Disclaimer siehe Fanfiction-Seite.


Cascados, 1583

von Kendra


Die Menge rückte näher zusammen. Alle Augen ruhten auf seinen Lippen. Gebannt folgten sie seinen Worten und waren fasziniert von seinen Geschichten. Niemand wollte auch nur einen Satz verpassen.
Blair Sandburg erzählte von fremden Völkern und ihren Mythen. Er hatte für sein junges Alter schon viel erlebt und war viel herumgekommen. Obwohl die Menschen nicht unbedingt an die Geschichten glaubten, so saß er doch gerne jeden Tag auf dem Marktplatz und erzählte von weitentfernten Ländern. Außerdem konnte er sich so ein paar Taler verdienen, womit er sich in der Taverne eine warme Mahlzeit leisten konnte. Blair hatte auch schon schlechtere Zeiten erlebt, in denen er sich nur durch Stehlen über Wasser halten konnte.

"So, das war’s für heute!", beendete Blair seine Geschichte. "Ihr könnt morgen wieder vorbeikommen, dann erzähle ich mehr von der anderen Welt." Die Menge um ihn löste sich langsam auf. Dabei unterhielten sich die Menschen noch über seine Worte.
Blair nahm die Kiste, auf der er gesessen hatte und hob seinen Hut auf. Darin befanden sich einige Münzen, die er einsteckte. Er setzte sich den Hut auf und machte sich auf den Weg zur Taverne.




"Kniet nieder, James Ellison und erhebt Euch als Sir James Ellison!" Er spürte wie das Schwert des Prinzen Simon von Banks’ von seiner linken zur rechten Schulter geführt wurde und stand auf.
Nachdem die komplette Zeremonie vollzogen war, ging James zu den anderen Rittern, die er bereits seit einigen Jahren kannte. "Wollte Ihr mich begleiten, um das Glas zu erheben?", fragte James. Die meisten waren einverstanden, so dass sie sich gemeinsam auf den Weg zur städtischen Taverne machten. Sie stiegen auf ihre Rösser und verließen die Festung des Prinzen.

Vor der Taverne angekommen, stiegen die Männer wieder ab, banden die Pferde an und betraten das kleine Gasthaus.
Laute Gespräche und Gelächter schlugen ihnen entgegen. James ging voran und stieß einen jungen Mann beiseite, der ihnen im Wege stand. Dabei schüttete sich dieser etwas von seiner Suppe aufs Hemd. Er fluchte den Männern hinterher, doch weder James noch einer seiner Freunde beachteten den Mann.
Sie setzten sich an einen Tisch. "Ich komme für alle Kosten auf!", bot James großzügig an. Natürlich hatte niemand etwas dagegen. Die Bedienung kam sogleich und nahm die Bestellung auf. Es wurde eine Runde Whiskey verteilt. Die Männer nahmen die Gläser auf und stießen sie zusammen.
"Auf den Neuen in unserer Runde!" James trank einen Schluck. Es kamen einige hübsche Mägde an den Tisch.




Blair setzte sich an einen kleinen Tisch und stellte seinen Teller ab. Er fluchte innerlich immer noch, dass sich sein gutes Essen nun auf seinem Hemd befand. Er konnte das rüpelhafte Verhalten des Adels nicht ausstehen.
Still löffelte er das mit wenig Gemüse versetzte Wasser und überlegte, wo er die Nacht verbringen sollte. Er entschied sich für eine Scheune, in der er bereits mehrmals übernachtet hatte.
Nachdem er seine Suppe aufgegessen hatte, stand er auf, warf noch einen misstrauischen Blick zu der Ritterrunde und verließ die Taverne. Es war bereits dunkel und kalt, so dass sich Blair frierend auf den Weg zur Scheune machte. Ihm klapperten die Zähne, aber in dem großen Holzgebäude war es auch nicht wärmer.
Blair legte sich auf einige Strohballen und zog sich seine Jacke enger um seine Schultern. Dann schloss er seine Augen und stellte sich ein großes, wärmendes Feuer vor. Letztendlich schlief er doch ein...




