopf am Wohnzimmertisch, als er ihn aufsammelte. Egal, es war der letzte Splitter, soviel war sicher. Sentinel-sicher. Barfuß und Glassplitter waren grundsätzlich keine gute Kombination.

Kein Tee mit Rum. Dann musste eben der Weihnachtsstollen als Ersatzentspannungsmittel vorzeitig herhalten. Mit grimmiger Entschlossenheit griff Jim ein Messer aus dem Block und öffnete die Brotschublade.

Was zum Teufel war das?

Ein Loch im Zellophan.

Ein ausgefranstes Loch im Zellophan.

Kleine, schwarze Knödel neben dem ausgefransten Loch im Zellophan.

Ein ausgefranstes Loch im Stollen unter dem Zellophan.

Der Geruch einer winzigen Menge von Mäuseurin, den keiner außer Jim riechen würde.

Jim knallte die Schublade zu.

An der Tür klopfte es und jemand brüllte: "Frohe Weihnachten, Jim! Mach die Tür auf!"




Vor der Tür stand eine enorme Weihnachtstanne und hinterließ klebrige Harzspuren auf dem Boden. Die Spur zog sich von der Treppe bis zum Eingang. Vermutlich zog sie sich auch die Treppe hinunter.

Na toll. Das Fest wurde froher und froher.

"Hi, Jim", sagte die Tanne fröhlich mit Sandburgs Stimme. "Hab's grad noch geschafft einen Baum zu ergattern, bevor die Verkäufer dicht machen. Bin direkt von der Uni losgedüst, so wie ich war."

Großartig. Und offensichtlich hatte er sich das Exemplar mit dem harzigsten Stumpf ausgesucht.

Sandburg schob sich hinter dem Baum hervor. Die Tanne mit beiden Händen festhaltend reckte er den Hals, um an Jim vorbei sehen zu können. Sein Grinsen wandelte sich in ein leichtes Stirnrunzeln. "Noch kein Ständer ausgepackt?"

Leicht außer Atem, im langen, weißen Engelskostüm, komplett mit goldlackierten, wenn auch leicht derangierten Pappflügeln und einem "Ich bin heute Ihr Engel an der Uni - fragen Sie mich" Sticker auf der rechten Brustseite, blickte er leicht anklagend zu Jim hoch. "Oh Mann, und wo soll ich das Riesending jetzt hinstecken?"

Engel.

Weihnachtsmann.

Christbaumspitze.

Jim fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Dann begannen seine Schultern hilflos zu zucken.

"Was ist? Jim? He! Was? Lachst du etwa über mich? He!" Blairs Stimme war ganz erheiterte Entrüstung.

Jim schüttelte den Kopf und öffnete die Tür weit. "Weißt du, Chief. Ich glaube ich *weiß*, wie diese Tradition mit dem Engel auf der Christbaumspitze entstanden ist ..."


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