"Hallo, mein Schöner!" Eine der Frauen setzte sich auf James’ Schoß, doch er stieß sie unsanft hinunter. "Verschwindet!", sagte er.
"Was ist gegen ein wenig Spaß einzuwenden?", fragte einer seiner Begleiter. "Ihr könnt Euch noch etwas amüsieren, doch ich werde zum Hofe zurückkehren." Nachdem James das Geld für die Getränke auf den Tisch gelegt hatte, verabschiedete sich von den Rittern. Er ging hinaus zu seinem Pferd und schwang sich hinauf. Anschließend machte er sich auf den Weg zurück zur Festung.
Der Ritter konnte sich nicht erinnern, je so nachdenklich gewesen zu sein. Irgendwie kam es ihm so vor, als ob ihm etwas fehlen würde; als ob er etwas in sich hatte, das zum Vorschein kommen wollte.

Plötzlich hörte James einige Worte. Er blickte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Durch das Anstrengen seiner Augen anstrengte, konnte er erst ungefähr hundert Meter entfernt zwei sich unterhaltende Personen erkennen.
James war sich nun sicher, dass er sich die Worte nur eingebildet hatte und ritt weiter bis zum Tor, das sich vor ihm öffnete. Dann stieg er ab und sein Pferd wurde in den Stall geführt. Der müde Ritter ging die Treppen hinauf zu seinem neuen Schlafgemach, wo er sich sogleich zu Bett begab. Er dachte noch etwas nach, doch nach einer Weile fielen ihm die Augen zu.

Er hörte das Heulen eines Wolfes. Als er auch die Gestalt des bedrohlichen Tieres erblickte, rannte er los. Sein Gehör vernahm die Schritte und den Atem des Tieres hinter sich.
Er drehte sich um und übersah dabei eine Baumwurzel, die ihn zu Boden fallen ließ und sah, dass der Wolf immer näher kam.
Schweißgebadet wachte James auf. Nachdem er sich aufgesetzt hatte, blieb er zunächst schnell atmend sitzen. Dann stand er auf. Er wollte nicht wieder einschlafen. James ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Mond und einige Sterne waren zu sehen. Der Ritter beschloss, etwas an die frische Luft zu gehen.
James Ellison zog sich ein etwas bequemes Gewand an und verließ das Zimmer. Er schlich durch die Gänge, hinab bis zum Stall, wo er sich sein Pferd holte und zum Tor ritt. Er wurde von der Nachtwache hinausgelassen.
Sir Ellison ritt einfach los ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Er verließ das Dorf und ritt bis zu einer verlassenen Scheune, die zu den Feldern des Prinzen gehörte.
James stieg ab und band das Pferd an einem Baum fest. Dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und blickte in den Himmel. Die Sterne leuchteten hell und geheimnisvoll.

Ganz plötzlich hörte er ein Geräusch, das laut in seinen Ohren gellte, als ob es direkt neben ihm entstand. Doch es war niemand und nichts dort. Er verglich es am Ehesten mit einem Schnarchen. Obwohl James sich das ganze nicht erklären konnte, stand er automatisch auf und ging auf die Scheune zu.
Der Ritter öffnete die Tür und konnte zunächst nichts erkennen, da es zu dunkel war. Doch, als er sich konzentrierte, konnte er jede einzelne Kleinigkeit erkennen, was ihn erschreckte.
Er war so schockiert darüber, dass er wieder hinaus in die dunkle Umgebung blickte.
Natürlich überwog innerlich die Neugier, so dass James in die Scheune eintrat. Es war weiterhin nichts zu erkennen, doch James nahm ein Streichholz und zündete eine Kerze an, die er am Eingang gefunden hatte.
Sir Ellison konnte nun wieder das Geräusch, doch deutlich lauter, vernehmen. Er folgte dem Ton, bis er lauter geworden war und wusste nun, dass es sich um ein Schnarchen gehandelt hatte.
James erkannte einen Mann, der es sich auf den Ballen bequem gemacht hatte und schlief. James ging näher heran und rüttelte an der Schulter des Fremden.
"Was tun Sie hier?", fragte der Ritter. "Das ist Privatbesitz des Prinzen." Der Mann vor ihm erwachte und blickte ihn verwirrt an. "Wer sind Sie?", fragte Ellison, um überhaupt eine Antwort zu bekommen.
Doch anstatt der Antwort hörte er ein sehr lautes Widerhallen und Wiederholen der Worte. Er verstand nichts von dem Gesagten und blickte in die Augen des anderen. Aber er entdeckte nicht das übliche -eine Pupille und eine Regenbogenhaut- sondern es kam ihm so vor als sähe er hindurch; tiefer in den Menschen hinein.

Was auch immer für diese Ungewohntheiten verantwortlich war, es machte ihn nervös, da er sie Realität nicht mehr erkennen konnte.
Langsam setzten ein Schwindelgefühl und extremes Unwohlsein ein, das sich soweit verschlimmerte, dass James in Ohnmacht fiel.




Blair stand hastig von den Strohballen auf, kam jedoch zu spät. Der schwere Körper des Ritters lag bereits am Boden.
Blair beugte sich über den Bewusstlosen. Er hatte keine medizinische Ausbildung genossen, dennoch legte er seine Finger an den Hals des anderen. Das Pulsieren, das er spürte, war etwas verschnellert, dennoch lag es im Normalen, so weit Blair dies beurteilen konnte.
Blair Sandburg wusste nicht, was er tun sollte. Er dachte darüber nach, ob er schleunigst verschwinden sollte, um dem Ärger zu entkommen oder, ob er dem Mann helfen sollte.
Blair entschied sich für das letztere und schlug dem Ritter sanft ins Gesicht. "Sir?", fragte er, doch der Bewusstlose ließ die Augen geschlossen.
Blair schlug nun fester zu. Als ihm ein empörter Blick entgegenschlug, fiel ihm auf, dass der Mann vor ihm lag, dem er das verschwendete Essen auf dem Hemd zu verdanken hatte. Doch die Möglichkeit, schnell zu verschwinden, hatte er sich selbst genommen.
"Was ist passiert?", fragte James verwirrt.
"Das fragen Sie mich? Wer hat sich denn ohne Grund verabschiedet?" Der Ritter stand zögerlich auf und befühlte seinen Kopf. Er zuckte zusammen, als er gegen seine Beule kam.
"Warum haben Sie mich auch so angeschreien?"
"Ich habe doch nicht geschrieen."
"Natürlich! Als Sie Ihren Namen nannten!", erklärte Ellison, doch Blair war nun noch verblüffter.
"Ich habe doch ganz leise gesprochen. Irgendetwas scheint mit Ihnen nicht zu stimmen. Passiert so etwas öfters?", fragte Blair vorahnend.
"Nun ja, in letzter Zeit...Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt?"
"Ich kann Ihnen vielleicht helfen. Es gab..."
"Helfen?", fragte James erstaunt. "Wobei? Ich habe kein Problem. Sie aber. Wie kommen Sie dazu, in dieser Scheune zu übernachten?"
"Das ist doch unwichtig. Viel interessanter ist doch, was Sie...", lenkte Sandburg ab, doch James ließ nicht locker.
"Ich muss Sie verhaften im Namen des Prinzen Simon von Banks, dem Herrscher über das gesamte Reich von Cascados."
"Aber ich schlage Ihnen ein Geschäft vor", begann Blair. "Sie lassen mich frei und ich helfe Ihnen bei diesen Vorfällen."
"Welche...", fing James an, doch sein Blick veränderte sich. Er versuchte, wieder normal zu sehen, doch es funktionierte nicht. Stattdessen konnte er Dinge erkennen, die einige hundert Meter von ihm entfernt waren.
"Was haben Sie?"
"Gar nichts. Mir geht es gut. Kommen Sie jetzt mit!" James hielt Blair fest und ging einige Schritte. Dann merkte er, dass ihm sein Gefangener nicht willentlich folgte.
"Was haben Sie?", fragte James neugierig.
"Es ist interessant."
"Was...?"
"Können Sie beschreiben, was Sie..."
"Ich werde nichts dergleichen tun. Jetzt kommen Sie", meinte James nun in einem befehlenden Ton. Blair sagte nichts mehr und folgte dem Ritter zu seinem Pferd, der aufstieg und Blair aufforderte, voranzugehen. Sie gingen durch den Wald, bis das Heulen eines Wolfes zu hören war.
"Was war das?", fragte James beinahe erschrocken, da er an seinen Traum erinnert wurde.
"Ein Wolf, wieso?", fragte Blair gelassen. Doch James ließ sich nicht beruhigen. Er konzentrierte sich auf das Geräusch und versuchte, etwas zu erkennen. Aber er konnte nur das schnelle Atmen eines Menschen hören. Er blickte sich um und bemerkte, dass sich sein Gefangener aus dem Staub machte.
"Halt, bleiben Sie stehen!", rief er, doch Blair rannte weiter. James trieb sein Pferd an und war schnell wieder bei seinem Gefangenen.
"Wo wollten Sie denn hin?"
"Ich wollte nur mal nach dem Wolf sehen", erklärte Blair schlecht lügend.
"Wagen Sie es nicht noch einmal, zu fliehen", warnte der Ritter und trieb Sandburg weiter vor sich her.




Vor dem Tor angekommen wurde James von der Nachtwache hereingelassen. "Wen haben Sie denn da mitgebracht?"
"Einen Besucher für den Kerker."
"Gut, kommen Sie herein."
Die beiden ritten bis zum Stall, wo James sein Pferd einem Stallburschen übergab. Dann gingen sie bis zur Hauptburg, in dessen unterem Teil sich auch gleichzeitig der Kerker befand.
James ließ Blair vorangehen und zeigte ihm den Weg nach unten. Auf dem Weg dorthin begegnete ihnen eine verhüllte Gestalt.
"Wer sind Sie?", fragte James streng.
"Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?"
Die Gestalt schlug die Kapuze zurück.
"Lady Megan, was machen Sie denn hier unten?", fragte James überrascht.
"Ich will nur sehen, ob die Gefangenen es gut haben", antwortete Lady Megan und strich sich durch ihre langen Locken.
"Und wo wollen Sie hin?", fragte sie.
"Ich bringe einen neuen Gefangenen."
"Was hat er denn verbrochen?"
"Er hat in einer fürstlichen Scheune übernachtet."
"Ist das denn so schlimm?", fragte Megan.
"a, Miss. Denken Sie mal darüber nach, wenn das jeder tun würde."
"Sie haben Recht, Mr..."
"Sir James Ellison", stellte sich James mit einem Handkuss vor, wobei er seinen neuen Titel besonders betonte.
"Stets zu Ihren Diensten, Lady Megan."
"Ist gut, Sir Ellison. Jetzt muss ich aber wieder gehen. Gute Nacht und schlafen Sie gut", sagte Megan und drehte sich um.
James flüsterte nur noch ein "Gute Nacht" und blickte der wunderschönen Frau noch nach, bis sie hinter einer Ecke verschwunden war.
"Eine tolle Frau! Wer ist sie?", fragte Blair.
"Das geht Sie nichts an. Gehen Sie weiter!" Die beiden gingen bis zum Kerker, wo es einen Gefangenenwärter gab.
"Jim, wen bringst Du mir denn da?", fragte Sir Taggart. Er war ein alter Freund und ebenfalls ein Ritter. Sie kannten sich bereits so lange, dass er der einzige war, der James duzen durfte.
"Ein Herumlungerer. Sperr ihn irgendwo ein!"
"Okay. Übrigens, herzlichen Glückwunsch! Ich habe davon gehört, Sir Jim."
"Danke, endlich gehöre ich dazu. Jetzt muss ich langsam gehen. Lass Dir von dem Typen bloß nichts einreden", erklärte James und zeigte auf den kleineren Mann mit den langen Locken. "Er redet manchmal Unsinn..."




Blair wurde von Taggart in die Zelle geführt. Er hatte ein kleines Fenster mit Gittern. Doch das Wichtigste für ihn war, dass es ein richtiges Bett gab, mit Holzgestell und Stroh. Blair setzte sich darauf.
Er war sich nicht sicher, ob er dem Ritter von seiner Entdeckung erzählen sollte. War er überhaupt das, wofür ihn Blair hielt? Er wollte sich erst einmal schlafen legen und später darüber nachdenken. Zusätzlich auch über Lady Megan, die er nicht unattraktiv fand.




Ein lautes Geräusch ließ James aufschrecken. Es klang wie ein Horn, das geblasen wurde. Noch etwas verschlafen stand er auf und ging langsam zum Fenster. James blickte hinaus. Als er den Grund für das frühe Wecken sah, war er plötzlich hellwach.
Der Prinz rief zu einem Schlachtritt auf. James zog sich hastig seine Rüstung an, nahm sein Schwert, das er verstaute und verließ sein Gemach.
So schnell es ging, hastete er hinunter zum Platz, wo der Prinz und einige Leute bereits Aufstellung genommen hatten.
"Ich brauche einige erfahrene Männer", rief der Prinz und begann, einige Namen aufzurufen.
Prinz Simon von Banks war schon vom äußeren her eine Autoritätsperson. Nicht nur seine prunkvolle Rüstung verrieten seinen Rang, sondern auch sein Blick und die Gestik. Außerdem gab es einen sichtbaren Unterschied zu fast all seinen Gefolgsleuten: Er war schwarz, wie nur wenige am Hof.
Etwas enttäuscht darüber, dass sein Name nicht genannt wurde, wandte sich James um und wollte wieder gehen. Doch plötzlich ertönte sein Name doch noch:
"Sir Ellison, Sie werden die Aufgaben von Sir Taggart übernehmen." Der Ritter war nicht gerade glücklich über seine neue Beschäftigung, doch er wollte sich nicht beklagen. Er wollte zunächst einmal eine Chance, um zu beweisen, was er kann. Die hatte er nun bekommen, oder?




"Sie sind also der Neue. Warum haben Sie in der Scheune geschlafen?", fragte Lady Megan. Sie hatte es sich unten in den Gemäuern gemütlich gemacht und unterhielt sich mit Blair Sandburg. Sie war wohl die einzige, die die Geschichte jedes einzelnen dort unten kannte und wusste, warum sie sich dort befanden.
"Ich brauchte irgend einen Platz zum Schlafen. Sie kennen das Problem wohl kaum."
"Doch", entgegnete Megan zu Blairs Erstaunen. "Ich gehörte auch nicht immer zum Adel. Meine Familie waren Bauern. Sie hatten nicht genug Geld, um mich ernähren zu können. Deshalb hatte mein Onkel mich aufgenommen, der dabei war, ein Ritter zu werden. Aber reden Sie doch lieber über sich. Wo ist Ihre Familie?", fragte Lady Megan.
"Ich war seit meinem 14. Lebensjahr auf Reisen. Ich wollte nicht auch als Bauer leben und hatte so viele Ziele. Eines konnte ich mir erfüllen: Ich habe sehr viele entfernte Länder gesehen und Geschichten gehört. Doch irgendwann wollte ich zu meiner Familie zurück und erfuhr, dass sie alle gestorben waren."
"Das ist traurig. Es tut mir Leid", warf Megan ein.
"Das macht nichts. Ich hab’s schon überwunden. Seitdem kämpfe ich Tag für Tag um einen Schlafplatz und eine warme Mahlzeit."
Blair beendet seine Erzählung und blickte zu Megan. Sie schien irgendwie fasziniert von der Geschichte gewesen zu sein.

"Sie sollten sich nicht hier unten aufhalten, Lady Megan." Die Hofdame drehte sich um und erblickte James Ellison.
"Sir Ellison, wie schön zu Sie zu sehen."
"Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite", entgegnete James und näherte sich ihr.
"Ich habe die Aufgabe von Sir Taggart übernehmen. Sie werden mich nun öfters hier unten antreffen."
"Das ist schön, aber ich werde wohl besser gehen. Man sucht bestimmt schon nach mir. Ich hoffe, dass mein Geheimnis bei Ihnen sicher ist, James", meinte Megan. Bei dem Blick, den sie aufgesetzt hatte und der persönlichen Anrede, konnte man ihr einfach keinen Gefallen abschlagen.
"Aber natürlich, Lady." Megan bedankte sich mit einem kleinen Kuss auf die Wange und ging dann die Treppen hinauf. James strich sich mit seiner Hand über die Wange, wo sich gerade noch die Lippen der Lady befunden hatten.
"Das haben Sie mit Absicht gemacht", maulte Blair. "Warum haben Sie mir die angenehme Frauengesellschaft vergrault?"
"Sie sind im Gefängnis! Sie sollen es nicht angenehm haben!"
Blair stand von seiner Liege auf und ging zu den Gitterstäben. Da er nichts mehr von dem Ritter hörte, blickte er zu ihm. Sir James schien ihn nicht zu bemerken, obwohl er starr in seine Richtung blickte.
"Sir?", fragte Blair, doch statt einer Antwort hielt sich der Ritter die Ohren zu. Sandburg hatte sich wohl doch nicht geirrt, was seinen Gegenüber betraf.
"Mister?" Es kam wieder keine Antwort. Wie hatte ihn Sir Taggart genannt?
"James? Jim?"
"Wie kommen Sie dazu, meinen Vornamen zu benutzen", fragte James empört. Er schien wieder normal zu sein.
"Es tut mir Leid, aber Sie sahen so komisch aus."
"Ist das eine Entschuldigung?"
"Nein, aber ich würde Ihnen gerne helfen. Da Sie ja jetzt etwas länger hier unten..." Er wurde von James unterbrochen.
"Ich will Ihre Hilfe nicht."
"Aber wir könnten es versuchen. Ich bleibe auch in meiner Zelle und tu Ihnen nichts. Ich glaube einfach nur, dass ich weiß, was mit Ihnen los ist", erklärte Blair.
"Sagen Sie mir zuerst, was Sie vermuten", verlangte James.
Blair erzählte von einer Geschichte, die er in einem fernen Land mitbekommen hatte, von einer Existenz eines sogenannten "Sentinels". Der Ritter blickte skeptisch, hörte sich aber alles aufmerksam an, ohne Fragen zu stellen.
"Und wie kommen Sie darauf, dass ich etwas damit zu tun haben könnte?", fragte James nach Beendigung der Geschichte.
"Ich sah, wie sich Ihre Pupillen unnatürlich weiteten. Und Ihre ständige Abwesenheit..."
"Und Sie glauben, dass ich weiter entwickelte Sinne habe? Das ist doch Unsinn!"
"Nein, ich kann es Ihnen beweisen. Lassen Sie uns etwas ausprobieren."
"Und, wenn ich es nicht will?!", fragte James.
"Dann werden Sie nie erfahren, was mit Ihnen los ist." James wollte nichts mit diesem Blair zu tun haben, doch er sah ein, dass er nicht so unwissend weiterleben konnte. Vielleicht war dieser unscheinbare Junge der einzige, der ihm helfen konnte.




"Schließen Sie die Augen!", forderte Blair den Ritter auf. Er tat es. James hörte einen regelmäßig geklopften Takt. Er öffnete die Augen und blickte zu Blair, der mit seinen Händen am Bettgestell die Töne erzeugte.
"Muss das sein?", fragte James genervt. Er war nicht gerade begeistert von der Idee.
"Ja, bitte lassen Sie die Augen geschlossen."
Der Ritter folgte der Aufforderung und der Takt ertönte wieder. "Konzentrieren Sie sich auf die Töne." James versuchte es, doch er war einfach zu abgelenkt. Er dachte daran, wie er die Fähigkeiten nutzen könnte. Als er auf sehr viele Möglichkeiten kam, begann er sich richtig zu konzentrieren.
Nach einer Weile kam es ihm so vor, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. James hörte nur noch die regelmäßigen Töne. Die Geräusche, die die weiteren Gefangenen erzeugten, waren wie verschwunden. Ihm war als fiel er in eine Art Traum.
Er konnte seine Augen nicht mal öffnen, wenn er es gewollt hätte.
"Öffnen Sie Ihre Augen", ertönte plötzlich eine Stimme. James zögerte etwas, blickte dann aber zu dem Gefangenen. "Was war das?", fragte er noch etwas benommen.
"Das war nur eine Entspannungsübung. Jetzt blicken Sie durch meine Zelle und das Fenster hinaus. Dort drüben ist ein Wachturm, auf dem eine Wache steht. Versuchen Sie, ihn in Ihr Blickfeld zu bekommen."
James sah hinaus und erkannte den Mann. Er war mehrere hundert Meter entfernt, so dass er nicht ganz alles erkennen konnte. Er heftete seine Augen auf die Wache und konzentrierte sich völlig darauf, was er sah.
Plötzlich wurde das Bild zunächst unscharf, dann konnte er jedes Detail erkennen. Es war so, als ob er ein Fernglas benutzen würde.
"Ich...es... man sieht alles so nah", stammelte James. Er war überrascht, aber auch beeindruckt.
"Gut, sehen Sie zu mir." James blickte zu Blair. Dabei war der Übergang zum klaren Blick wieder durch Unschärfe gekennzeichnet. James wurde ein wenig schwindelig. "Was haben Sie?", fragte Blair. "Sie sind etwas blass."
"Es ist nichts", antwortete James.
"Wenn Sie meinen. Lassen Sie uns einen weiteren Versuch machen."
"Wozu?", fragte der Ritter.
"Ich will wissen, wie viele Ihrer Sinne geschärft sind."




James verbrachte noch eine ziemlich lange Zeit bei dem Gefangenen. Er hatte sogar die Ablösung darum gebeten, etwas später zu kommen.
Er war sehr erstaunt über seine -Gabe?-.
Sie hatten mehrere Versuche gemacht. James begann Dinge zu hören, die weit entfernt gesprochen wurden, Sachen zu ertasten, die er nicht sehen konnte, Gerüche wahrzunehmen, die aus der sehr weit entfernten Küche kamen und aus Lebensmitteln Dinge herauszuschmecken, die er vorher nicht einmal bemerkt hatte.

"Wie kann ich es besser unter Kontrolle bekommen?", fragte James, nachdem er einige Schwierigkeiten bemerkt hatte.
"Ich könnte Ihnen helfen", schlug Blair vor.
"Und was verlangen Sie dafür?", fragte der Ritter. Er wusste genau, dass ein Mensch nie etwas umsonst tun würde. Er erwartete eine Gegenleistung.
"Nun ja, ich könnte besser mit Ihnen arbeiten, wenn sich zwischen uns keine Gitterstäbe befinden. Außerdem wären täglich eine Mahlzeit und ein Schlafplatz nicht schlecht."
"Sie verlangen viel", meinte James.
"Ich kann auch viel für Sie tun."
James überlegte, ob er es riskieren sollte. "Ich werde darüber nachdenken", sagte er deshalb und wollte gerade gehen.
"Mir läge viel daran", sagte Blair. "Ich habe hunderter dokumentierter Fälle von einem oder zwei hyperaktiven Sinne, aber noch keinen mit allen fünf. Sie könnten der sein, den ich suche!"


to be continued...

© by Kendra 2000


Feedback an die Autorin

Zu Kendras Fanfiction-Seite